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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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I, I. Rousseau als Erzieher

Erscheinungen entsprießen. Alles nun, was aus der Hand dieses Gottes hervor¬
geht, ist gut, d. h. dem ihm von Gott gegebenen Zwecke, oder den in ihm
liegenden Gesetzen entsprechend, also zweckmäßig. Um nun dem Menschen das
zu geben, was er erwachsen nötig hat, bedarf es der Erziehung, die aus einer
dreifachen Quelle stammt: "Die innere Entwicklung unserer Anlagen und Organe
ist die Erziehung durch die Natur, der Gebrauch, den man uns von dieser Ent¬
wicklung machen lehrt, die Erziehung durch die Menschen, der Inhalt unserer
eigenen Erfahrungen von den Gegenständen, welche uns affizieren, die Erziehung
durch die Dinge." Der Hauptfaktor, nach dem sich die beiden anderen zu
richten haben, ist die Natur. Ziel der Erziehung wäre somit das der Natur
selbst, also immer die Entwicklung zu dem durch die ursprünglichen Gesetze
gegebenen Zwecke. Innerhalb dieser Gesetze kann sich der natürliche Mensch
frei bewegen, alle seine Begierden hat er ihnen zu unterwerfen. Daraus allein
wird ihm das wahre Glück erwachsen. Die Quelle alles Unglücks ist ja doch
immer nur das Mißverhältnis zwischen unseren Bedürfnissen und den Kräften,
sie zu befriedigen. Also hat die Erziehung des natürlichen Menschen sich darin
zu erschöpfen, die Bedürfnisse den Kräften anzupassen; ihre Tätigkeit hat mithin
darin zu bestehen, einmal den Zögling an das Entsagen zu gewöhnen, und zum
andern, seine Kräfte möglichst zur Entfaltung zu bringen. Die Handhabung dieser
Erziehung aber soll ganz negativer Art sein, es soll, wie Rousseau es ausdrückt,
verhindert werden, daß etwas geschehe. Nicht der Erzieher erzieht, sondern die
Natur, der Erzieher hat nur dafür zu sorgen, daß die natürlichen Gesetze in
steter Wirksamkeit bleiben. Er läßt die Dinge auf den Zögling einwirken und
an ihnen seine Kräfte entwickeln. Wenn sich der Zögling einmal in diesen irrte
und in seiner Begierde über sie hinausging, dann hat der Erzieher die Wirkung
eintreten zu lassen, die wir pädagogisch als Strafe bezeichnen, die aber das
Kind immer nur als Folge des Versuchs erkennen soll, sich dem Zwange der
Naturnotwendigkeit zu entziehen. So wird der natürliche Mensch frei von
Begierden und Leidenschaften.

Die Kehrseite dieser Erziehungsmethode ist die Forderung an den Erzieher:
Tritt niemals mit einem Gesetz vor das Kind, das es noch nicht als Not¬
wendigkeit erkannt hat! Es soll ja durch eigene Erfahrung lernen, sich auf sich
selbst zu stellen, es soll sich frei entscheiden im Bereiche der Naturnotwendigkeit.
In diesem Sinne ist also der Begriff der natürlichen Freiheit bei Rousseau zu
verstehen. Würde mau den jungen Menschen unter Gesetze zwingen, deren
Berechtigung er nicht erkannt hat, dann sänke er herab zum bloßen Knechte.
Das gilt auch vor allem auf dem Gebiete des Sittlichen. Sein Tun ist über¬
haupt nie sittlich zu bewerten, er denkt und handelt nur physisch, eben jenen
Naturgesetzen entsprechend, die ewig gleichbleibend und nie willkürlich sind. Nur
der Mensch ist willkürlich in seinen Forderungen. Unter seinen Händen ist alles
entartet, weil er willkürlich, ohne die den Dingen der Natur einwohnenden
Entwicklungsgesetze zu beachten, alles nach seinem Belieben umzubiegen sucht.


