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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Ans der deutschen Bergarbcitcrbewcgnng

vorausgesetzt. England, das vielgepriesene Land der Herrschaft des friedlichen
Gewerkvereins, ist auf dem Wege des Syndikalismus in den letzten Jahren
von den erbittertsten Lohnkämpfen unterwühlt worden. In den letzten fünfzehn
Monaten gab es dort 1911: Kohlenstrcik in Südwales, Seemannsstreik, General¬
streik der Eisenbahner, Straßenbahnerstreik; 1912: Transportarbeiterstreik und
schließlich der gewaltige Bergarbciterstreik. Diese Kämpfe waren von Hangers¬
not und Revolten begleitet, derart, daß bei dem Dockarbeiterstreik in Liverpool
1911 zur Aufrechterhaltung der Ordnung eine Brigade Infanterie, zwei Regi¬
menter Kavallerie und vier Kriegsschiffe in Anspruch genommen werden mußten.
Der Schaden, der Großbritannien aus dem schwebenden Kohlenarbeiterausstande
erwachsen soll, wird auf vier bis fünf Milliarden Mark geschätzt.

Der Syndikalismus soll die Wirtschaftsordnung des freien Urd.:itsvertrages
zum sozialistischen Staate führen, aber auch die Mindestlohugesetzgelnmg liegt
durchaus auf diesem Wege. Das Mindestlohneinkommen verliert, sobald der
Geldwert sinkt und die Lebensmittelpreiie steigen, an Wert für den Arbeiter;
es muß also ständig kontrolliert und reguliert werden durch Lohnausschüsse und
Schiedsgerichte, die der Staat ins Leben ruft und leitet. Ferner muß der
Staat folgerichtig eingreifen, wenn die Bergarbeiter zu dem vereinbarten Mindest-
loh.nsatz nicht arbeiten wollen, also das Gesetz verletzen, oder aber, wenn die
Grubenbesitzer den Betrieb einstellen, weil ihn die staatliche Lohnregulierung
unrentabel gemacht hat. In einem Fall muß der Staat deu Arbeiter zur
Arbeit anhalten oder deu Arbeitswilligen schützen, im andern Falle muß er
zur Enteignung des Grubenbesitzers schreiten und den Betrieb selbst übernehmen.
Man kann nicht einwenden, daß die Löhne in der Regel die Mindestsätze über¬
schreiten würden, daß also die Folgeerscheinungen nicht zu befürchten seien.
Nach den Erfahrungen in Australien herrscht bei den unqualifizierten und trägen
Arbeitern die Neigung vor, dem Mindestlohn die Mindestleistung entsprechen zu
lassen. Es müssen daher fortdauernd Verfügungen erlassen werden, um dieser
Entwicklung zu begegnen. Also so viel Staatsintervention, daß der sozialistische
Staat als die natürliche Konsequenz erscheint.

Es ist richtig, daß der Syndikalismus der Anarcho-Sozialisten bei uns
noch nicht über sehr starke Anhängerschaft verfügt; aber wir haben andere
Triebkräfte, die ebenfalls das gewerbliche Leben dem sozialistischen Staat zu¬
treiben sollen. Es sind das das parlamentarische System in den Betrieben,
die konstitutionelle Fabrik, wobei nach und nach der Unternehmer und Betriebs¬
leiter seiner freien Dispositionsfähigkeit beraubt, der freie Arbeitsvertrag be¬
seitigt und die Herrschaft der organisierten Masse aufgerichtet werden soll. Das
darf bei all dein Drängen nach Instanzen zum Verhandeln von Partei zu Partei
nicht aus den Augen gelassen werden und erklärt jedenfalls die Abneigung der
Unternehmer, mit den Gewerkschaften über Lohn- und Arbeitsverhälthisse zu
unterhandeln. Aber auch praktische Bedenken liegen vor. Was haben tarif¬
mäßige Bindungen für einen Wert, wenn, wie im Ruhrrevier, nur ein Drittel


