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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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I, I, Rousseau als Lrzichcr

Wenn Rousseau mit dem Hinweise auf diese Entartung sein Buch beginnt,
so beweist das nur, wie tief der Kulturpessimismus in ihm wurzelte, der ja
erfahrungsgemäß zumeist mit einem einseitigen Naturoptimismus verbunden
austritt. Aber auch in der ganzen Fassung, in der fast naturwissenschaftlich¬
exakten Formulierung der physischen Erziehung, die im Grunde das Gefühlsleben
als Erziehungsfaktor ganz ausschaltet, liegt eine gewisse Trostlosigkeit. Wie
völlig anders faßt den Begriff der Erziehung der Mann, der zwei Jahrzehnte
später seine ersten Grundsätze niederschrieb: Pestalozzi, der, weil er das Ver¬
hältnis zwischen Gott und den Menschen einzig auf Liebe gegründet sah, auch
in der Liebe das Grundprinzip aller Erziehung erkannte! Hier in der ersten
Grundlegung aller Erziehung scheiden sich Rousseau und Pestalozzi.

Handelt es sich in der ersten Lebenzeit allein um die Erziehung durch die
Dinge, so wird etwa vom zwölften Jahre ab auch die Erziehung durch die Menschen
einzusetzen haben. Der Zustand des Zöglings ist bis zu diesem Zeitpunkte der
eines vollkommen natürlichen Jungen: "Er spricht nur eine Sprache, aber er
versteht, was er sagt, und wenn er nicht so gut spricht, wie andere, so ist er
ihnen doch im Handeln entschieden überlegen." "Er folgt nie einer Formel,
sügt sich weder der Autorität noch dem Beispiel; er handelt und spricht immer
nur, wie es ihm passend erscheint." "Nicht unbekannt mit einigen wenigen
moralischen Begriffen, die sich auf seinen gegenwärtigen Zustand beziehen, sind
ihm dagegen die durchaus fremd, welche den gesellschaftlichen Beziehungen der
Menschen zugrunde liegen." Aber es kommt nun doch die Zeit, wo der junge
Mensch heraustritt aus seinem isolierten Zustande und ein Verhältnis zur
Gesellschaft gewinnen muß. Die erste Forderung, die ihm hier entgegentritt,
ist die Anerkennung des fremden Eigentums. Wahrscheinlich wird er zunächst,
da er bisher eine Beschränkung des eigenen Ichs nur in den Grenzen der Natur
kennen gelernt hat, in Kollision geraten mit den Interessen der anderen Menschen.
Aber bald erweitert sich ihm der Begriff der natürlichen Grenzen, die hier noch
die natürlichen Rechte des anderen Ichs in sich einschließen. Und es erwächst
ihm dann auch die Erkenntnis der Notwendigkeit der Gesellschaft wegen der mit
ihr verbundenen Arbeitsteilung. Damit geht ihm auch die erste Ahnung der
Rechtsbegriffe auf, denen die Gesellschaft und er selbst unterworfen ist. Das ist
auch die Zeit, da er sich in einem vom Erzieher unbemerkt geleiteten Unterricht,
der einzig die im Menschen liegenden Kräfte und Anlagen zu spontaner Lebens¬
äußerung zu bringen hat, die wichtigsten Kenntnisse aneignen wird. Immer wird
der Zögling dabei die Frage zu beantworten wissen: wozu nützt das?, die
Rousseau für diese Stufe geradezu als die oberste Erziehungs- und Unterrichts¬
maxime gilt.

Auf der vorigen Stufe mußte sich das Wollen innerhalb der natürlichen Not¬
wendigkeit bewegen, hier geschieht es innerhalb der Grenzen des sozial Nützlichen,
nun aber kommt die Zeit, da es sich richten soll nach den Gesetzen dessen, was
schicklich und gut ist, nach den Gesetzen der Tugend. Tugend beruht nach


I, I, Rousseau als Lrzichcr

Wenn Rousseau mit dem Hinweise auf diese Entartung sein Buch beginnt,
so beweist das nur, wie tief der Kulturpessimismus in ihm wurzelte, der ja
erfahrungsgemäß zumeist mit einem einseitigen Naturoptimismus verbunden
austritt. Aber auch in der ganzen Fassung, in der fast naturwissenschaftlich¬
exakten Formulierung der physischen Erziehung, die im Grunde das Gefühlsleben
als Erziehungsfaktor ganz ausschaltet, liegt eine gewisse Trostlosigkeit. Wie
völlig anders faßt den Begriff der Erziehung der Mann, der zwei Jahrzehnte
später seine ersten Grundsätze niederschrieb: Pestalozzi, der, weil er das Ver¬
hältnis zwischen Gott und den Menschen einzig auf Liebe gegründet sah, auch
in der Liebe das Grundprinzip aller Erziehung erkannte! Hier in der ersten
Grundlegung aller Erziehung scheiden sich Rousseau und Pestalozzi.

