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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Zusammenhänge zwischen Österreich und Deutschland

Die Jurisprudenz und Sozialpolitik haben im letzten halben Jahrhundert
auf deutschem Boden vielfache epochale Leistungen aufzuweisen. Die neuzeit¬
lichen Gesetze zum Schutze des geistigen Eigentums an literarischen und kunst>
lerischen Produkten und auf industriellem Gebiete, der Zivilprozeß, die staatliche
Kranken- und Unfallversicherung, der sich in letzter Zeit die Alters- und Jnva-
liditätsvcrsicherung beigesellten, also das Gesamtgebiet der Sozialversicherung,
die Gesetze und Verwaltungsmaßregeln in der Richtung der Jugendfürsorge,
die Gesetzgebung in Beziehung auf das Genossenschaftswesen usw. sind Errungen¬
schaften Deutschlands, denen verwandte Schöpfungen in Österreich und der
Schweiz nachfolgten und nachfolgen werden.

Bis nun habe ich nachzuweisen versucht, daß der geistige Verkehr zwischen
allen Teilen des deutschen Volkstums ein lebhafter und die Beziehungen innig
sind. Aber auch der materielle Verkehr gleicht dieser Vorstellung. Kaiser
Maximilian war um die Wende des fünfzehnten Jahrhunderts der erste Be¬
gründer der Post; dann folgten in ununterbrochener Reihe weitere Organisatoren
vom Fürsten Taxis bis zum preußischen Postdirekror Stephan, dem Begründer
des Weltpostvereins, der auch gleichzeitig mit einem Österreicher die Post-
korrespondenzkarte ersann. Der deutsch-österreichische Eisenbahnverband, die
deutschen Wasserstraßenunionen und der deutsch-österreichische Telegraphenverband
sind Grundlagen und Hauptelemente des internationalen Verkehrswesens geworden.
Die staatlichen Grenzen bilden auch für den materiellen Verkehr, das ist der
Menschen und Güter, keine wesentlichen Hindernisse mehr. Nur in einer
Richtung sind die staatlichen Grenzen empfindlich fühlbar und je nach den:
Standpunkte, den der Wirtschaftspolitiker einnimmt, in hohem Grade nützlich
oder schädlich. Ein Redner von hervorragender Stellung, Handelskammer-
Präsident Pschorr, hat heute schon von der deutsch-österreichischen Zollunion,
das heißt einem gemeinsamen deutsch-österreichischen Zollgebiete gesprochen und
ich kann ihm versichern, daß es auch in Österreich viele Anhänger dieses Ideales
gibt und daß es auch, abgesehen von den Freihändlern und reinen Theoretikern,
nicht wenige in der Praxis stehende Wirtschaftspolitiker sind, die den hoch auf¬
gerichteten Zollschranken schon angesichts des Teuerungsproblems widerstreben,
deren Erniedrigung fordern und deren völliges Verschwinden an der deutsch¬
österreichischen Grenze für möglich und erstrebenswert halten.

Die mitteleuropäischen Wirtschastsvereine in Deutschland, Österreich und
Ungarn suchen Vereinheitlichungen und Erleichterungen im Geldverkehr und
Zollverfahren. Sie und wir alle stehen ja noch unter dem Diktat des sogenannten
Ausgleichs der Produktionsbedingungen und der heute herrschenden Vertrags¬
politik. Die vielen Anhänger eines gemeinsamen deutschen und österreichischen
Zollgebiets wagen sich noch nicht hervor, aber sie werden der industriell-agrarischen
Hochschutzzollbewegung entgegenarbeiten, zur Mäßigung mahnen und diese in
vielen Fällen erzwingen. Die hochqualifizierte Ware bedarf eines geringeren
Schutzzolles und darum wollen wir uns an der Bayerischen Gewerbeschau


Zusammenhänge zwischen Österreich und Deutschland

Die Jurisprudenz und Sozialpolitik haben im letzten halben Jahrhundert
auf deutschem Boden vielfache epochale Leistungen aufzuweisen. Die neuzeit¬
lichen Gesetze zum Schutze des geistigen Eigentums an literarischen und kunst>
lerischen Produkten und auf industriellem Gebiete, der Zivilprozeß, die staatliche
Kranken- und Unfallversicherung, der sich in letzter Zeit die Alters- und Jnva-
liditätsvcrsicherung beigesellten, also das Gesamtgebiet der Sozialversicherung,
die Gesetze und Verwaltungsmaßregeln in der Richtung der Jugendfürsorge,
die Gesetzgebung in Beziehung auf das Genossenschaftswesen usw. sind Errungen¬
schaften Deutschlands, denen verwandte Schöpfungen in Österreich und der
Schweiz nachfolgten und nachfolgen werden.

