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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Geschichtliche Bemerkungen zur chinesischen Revolution

Chinas sind stets sehr stark gewesen; nur wenigen ganz großen Herrschern ist
es zeitweise gelungen, diese Massen zusammenzuhalten. Ferner ist sicher, daß
China mit einer Verfassung, wie sie jetzt verkündet wird, nicht zu regieren ist.
Die große Masse des Volkes weiß von Verfassungsfragen garnichts und will
auch nichts weiter, als in geordneten Verhältnissen ihrem Erwerb nachgehen.
Die Erfahrungen in den chinesischen Provinzialtagen haben gezeigt, daß die
Chinesen noch Jahrzehnte der politischen Arbeit bedürfen, ehe sie politische
Aufgaben wirklich erfassen und ihre persönlichen Interessen unterordnen können.

Wenn aber die Dynastie wirklich völlig schwindet, dann tritt erst die
kritische Lage ein. Die revolutionäre Bewegung ist in ihren Zielen zu wenig
einheitlich. Schon jetzt treten die Gegensätze hervor. Ist der gemeinsame Feind,
die Dynastie, beseitigt, dann wird jede Richtung ihr besonderes Ziel verfolgen,
dann droht ein Kampf, bis schließlich der Stärkste Sieger bleibt. Welche Macht
die Republik China zusammenhalten, die Gegensätze der Interessen überwinden
soll, das ist nicht abzusehen. Der Kampf der Provinzen untereinander, der
China schon oft erschüttert hat, droht bereits heute.

Aber der Ausgang kann auch ganz anders sein. Schließt sich der Süden
zu einer Republik zusammen, so könnte sich der politisch besser organisierte
Norden zu einem monarchischen Staate zusammenfinden, der die revolutionäre
Bewegung im Süden sich selbst erschöpfen lassen kann. Die ganze Frage ist
an ein Unberechenbares, an das Hervortreten einer Persönlichkeit geknüpft, die
in den Ereignissen die Führung übernehmen kann. So jämmerlich sich der
einst stolze Kriegeradel der Mandschu und vor allem die Dynastie selbst benommen
hat, an der Festigkeit und Ruhe des Nordens kann sich der Staat wieder
aufrichten. Ob der kühne, eminent kluge und rücksichtslose Realist der Politik
Juan-fehl-kai diese Aufgabe löst, wissen wir heute noch nicht, die Fähigkeit
dazu hätte er.

Eine dauernde Republik China aber halte ich für eine Unmöglichkeit. Wie
ich ausgeführt habe, ist das chinesische Reich ein Universalstaat von religiösem
Charakter. Den Staat vertritt der Kaiser vor allem auch als Priester. Ohne
den Kaiser ist der ganze religiöse Grundcharakter des Staates undenkbar. Die
Republik würde nur dann möglich sein, wenn sich alle grundlegenden An¬
schauungen der Chinesen, vor allem das System des religiösen Denkens, völlig
ändern würden. Daß sich durch Jahrtausende gefestigte Überzeugungen so rasch
und tief wandeln sollten, ist aber für ein Millionenvolk unmöglich. Vielleicht
ist das Ende eine neue Dynastie in China; denn an dem Ende der Mandschu,
die offiziell die Abdankung, den Verzicht auf den Thron, ausgesprochen haben,
ist kaun, zu zweifeln. Die Möglichkeiten der künftigen politischen Gestaltung
Chinas sind so vielfältig und liegen noch so völlig im Dunkel, daß auch hier
Prophezeien ein gewagtes Unternehmen wäre. So viel scheint heute sicher zu
sein: nicht der Radikalismus des Südens, sondern die konservativen Kräfte
des Nordens werden die Zukunft Chinas bestimmen. Von geschichtslosen


Geschichtliche Bemerkungen zur chinesischen Revolution

Chinas sind stets sehr stark gewesen; nur wenigen ganz großen Herrschern ist
es zeitweise gelungen, diese Massen zusammenzuhalten. Ferner ist sicher, daß
China mit einer Verfassung, wie sie jetzt verkündet wird, nicht zu regieren ist.
Die große Masse des Volkes weiß von Verfassungsfragen garnichts und will
auch nichts weiter, als in geordneten Verhältnissen ihrem Erwerb nachgehen.
Die Erfahrungen in den chinesischen Provinzialtagen haben gezeigt, daß die
Chinesen noch Jahrzehnte der politischen Arbeit bedürfen, ehe sie politische
Aufgaben wirklich erfassen und ihre persönlichen Interessen unterordnen können.

Wenn aber die Dynastie wirklich völlig schwindet, dann tritt erst die
kritische Lage ein. Die revolutionäre Bewegung ist in ihren Zielen zu wenig
einheitlich. Schon jetzt treten die Gegensätze hervor. Ist der gemeinsame Feind,
die Dynastie, beseitigt, dann wird jede Richtung ihr besonderes Ziel verfolgen,
dann droht ein Kampf, bis schließlich der Stärkste Sieger bleibt. Welche Macht
die Republik China zusammenhalten, die Gegensätze der Interessen überwinden
soll, das ist nicht abzusehen. Der Kampf der Provinzen untereinander, der
China schon oft erschüttert hat, droht bereits heute.