I, I. Rousseau als Erzieher

Erscheinungen entsprießen. Alles nun, was aus der Hand dieses Gottes hervor¬
geht, ist gut, d. h. dem ihm von Gott gegebenen Zwecke, oder den in ihm
liegenden Gesetzen entsprechend, also zweckmäßig. Um nun dem Menschen das
zu geben, was er erwachsen nötig hat, bedarf es der Erziehung, die aus einer
dreifachen Quelle stammt: „Die innere Entwicklung unserer Anlagen und Organe
ist die Erziehung durch die Natur, der Gebrauch, den man uns von dieser Ent¬
wicklung machen lehrt, die Erziehung durch die Menschen, der Inhalt unserer
eigenen Erfahrungen von den Gegenständen, welche uns affizieren, die Erziehung
durch die Dinge." Der Hauptfaktor, nach dem sich die beiden anderen zu
richten haben, ist die Natur. Ziel der Erziehung wäre somit das der Natur
selbst, also immer die Entwicklung zu dem durch die ursprünglichen Gesetze
gegebenen Zwecke. Innerhalb dieser Gesetze kann sich der natürliche Mensch
frei bewegen, alle seine Begierden hat er ihnen zu unterwerfen. Daraus allein
wird ihm das wahre Glück erwachsen. Die Quelle alles Unglücks ist ja doch
immer nur das Mißverhältnis zwischen unseren Bedürfnissen und den Kräften,
sie zu befriedigen. Also hat die Erziehung des natürlichen Menschen sich darin
zu erschöpfen, die Bedürfnisse den Kräften anzupassen; ihre Tätigkeit hat mithin
darin zu bestehen, einmal den Zögling an das Entsagen zu gewöhnen, und zum
andern, seine Kräfte möglichst zur Entfaltung zu bringen. Die Handhabung dieser
Erziehung aber soll ganz negativer Art sein, es soll, wie Rousseau es ausdrückt,
verhindert werden, daß etwas geschehe. Nicht der Erzieher erzieht, sondern die
Natur, der Erzieher hat nur dafür zu sorgen, daß die natürlichen Gesetze in
steter Wirksamkeit bleiben. Er läßt die Dinge auf den Zögling einwirken und
an ihnen seine Kräfte entwickeln. Wenn sich der Zögling einmal in diesen irrte
und in seiner Begierde über sie hinausging, dann hat der Erzieher die Wirkung
eintreten zu lassen, die wir pädagogisch als Strafe bezeichnen, die aber das
Kind immer nur als Folge des Versuchs erkennen soll, sich dem Zwange der
Naturnotwendigkeit zu entziehen. So wird der natürliche Mensch frei von
Begierden und Leidenschaften.

Die Kehrseite dieser Erziehungsmethode ist die Forderung an den Erzieher:
Tritt niemals mit einem Gesetz vor das Kind, das es noch nicht als Not¬
wendigkeit erkannt hat! Es soll ja durch eigene Erfahrung lernen, sich auf sich
selbst zu stellen, es soll sich frei entscheiden im Bereiche der Naturnotwendigkeit.
In diesem Sinne ist also der Begriff der natürlichen Freiheit bei Rousseau zu
verstehen. Würde mau den jungen Menschen unter Gesetze zwingen, deren
Berechtigung er nicht erkannt hat, dann sänke er herab zum bloßen Knechte.
Das gilt auch vor allem auf dem Gebiete des Sittlichen. Sein Tun ist über¬
haupt nie sittlich zu bewerten, er denkt und handelt nur physisch, eben jenen
Naturgesetzen entsprechend, die ewig gleichbleibend und nie willkürlich sind. Nur
der Mensch ist willkürlich in seinen Forderungen. Unter seinen Händen ist alles
entartet, weil er willkürlich, ohne die den Dingen der Natur einwohnenden
Entwicklungsgesetze zu beachten, alles nach seinem Belieben umzubiegen sucht.