Bis nun habe ich nachzuweisen versucht, daß der geistige Verkehr zwischen
allen Teilen des deutschen Volkstums ein lebhafter und die Beziehungen innig
sind. Aber auch der materielle Verkehr gleicht dieser Vorstellung. Kaiser
Maximilian war um die Wende des fünfzehnten Jahrhunderts der erste Be¬
gründer der Post; dann folgten in ununterbrochener Reihe weitere Organisatoren
vom Fürsten Taxis bis zum preußischen Postdirekror Stephan, dem Begründer
des Weltpostvereins, der auch gleichzeitig mit einem Österreicher die Post-
korrespondenzkarte ersann. Der deutsch-österreichische Eisenbahnverband, die
deutschen Wasserstraßenunionen und der deutsch-österreichische Telegraphenverband
sind Grundlagen und Hauptelemente des internationalen Verkehrswesens geworden.
Die staatlichen Grenzen bilden auch für den materiellen Verkehr, das ist der
Menschen und Güter, keine wesentlichen Hindernisse mehr. Nur in einer
Richtung sind die staatlichen Grenzen empfindlich fühlbar und je nach den:
Standpunkte, den der Wirtschaftspolitiker einnimmt, in hohem Grade nützlich
oder schädlich. Ein Redner von hervorragender Stellung, Handelskammer-
Präsident Pschorr, hat heute schon von der deutsch-österreichischen Zollunion,
das heißt einem gemeinsamen deutsch-österreichischen Zollgebiete gesprochen und
ich kann ihm versichern, daß es auch in Österreich viele Anhänger dieses Ideales
gibt und daß es auch, abgesehen von den Freihändlern und reinen Theoretikern,
nicht wenige in der Praxis stehende Wirtschaftspolitiker sind, die den hoch auf¬
gerichteten Zollschranken schon angesichts des Teuerungsproblems widerstreben,
deren Erniedrigung fordern und deren völliges Verschwinden an der deutsch¬
österreichischen Grenze für möglich und erstrebenswert halten.

Die mitteleuropäischen Wirtschastsvereine in Deutschland, Österreich und
Ungarn suchen Vereinheitlichungen und Erleichterungen im Geldverkehr und
Zollverfahren. Sie und wir alle stehen ja noch unter dem Diktat des sogenannten
Ausgleichs der Produktionsbedingungen und der heute herrschenden Vertrags¬
politik. Die vielen Anhänger eines gemeinsamen deutschen und österreichischen
Zollgebiets wagen sich noch nicht hervor, aber sie werden der industriell-agrarischen
Hochschutzzollbewegung entgegenarbeiten, zur Mäßigung mahnen und diese in
vielen Fällen erzwingen. Die hochqualifizierte Ware bedarf eines geringeren
Schutzzolles und darum wollen wir uns an der Bayerischen Gewerbeschau


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[0630] Zusammenhänge zwischen Österreich und Deutschland Die Jurisprudenz und Sozialpolitik haben im letzten halben Jahrhundert auf deutschem Boden vielfache epochale Leistungen aufzuweisen. Die neuzeit¬ lichen Gesetze zum Schutze des geistigen Eigentums an literarischen und kunst> lerischen Produkten und auf industriellem Gebiete, der Zivilprozeß, die staatliche Kranken- und Unfallversicherung, der sich in letzter Zeit die Alters- und Jnva- liditätsvcrsicherung beigesellten, also das Gesamtgebiet der Sozialversicherung, die Gesetze und Verwaltungsmaßregeln in der Richtung der Jugendfürsorge, die Gesetzgebung in Beziehung auf das Genossenschaftswesen usw. sind Errungen¬ schaften Deutschlands, denen verwandte Schöpfungen in Österreich und der Schweiz nachfolgten und nachfolgen werden. Bis nun habe ich nachzuweisen versucht, daß der geistige Verkehr zwischen allen Teilen des deutschen Volkstums ein lebhafter und die Beziehungen innig sind. Aber auch der materielle Verkehr gleicht dieser Vorstellung. Kaiser Maximilian war um die Wende des fünfzehnten Jahrhunderts der erste Be¬ gründer der Post; dann folgten in ununterbrochener Reihe weitere Organisatoren vom Fürsten Taxis bis zum preußischen Postdirekror Stephan, dem Begründer des Weltpostvereins, der auch gleichzeitig mit einem Österreicher die Post- korrespondenzkarte ersann. Der deutsch-österreichische Eisenbahnverband, die deutschen Wasserstraßenunionen und der deutsch-österreichische Telegraphenverband sind Grundlagen und Hauptelemente des internationalen Verkehrswesens geworden. Die staatlichen Grenzen bilden auch für den materiellen Verkehr, das ist der Menschen und Güter, keine wesentlichen Hindernisse mehr. Nur in einer Richtung sind die staatlichen Grenzen empfindlich fühlbar und je nach den: Standpunkte, den der Wirtschaftspolitiker einnimmt, in hohem Grade nützlich oder schädlich. Ein Redner von hervorragender Stellung, Handelskammer- Präsident Pschorr, hat heute schon von der deutsch-österreichischen Zollunion, das heißt einem gemeinsamen deutsch-österreichischen Zollgebiete gesprochen und ich kann ihm versichern, daß es auch in Österreich viele Anhänger dieses Ideales gibt und daß es auch, abgesehen von den Freihändlern und reinen Theoretikern, nicht wenige in der Praxis stehende Wirtschaftspolitiker sind, die den hoch auf¬ gerichteten Zollschranken schon angesichts des Teuerungsproblems widerstreben, deren Erniedrigung fordern und deren völliges Verschwinden an der deutsch¬ österreichischen Grenze für möglich und erstrebenswert halten. Die mitteleuropäischen Wirtschastsvereine in Deutschland, Österreich und Ungarn suchen Vereinheitlichungen und Erleichterungen im Geldverkehr und Zollverfahren. Sie und wir alle stehen ja noch unter dem Diktat des sogenannten Ausgleichs der Produktionsbedingungen und der heute herrschenden Vertrags¬ politik. Die vielen Anhänger eines gemeinsamen deutschen und österreichischen Zollgebiets wagen sich noch nicht hervor, aber sie werden der industriell-agrarischen Hochschutzzollbewegung entgegenarbeiten, zur Mäßigung mahnen und diese in vielen Fällen erzwingen. Die hochqualifizierte Ware bedarf eines geringeren Schutzzolles und darum wollen wir uns an der Bayerischen Gewerbeschau

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/630>, abgerufen am 03.07.2024.