Handelt es sich in der ersten Lebenzeit allein um die Erziehung durch die
Dinge, so wird etwa vom zwölften Jahre ab auch die Erziehung durch die Menschen
einzusetzen haben. Der Zustand des Zöglings ist bis zu diesem Zeitpunkte der
eines vollkommen natürlichen Jungen: „Er spricht nur eine Sprache, aber er
versteht, was er sagt, und wenn er nicht so gut spricht, wie andere, so ist er
ihnen doch im Handeln entschieden überlegen." „Er folgt nie einer Formel,
sügt sich weder der Autorität noch dem Beispiel; er handelt und spricht immer
nur, wie es ihm passend erscheint." „Nicht unbekannt mit einigen wenigen
moralischen Begriffen, die sich auf seinen gegenwärtigen Zustand beziehen, sind
ihm dagegen die durchaus fremd, welche den gesellschaftlichen Beziehungen der
Menschen zugrunde liegen." Aber es kommt nun doch die Zeit, wo der junge
Mensch heraustritt aus seinem isolierten Zustande und ein Verhältnis zur
Gesellschaft gewinnen muß. Die erste Forderung, die ihm hier entgegentritt,
ist die Anerkennung des fremden Eigentums. Wahrscheinlich wird er zunächst,
da er bisher eine Beschränkung des eigenen Ichs nur in den Grenzen der Natur
kennen gelernt hat, in Kollision geraten mit den Interessen der anderen Menschen.
Aber bald erweitert sich ihm der Begriff der natürlichen Grenzen, die hier noch
die natürlichen Rechte des anderen Ichs in sich einschließen. Und es erwächst
ihm dann auch die Erkenntnis der Notwendigkeit der Gesellschaft wegen der mit
ihr verbundenen Arbeitsteilung. Damit geht ihm auch die erste Ahnung der
Rechtsbegriffe auf, denen die Gesellschaft und er selbst unterworfen ist. Das ist
auch die Zeit, da er sich in einem vom Erzieher unbemerkt geleiteten Unterricht,
der einzig die im Menschen liegenden Kräfte und Anlagen zu spontaner Lebens¬
äußerung zu bringen hat, die wichtigsten Kenntnisse aneignen wird. Immer wird
der Zögling dabei die Frage zu beantworten wissen: wozu nützt das?, die
Rousseau für diese Stufe geradezu als die oberste Erziehungs- und Unterrichts¬
maxime gilt.

Auf der vorigen Stufe mußte sich das Wollen innerhalb der natürlichen Not¬
wendigkeit bewegen, hier geschieht es innerhalb der Grenzen des sozial Nützlichen,
nun aber kommt die Zeit, da es sich richten soll nach den Gesetzen dessen, was
schicklich und gut ist, nach den Gesetzen der Tugend. Tugend beruht nach


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[0621] I, I, Rousseau als Lrzichcr Wenn Rousseau mit dem Hinweise auf diese Entartung sein Buch beginnt, so beweist das nur, wie tief der Kulturpessimismus in ihm wurzelte, der ja erfahrungsgemäß zumeist mit einem einseitigen Naturoptimismus verbunden austritt. Aber auch in der ganzen Fassung, in der fast naturwissenschaftlich¬ exakten Formulierung der physischen Erziehung, die im Grunde das Gefühlsleben als Erziehungsfaktor ganz ausschaltet, liegt eine gewisse Trostlosigkeit. Wie völlig anders faßt den Begriff der Erziehung der Mann, der zwei Jahrzehnte später seine ersten Grundsätze niederschrieb: Pestalozzi, der, weil er das Ver¬ hältnis zwischen Gott und den Menschen einzig auf Liebe gegründet sah, auch in der Liebe das Grundprinzip aller Erziehung erkannte! Hier in der ersten Grundlegung aller Erziehung scheiden sich Rousseau und Pestalozzi. Handelt es sich in der ersten Lebenzeit allein um die Erziehung durch die Dinge, so wird etwa vom zwölften Jahre ab auch die Erziehung durch die Menschen einzusetzen haben. Der Zustand des Zöglings ist bis zu diesem Zeitpunkte der eines vollkommen natürlichen Jungen: „Er spricht nur eine Sprache, aber er versteht, was er sagt, und wenn er nicht so gut spricht, wie andere, so ist er ihnen doch im Handeln entschieden überlegen." „Er folgt nie einer Formel, sügt sich weder der Autorität noch dem Beispiel; er handelt und spricht immer nur, wie es ihm passend erscheint." „Nicht unbekannt mit einigen wenigen moralischen Begriffen, die sich auf seinen gegenwärtigen Zustand beziehen, sind ihm dagegen die durchaus fremd, welche den gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen zugrunde liegen." Aber es kommt nun doch die Zeit, wo der junge Mensch heraustritt aus seinem isolierten Zustande und ein Verhältnis zur Gesellschaft gewinnen muß. Die erste Forderung, die ihm hier entgegentritt, ist die Anerkennung des fremden Eigentums. Wahrscheinlich wird er zunächst, da er bisher eine Beschränkung des eigenen Ichs nur in den Grenzen der Natur kennen gelernt hat, in Kollision geraten mit den Interessen der anderen Menschen. Aber bald erweitert sich ihm der Begriff der natürlichen Grenzen, die hier noch die natürlichen Rechte des anderen Ichs in sich einschließen. Und es erwächst ihm dann auch die Erkenntnis der Notwendigkeit der Gesellschaft wegen der mit ihr verbundenen Arbeitsteilung. Damit geht ihm auch die erste Ahnung der Rechtsbegriffe auf, denen die Gesellschaft und er selbst unterworfen ist. Das ist auch die Zeit, da er sich in einem vom Erzieher unbemerkt geleiteten Unterricht, der einzig die im Menschen liegenden Kräfte und Anlagen zu spontaner Lebens¬ äußerung zu bringen hat, die wichtigsten Kenntnisse aneignen wird. Immer wird der Zögling dabei die Frage zu beantworten wissen: wozu nützt das?, die Rousseau für diese Stufe geradezu als die oberste Erziehungs- und Unterrichts¬ maxime gilt. Auf der vorigen Stufe mußte sich das Wollen innerhalb der natürlichen Not¬ wendigkeit bewegen, hier geschieht es innerhalb der Grenzen des sozial Nützlichen, nun aber kommt die Zeit, da es sich richten soll nach den Gesetzen dessen, was schicklich und gut ist, nach den Gesetzen der Tugend. Tugend beruht nach

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/621>, abgerufen am 01.07.2024.