Ans der deutschen Bergarbcitcrbewcgnng

vorausgesetzt. England, das vielgepriesene Land der Herrschaft des friedlichen
Gewerkvereins, ist auf dem Wege des Syndikalismus in den letzten Jahren
von den erbittertsten Lohnkämpfen unterwühlt worden. In den letzten fünfzehn
Monaten gab es dort 1911: Kohlenstrcik in Südwales, Seemannsstreik, General¬
streik der Eisenbahner, Straßenbahnerstreik; 1912: Transportarbeiterstreik und
schließlich der gewaltige Bergarbciterstreik. Diese Kämpfe waren von Hangers¬
not und Revolten begleitet, derart, daß bei dem Dockarbeiterstreik in Liverpool
1911 zur Aufrechterhaltung der Ordnung eine Brigade Infanterie, zwei Regi¬
menter Kavallerie und vier Kriegsschiffe in Anspruch genommen werden mußten.
Der Schaden, der Großbritannien aus dem schwebenden Kohlenarbeiterausstande
erwachsen soll, wird auf vier bis fünf Milliarden Mark geschätzt.

Der Syndikalismus soll die Wirtschaftsordnung des freien Urd.:itsvertrages
zum sozialistischen Staate führen, aber auch die Mindestlohugesetzgelnmg liegt
durchaus auf diesem Wege. Das Mindestlohneinkommen verliert, sobald der
Geldwert sinkt und die Lebensmittelpreiie steigen, an Wert für den Arbeiter;
es muß also ständig kontrolliert und reguliert werden durch Lohnausschüsse und
Schiedsgerichte, die der Staat ins Leben ruft und leitet. Ferner muß der
Staat folgerichtig eingreifen, wenn die Bergarbeiter zu dem vereinbarten Mindest-
loh.nsatz nicht arbeiten wollen, also das Gesetz verletzen, oder aber, wenn die
Grubenbesitzer den Betrieb einstellen, weil ihn die staatliche Lohnregulierung
unrentabel gemacht hat. In einem Fall muß der Staat deu Arbeiter zur
Arbeit anhalten oder deu Arbeitswilligen schützen, im andern Falle muß er
zur Enteignung des Grubenbesitzers schreiten und den Betrieb selbst übernehmen.
Man kann nicht einwenden, daß die Löhne in der Regel die Mindestsätze über¬
schreiten würden, daß also die Folgeerscheinungen nicht zu befürchten seien.
Nach den Erfahrungen in Australien herrscht bei den unqualifizierten und trägen
Arbeitern die Neigung vor, dem Mindestlohn die Mindestleistung entsprechen zu
lassen. Es müssen daher fortdauernd Verfügungen erlassen werden, um dieser
Entwicklung zu begegnen. Also so viel Staatsintervention, daß der sozialistische
Staat als die natürliche Konsequenz erscheint.

Es ist richtig, daß der Syndikalismus der Anarcho-Sozialisten bei uns
noch nicht über sehr starke Anhängerschaft verfügt; aber wir haben andere
Triebkräfte, die ebenfalls das gewerbliche Leben dem sozialistischen Staat zu¬
treiben sollen. Es sind das das parlamentarische System in den Betrieben,
die konstitutionelle Fabrik, wobei nach und nach der Unternehmer und Betriebs¬
leiter seiner freien Dispositionsfähigkeit beraubt, der freie Arbeitsvertrag be¬
seitigt und die Herrschaft der organisierten Masse aufgerichtet werden soll. Das
darf bei all dein Drängen nach Instanzen zum Verhandeln von Partei zu Partei
nicht aus den Augen gelassen werden und erklärt jedenfalls die Abneigung der
Unternehmer, mit den Gewerkschaften über Lohn- und Arbeitsverhälthisse zu
unterhandeln. Aber auch praktische Bedenken liegen vor. Was haben tarif¬
mäßige Bindungen für einen Wert, wenn, wie im Ruhrrevier, nur ein Drittel


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/67>, abgerufen am 26.06.2024.