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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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"Amerika den Amerikanern!

zuwider zu handeln, wenn es sich als praktisch herausstellte. Man überging
sie einfach, wenn sie unzweckmäßig war, mochten die Voraussetzungen für ihre
Anwendung sonst auch noch so kraß gegeben sein. Daß die Monroedoktrin im
Falle des Venezuelastreites vergewaltigt wurde, ist schon erwähnt worden;
immerhin läßt sich noch geltend machen, daß den Vereinigten Staaten da"
mals gar nichts anderes übrig blieb, als den Schiedsgerichtsvorschlag Eng¬
lands anzunehmen, um aus ihrer bedrohlichen Lage herauszukommen. In diesem
Falle mußte sich eben wieder einmal das hohe Prinzip den Erwägungen des
praktischen Lebens beugen. Aber daß die Vereinigten Staaten das Anerbieten
Bolivars, die Monroedoktrin auf Südamerika auszudehnen, ablehnten, weil sie
sich von den theoretischen Verpflichtungen, die sie damit übernahmen, scheuten,
kann nicht entschuldigt werden. Ebenso versagten die Vereinigten Staaten, als
im Jahre 1835 Guatemala sie zu Hilfe gegen englische Übergriffe rief. Es war
der Schulfall für die Anwendung der alten oder neuen Monroedoktrin. Aber
der Präsident Jackson erklärte, sich nicht mit der Sache befassen zu wollen. Da
es gegen England ging, fand er nicht einmal den Mut zu einem kümmerlichen
Protest. Auch der ganze Clayton-Bulwer-Vertrag ist nichts anderes als eine
schreiende Verletzung der Monroedoktrin. Dadurch, daß die Vereinigten Staaten
mit England 1850 einen Vertrag abschlossen, der die Neutralität des
zwischen Atlantischen und Stillen Ozeans zu bauenden Kanals betraf, räumten
sie England ein Mitbestimmungsrecht über Dinge, die Amerika betrafen, ein.
Es war also ein klarer Verstoß gegen die Monroedoktrin. Es hat den Vereinigten
Staaten viel Mühe gekostet, fünfzig Jahre später durch den Hau - Pauncefote-
Vertrag von diesem Vertrage loszukommen. Wir sehen demnach, daß selbst ein so
geheiligtes Nationalprinzip, wie die Monroedoktrin, Ausnahmen erdulden kann,
und zwar dann, wenn es einem Stärkeren gegenüber zur Anwendung gebracht
werden soll, oder wenn man selbst auch Verpflichtungen dadurch eingehen soll.

Das Ergebnis der Untersuchungen über die Monroedoktrin ist also
folgendes:

Die Monroedoktrin ist ein für die Geschichte der zwanziger Jahre sehr
wichtiges politisches Dokument der Vereinigten Staaten. Es drückt den Willen
des amerikanischen Volkes aus, gleichberechtigt und unabhängig neben Europa
zu leben.

Die Monroedoktrin hat nur im Zusammenhang mit den damaligen geschicht¬
lichen Ereignissen Sinn und Bedeutung. Als Dogma betrachtet, aus dem
Zusammenhang gerissen, ist sie sinnlos.

Eine formell Staats- oder völkerrechtliche Bedeutung hat sie nicht; denn alle
Versuche, ihr eine solche zu geben, sind gescheitert.

Die von den modernen Amerikanern als Monroedoktrin verkündete Lehre
hat mit der alten nichts gemein. Es ist der von neueren amerikanischen Politikern
gefundene und beabsichtigte Willensausdruck des amerikanischen Volkes für seine
imperialistische Politik.


„Amerika den Amerikanern!

zuwider zu handeln, wenn es sich als praktisch herausstellte. Man überging
sie einfach, wenn sie unzweckmäßig war, mochten die Voraussetzungen für ihre
Anwendung sonst auch noch so kraß gegeben sein. Daß die Monroedoktrin im
Falle des Venezuelastreites vergewaltigt wurde, ist schon erwähnt worden;
immerhin läßt sich noch geltend machen, daß den Vereinigten Staaten da»
mals gar nichts anderes übrig blieb, als den Schiedsgerichtsvorschlag Eng¬
lands anzunehmen, um aus ihrer bedrohlichen Lage herauszukommen. In diesem
Falle mußte sich eben wieder einmal das hohe Prinzip den Erwägungen des
praktischen Lebens beugen. Aber daß die Vereinigten Staaten das Anerbieten
Bolivars, die Monroedoktrin auf Südamerika auszudehnen, ablehnten, weil sie
sich von den theoretischen Verpflichtungen, die sie damit übernahmen, scheuten,
kann nicht entschuldigt werden. Ebenso versagten die Vereinigten Staaten, als
im Jahre 1835 Guatemala sie zu Hilfe gegen englische Übergriffe rief. Es war
der Schulfall für die Anwendung der alten oder neuen Monroedoktrin. Aber
der Präsident Jackson erklärte, sich nicht mit der Sache befassen zu wollen. Da
es gegen England ging, fand er nicht einmal den Mut zu einem kümmerlichen
Protest. Auch der ganze Clayton-Bulwer-Vertrag ist nichts anderes als eine
schreiende Verletzung der Monroedoktrin. Dadurch, daß die Vereinigten Staaten
mit England 1850 einen Vertrag abschlossen, der die Neutralität des
zwischen Atlantischen und Stillen Ozeans zu bauenden Kanals betraf, räumten
sie England ein Mitbestimmungsrecht über Dinge, die Amerika betrafen, ein.
Es war also ein klarer Verstoß gegen die Monroedoktrin. Es hat den Vereinigten
Staaten viel Mühe gekostet, fünfzig Jahre später durch den Hau - Pauncefote-
Vertrag von diesem Vertrage loszukommen. Wir sehen demnach, daß selbst ein so
geheiligtes Nationalprinzip, wie die Monroedoktrin, Ausnahmen erdulden kann,
und zwar dann, wenn es einem Stärkeren gegenüber zur Anwendung gebracht
werden soll, oder wenn man selbst auch Verpflichtungen dadurch eingehen soll.

Das Ergebnis der Untersuchungen über die Monroedoktrin ist also
folgendes:

Die Monroedoktrin ist ein für die Geschichte der zwanziger Jahre sehr
wichtiges politisches Dokument der Vereinigten Staaten. Es drückt den Willen
des amerikanischen Volkes aus, gleichberechtigt und unabhängig neben Europa
zu leben.

Die Monroedoktrin hat nur im Zusammenhang mit den damaligen geschicht¬
lichen Ereignissen Sinn und Bedeutung. Als Dogma betrachtet, aus dem
Zusammenhang gerissen, ist sie sinnlos.

Eine formell Staats- oder völkerrechtliche Bedeutung hat sie nicht; denn alle
Versuche, ihr eine solche zu geben, sind gescheitert.

Die von den modernen Amerikanern als Monroedoktrin verkündete Lehre
hat mit der alten nichts gemein. Es ist der von neueren amerikanischen Politikern
gefundene und beabsichtigte Willensausdruck des amerikanischen Volkes für seine
imperialistische Politik.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/80>, abgerufen am 01.07.2024.