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[0620] I, I. Rousseau als Erzieher Erscheinungen entsprießen. Alles nun, was aus der Hand dieses Gottes hervor¬ geht, ist gut, d. h. dem ihm von Gott gegebenen Zwecke, oder den in ihm liegenden Gesetzen entsprechend, also zweckmäßig. Um nun dem Menschen das zu geben, was er erwachsen nötig hat, bedarf es der Erziehung, die aus einer dreifachen Quelle stammt: „Die innere Entwicklung unserer Anlagen und Organe ist die Erziehung durch die Natur, der Gebrauch, den man uns von dieser Ent¬ wicklung machen lehrt, die Erziehung durch die Menschen, der Inhalt unserer eigenen Erfahrungen von den Gegenständen, welche uns affizieren, die Erziehung durch die Dinge." Der Hauptfaktor, nach dem sich die beiden anderen zu richten haben, ist die Natur. Ziel der Erziehung wäre somit das der Natur selbst, also immer die Entwicklung zu dem durch die ursprünglichen Gesetze gegebenen Zwecke. Innerhalb dieser Gesetze kann sich der natürliche Mensch frei bewegen, alle seine Begierden hat er ihnen zu unterwerfen. Daraus allein wird ihm das wahre Glück erwachsen. Die Quelle alles Unglücks ist ja doch immer nur das Mißverhältnis zwischen unseren Bedürfnissen und den Kräften, sie zu befriedigen. Also hat die Erziehung des natürlichen Menschen sich darin zu erschöpfen, die Bedürfnisse den Kräften anzupassen; ihre Tätigkeit hat mithin darin zu bestehen, einmal den Zögling an das Entsagen zu gewöhnen, und zum andern, seine Kräfte möglichst zur Entfaltung zu bringen. Die Handhabung dieser Erziehung aber soll ganz negativer Art sein, es soll, wie Rousseau es ausdrückt, verhindert werden, daß etwas geschehe. Nicht der Erzieher erzieht, sondern die Natur, der Erzieher hat nur dafür zu sorgen, daß die natürlichen Gesetze in steter Wirksamkeit bleiben. Er läßt die Dinge auf den Zögling einwirken und an ihnen seine Kräfte entwickeln. Wenn sich der Zögling einmal in diesen irrte und in seiner Begierde über sie hinausging, dann hat der Erzieher die Wirkung eintreten zu lassen, die wir pädagogisch als Strafe bezeichnen, die aber das Kind immer nur als Folge des Versuchs erkennen soll, sich dem Zwange der Naturnotwendigkeit zu entziehen. So wird der natürliche Mensch frei von Begierden und Leidenschaften. Die Kehrseite dieser Erziehungsmethode ist die Forderung an den Erzieher: Tritt niemals mit einem Gesetz vor das Kind, das es noch nicht als Not¬ wendigkeit erkannt hat! Es soll ja durch eigene Erfahrung lernen, sich auf sich selbst zu stellen, es soll sich frei entscheiden im Bereiche der Naturnotwendigkeit. In diesem Sinne ist also der Begriff der natürlichen Freiheit bei Rousseau zu verstehen. Würde mau den jungen Menschen unter Gesetze zwingen, deren Berechtigung er nicht erkannt hat, dann sänke er herab zum bloßen Knechte. Das gilt auch vor allem auf dem Gebiete des Sittlichen. Sein Tun ist über¬ haupt nie sittlich zu bewerten, er denkt und handelt nur physisch, eben jenen Naturgesetzen entsprechend, die ewig gleichbleibend und nie willkürlich sind. Nur der Mensch ist willkürlich in seinen Forderungen. Unter seinen Händen ist alles entartet, weil er willkürlich, ohne die den Dingen der Natur einwohnenden Entwicklungsgesetze zu beachten, alles nach seinem Belieben umzubiegen sucht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/620>, abgerufen am 03.07.2024.