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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Aus der deutschen Bergarboiterbewcgung

Vielleicht raffen auch die Belgier sich noch einmal empor. Überall dieselbe Not, überall dieselbe
aus dieser Not geborene Entschlossenheit, und überall dieselbe abweisende Haltung der Gruben¬
magnaten, welche die Bergknappen zum letzten ungern getaner Schritt, zum Streik, zwingt.

Der englische Bergarbeiterstreik war am 1. März ausgebrochen. Vorher
hatten zahlreiche Besprechungen internationaler Art stattgefunden, wobei die
Frage des Sympathiestreiks lebhaft erörtert worden war. Auf einer dieser
Konferenzen, die am 22. Februar in London stattfand, und auf der die Berg¬
arbeiterverbände Englands. Belgiens, Frankreichs, Deutschlands und Österreichs
vertreten waren, rieten die Belgier und Deutschen von einem internationalen
Aufstand ab, weil die sozialistischen Parteien in Belgien und Deutschland ihre
verfügbaren Gelder für politische Zwecke brauchten. Aber man versprach, nach
Möglichkeit die festländische Kohleneinfuhr nach England zu verhindern mit
Hilfe von Überwachungskommissionen, die mit örtlichen Streiks gegen den
Kohlenexport nach England vorgehen sollten. Darüber hinaus ist von dem
Internationalen Komitee der Beschluß gefaßt worden, daß während des Streiks
in Großbritannien die Bergleute auf dem Kontinent die Förderung von Kohle
so viel wie möglich einschränken sollten. Das kommt doch in der Tat dem
internationalen Sympathiestreik sehr nahe.

Es hieß ferner in der Erklärung des Internationalen Komitees, daß, wenn
die Bergleute auf dem Kontinent gegenwärtig oder in Zukunft die Forderung
des Mindestlohnes stellen würden, dann auch die Bergleute von Großbritannien
die Kohlenförderung so viel wie möglich einschränken wollten. Die Bergleute
von Großbritannien sind zurzeit zuerst für die Forderung des Minimaltagelohnes
mit 900000 bis 1 Million Mann in den Streik eingetreten. Wie sich die
Dinge nun in England gestaltet haben, sollen Mindestlohnsätze für bestimmte
Distrikte, wo Bergbau betrieben wird, auf dem Wege der Tarifvereinbarungen
durch ein gemeinsames Komitee von Unternehmern und Arbeitern festgesetzt
werden. Das Komitee besteht aus Vertretern der Organisationen der Gruben¬
besitzer und der Arbeiter, was alsdann die Anerkennung der beiderseitigen
Organisationen voraussetzt. Können sich die Parteien in dem Komitee nicht
einigen über den Vorsitzenden, so stellt ihn die Regierung. Der Regierung
wird also in vielen Fällen die unparteiische Entscheidung zugemutet. Die Bill
ist angenommen, aber sie hat noch ein problematisches Aussehen. Die Berg¬
arbeiter Großbritanniens sind vom Syndikalismus beherrscht; sie wünschen wohl
die Vorteile des Lohnminimums, verwerfen aber jede Bindung ihrer Be¬
wegungsfreiheit, wie sie sich die australischen Arbeiter für ähnliche Zugeständnisse
gefallen lassen mußten, indem sie durch die Tarifabmachung gezwungen wurden,
auf das Streikrecht zu verzichten. Der Syndikalismus, dem die englischen Ge¬
werkschaften sich verschrieben haben, will aber gerade den Kampf um des Kampfes
willen und keine kleinen Etappen des Erfolges. Es soll auf die Art der Be¬
weis geführt werden, daß in der kapitalistischen Gesellschaft kein Friedenszustand
möglich ist, darum wird völlige Streikfreiheit und umfangreichste Streiktätigkeit


Aus der deutschen Bergarboiterbewcgung

Vielleicht raffen auch die Belgier sich noch einmal empor. Überall dieselbe Not, überall dieselbe
aus dieser Not geborene Entschlossenheit, und überall dieselbe abweisende Haltung der Gruben¬
magnaten, welche die Bergknappen zum letzten ungern getaner Schritt, zum Streik, zwingt.

Der englische Bergarbeiterstreik war am 1. März ausgebrochen. Vorher
hatten zahlreiche Besprechungen internationaler Art stattgefunden, wobei die
Frage des Sympathiestreiks lebhaft erörtert worden war. Auf einer dieser
Konferenzen, die am 22. Februar in London stattfand, und auf der die Berg¬
arbeiterverbände Englands. Belgiens, Frankreichs, Deutschlands und Österreichs
vertreten waren, rieten die Belgier und Deutschen von einem internationalen
Aufstand ab, weil die sozialistischen Parteien in Belgien und Deutschland ihre
verfügbaren Gelder für politische Zwecke brauchten. Aber man versprach, nach
Möglichkeit die festländische Kohleneinfuhr nach England zu verhindern mit
Hilfe von Überwachungskommissionen, die mit örtlichen Streiks gegen den
Kohlenexport nach England vorgehen sollten. Darüber hinaus ist von dem
Internationalen Komitee der Beschluß gefaßt worden, daß während des Streiks
in Großbritannien die Bergleute auf dem Kontinent die Förderung von Kohle
so viel wie möglich einschränken sollten. Das kommt doch in der Tat dem
internationalen Sympathiestreik sehr nahe.

Es hieß ferner in der Erklärung des Internationalen Komitees, daß, wenn
die Bergleute auf dem Kontinent gegenwärtig oder in Zukunft die Forderung
des Mindestlohnes stellen würden, dann auch die Bergleute von Großbritannien
die Kohlenförderung so viel wie möglich einschränken wollten. Die Bergleute
von Großbritannien sind zurzeit zuerst für die Forderung des Minimaltagelohnes
mit 900000 bis 1 Million Mann in den Streik eingetreten. Wie sich die
Dinge nun in England gestaltet haben, sollen Mindestlohnsätze für bestimmte
Distrikte, wo Bergbau betrieben wird, auf dem Wege der Tarifvereinbarungen
durch ein gemeinsames Komitee von Unternehmern und Arbeitern festgesetzt
werden. Das Komitee besteht aus Vertretern der Organisationen der Gruben¬
besitzer und der Arbeiter, was alsdann die Anerkennung der beiderseitigen
Organisationen voraussetzt. Können sich die Parteien in dem Komitee nicht
einigen über den Vorsitzenden, so stellt ihn die Regierung. Der Regierung
wird also in vielen Fällen die unparteiische Entscheidung zugemutet. Die Bill
ist angenommen, aber sie hat noch ein problematisches Aussehen. Die Berg¬
arbeiter Großbritanniens sind vom Syndikalismus beherrscht; sie wünschen wohl
die Vorteile des Lohnminimums, verwerfen aber jede Bindung ihrer Be¬
wegungsfreiheit, wie sie sich die australischen Arbeiter für ähnliche Zugeständnisse
gefallen lassen mußten, indem sie durch die Tarifabmachung gezwungen wurden,
auf das Streikrecht zu verzichten. Der Syndikalismus, dem die englischen Ge¬
werkschaften sich verschrieben haben, will aber gerade den Kampf um des Kampfes
willen und keine kleinen Etappen des Erfolges. Es soll auf die Art der Be¬
weis geführt werden, daß in der kapitalistischen Gesellschaft kein Friedenszustand
möglich ist, darum wird völlige Streikfreiheit und umfangreichste Streiktätigkeit


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/66>, abgerufen am 29.06.2024.