Aber der Ausgang kann auch ganz anders sein. Schließt sich der Süden
zu einer Republik zusammen, so könnte sich der politisch besser organisierte
Norden zu einem monarchischen Staate zusammenfinden, der die revolutionäre
Bewegung im Süden sich selbst erschöpfen lassen kann. Die ganze Frage ist
an ein Unberechenbares, an das Hervortreten einer Persönlichkeit geknüpft, die
in den Ereignissen die Führung übernehmen kann. So jämmerlich sich der
einst stolze Kriegeradel der Mandschu und vor allem die Dynastie selbst benommen
hat, an der Festigkeit und Ruhe des Nordens kann sich der Staat wieder
aufrichten. Ob der kühne, eminent kluge und rücksichtslose Realist der Politik
Juan-fehl-kai diese Aufgabe löst, wissen wir heute noch nicht, die Fähigkeit
dazu hätte er.

Eine dauernde Republik China aber halte ich für eine Unmöglichkeit. Wie
ich ausgeführt habe, ist das chinesische Reich ein Universalstaat von religiösem
Charakter. Den Staat vertritt der Kaiser vor allem auch als Priester. Ohne
den Kaiser ist der ganze religiöse Grundcharakter des Staates undenkbar. Die
Republik würde nur dann möglich sein, wenn sich alle grundlegenden An¬
schauungen der Chinesen, vor allem das System des religiösen Denkens, völlig
ändern würden. Daß sich durch Jahrtausende gefestigte Überzeugungen so rasch
und tief wandeln sollten, ist aber für ein Millionenvolk unmöglich. Vielleicht
ist das Ende eine neue Dynastie in China; denn an dem Ende der Mandschu,
die offiziell die Abdankung, den Verzicht auf den Thron, ausgesprochen haben,
ist kaun, zu zweifeln. Die Möglichkeiten der künftigen politischen Gestaltung
Chinas sind so vielfältig und liegen noch so völlig im Dunkel, daß auch hier
Prophezeien ein gewagtes Unternehmen wäre. So viel scheint heute sicher zu
sein: nicht der Radikalismus des Südens, sondern die konservativen Kräfte
des Nordens werden die Zukunft Chinas bestimmen. Von geschichtslosen


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[0639] Geschichtliche Bemerkungen zur chinesischen Revolution Chinas sind stets sehr stark gewesen; nur wenigen ganz großen Herrschern ist es zeitweise gelungen, diese Massen zusammenzuhalten. Ferner ist sicher, daß China mit einer Verfassung, wie sie jetzt verkündet wird, nicht zu regieren ist. Die große Masse des Volkes weiß von Verfassungsfragen garnichts und will auch nichts weiter, als in geordneten Verhältnissen ihrem Erwerb nachgehen. Die Erfahrungen in den chinesischen Provinzialtagen haben gezeigt, daß die Chinesen noch Jahrzehnte der politischen Arbeit bedürfen, ehe sie politische Aufgaben wirklich erfassen und ihre persönlichen Interessen unterordnen können. Wenn aber die Dynastie wirklich völlig schwindet, dann tritt erst die kritische Lage ein. Die revolutionäre Bewegung ist in ihren Zielen zu wenig einheitlich. Schon jetzt treten die Gegensätze hervor. Ist der gemeinsame Feind, die Dynastie, beseitigt, dann wird jede Richtung ihr besonderes Ziel verfolgen, dann droht ein Kampf, bis schließlich der Stärkste Sieger bleibt. Welche Macht die Republik China zusammenhalten, die Gegensätze der Interessen überwinden soll, das ist nicht abzusehen. Der Kampf der Provinzen untereinander, der China schon oft erschüttert hat, droht bereits heute. Aber der Ausgang kann auch ganz anders sein. Schließt sich der Süden zu einer Republik zusammen, so könnte sich der politisch besser organisierte Norden zu einem monarchischen Staate zusammenfinden, der die revolutionäre Bewegung im Süden sich selbst erschöpfen lassen kann. Die ganze Frage ist an ein Unberechenbares, an das Hervortreten einer Persönlichkeit geknüpft, die in den Ereignissen die Führung übernehmen kann. So jämmerlich sich der einst stolze Kriegeradel der Mandschu und vor allem die Dynastie selbst benommen hat, an der Festigkeit und Ruhe des Nordens kann sich der Staat wieder aufrichten. Ob der kühne, eminent kluge und rücksichtslose Realist der Politik Juan-fehl-kai diese Aufgabe löst, wissen wir heute noch nicht, die Fähigkeit dazu hätte er. Eine dauernde Republik China aber halte ich für eine Unmöglichkeit. Wie ich ausgeführt habe, ist das chinesische Reich ein Universalstaat von religiösem Charakter. Den Staat vertritt der Kaiser vor allem auch als Priester. Ohne den Kaiser ist der ganze religiöse Grundcharakter des Staates undenkbar. Die Republik würde nur dann möglich sein, wenn sich alle grundlegenden An¬ schauungen der Chinesen, vor allem das System des religiösen Denkens, völlig ändern würden. Daß sich durch Jahrtausende gefestigte Überzeugungen so rasch und tief wandeln sollten, ist aber für ein Millionenvolk unmöglich. Vielleicht ist das Ende eine neue Dynastie in China; denn an dem Ende der Mandschu, die offiziell die Abdankung, den Verzicht auf den Thron, ausgesprochen haben, ist kaun, zu zweifeln. Die Möglichkeiten der künftigen politischen Gestaltung Chinas sind so vielfältig und liegen noch so völlig im Dunkel, daß auch hier Prophezeien ein gewagtes Unternehmen wäre. So viel scheint heute sicher zu sein: nicht der Radikalismus des Südens, sondern die konservativen Kräfte des Nordens werden die Zukunft Chinas bestimmen. Von geschichtslosen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/639>, abgerufen am 22.07.2024.