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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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venezianische Nacht

die Bestie vom Giudeccapalast vielleicht die Colombine in die Krallen gefaßt?
Das Herz schlug mir zum Halse empor.

"Calle Cristoforo!" rief ich dem Fährmann zu.

Ich wollte mir Gewißheit verschaffen. Das Ruder schnitt ein, und der
leichte Nachen trieb durch den dunkeln Kanal, vorbei an starrenden Häuser-
mauern. In wenigen Minuten waren wir am Ort.

Die Läden der Büvette waren geschlossen. Ich drückte auf die Klinke der
Tür; aber sie gab nicht nach. In der Nähe ließ sich kein Mensch erblicken.
"Da sitzt die ganze Stadt in den Gondeln," hatte sie gesagt, und nun fuhr es
mir wie ein Blitz durch den Kopf: wenn sie jetzt auf dich wartete!

Ich lief wieder der Gondel zu und gab das Zeichen zur Rückfahrt. Wo
die Zattere in den Giudeccakanal ausladen, wurde wieder angehalten und herum¬
gespäht; aber die Ersehnte erschien nicht.

Der Gedanke, der widerliche Glatzkopf habe heute abend den Bubenstreich
ausgeführt, stieg in mir auf und verflog. Warum denn gerade heute abend I
Und war es überhaupt sicher, daß er daran dachte? Unsinn! Weivermucken!
Wie, wenn die Blonde sich einen tollen Streich erlaubte, mich vom Stern einer
Gondel aus beobachtete, ein bißchen zappeln ließ und mich dann überraschte.
So wird es sein, also hinaus in das bunte, glänzende Lichtermeer!

Auf der weiten Wasserfläche herrschte tiefes Schweigen, nur vom Plätscher¬
schlag des Ruders unterbrochen, mit dem die leicht dahinschwebende Gondel
geleitet wurde.

Wir trieben den leuchtenden Girlanden der Galleggiante zu, welcher die
Klänge der Kapelle entströmten. Die Gondeln näherten sich von allen Seiten
in unabsehbarer Zahl, und wie die letzten Töne verbrausten, flogen sie wieder
auseinander gegen die Mitte des Kanals, wo sie von der Flutströmung ergriffen
wurden und still dahinschwammen. Mit der zunehmenden Dunkelheit mehrten
sich die Boote wie die Sterne am Himmel, die ihren fahlen Dämmerschein über
die glatten Fluten ergossen. Das Ruder tauchte nicht mehr wie am Tage in
schmutziggraues Lagunenwasscr; von den Papierlaternen bestrahlt, flimmerte der
Spiegel wie flüssiges Gold.

Ich sah scharf nach allen Seiten, obwohl es unmöglich war, auch in größter
Nähe jemand zu erkennen. Noch zweimal fuhren wir an die Zattere zurück,
und dann gab ich das Suchen auf. Was sollte ich tun? Heimkehren mochte
ich nicht und so überließ ich mich dem Fährmann und meinen trüben Gedanken.

Eine Gondel streifte leise unsere Flanke. Ein Baldachin, aus blumen-
durchflochtenen Grünzweigen erstellt, wölbte sich über einem weißgedeckten Tischchen,
auf dem ein Fiasco mit Gläsern und Eßwaren noch unberührt standen. Ein
blonder Mädchenkopf lehnte an der Brust eines jungen Mannes, den Blick in
die dunklen Schatten verloren.

Wenn das nella wäre! Das Blut schoß mir in die Schläfen. Das
stille Glück des fremden Kahnes, der wohlige Abendwind, die bekannten Melodien,


venezianische Nacht

die Bestie vom Giudeccapalast vielleicht die Colombine in die Krallen gefaßt?
Das Herz schlug mir zum Halse empor.

„Calle Cristoforo!" rief ich dem Fährmann zu.

Ich wollte mir Gewißheit verschaffen. Das Ruder schnitt ein, und der
leichte Nachen trieb durch den dunkeln Kanal, vorbei an starrenden Häuser-
mauern. In wenigen Minuten waren wir am Ort.

Die Läden der Büvette waren geschlossen. Ich drückte auf die Klinke der
Tür; aber sie gab nicht nach. In der Nähe ließ sich kein Mensch erblicken.
„Da sitzt die ganze Stadt in den Gondeln," hatte sie gesagt, und nun fuhr es
mir wie ein Blitz durch den Kopf: wenn sie jetzt auf dich wartete!

Ich lief wieder der Gondel zu und gab das Zeichen zur Rückfahrt. Wo
die Zattere in den Giudeccakanal ausladen, wurde wieder angehalten und herum¬
gespäht; aber die Ersehnte erschien nicht.

Der Gedanke, der widerliche Glatzkopf habe heute abend den Bubenstreich
ausgeführt, stieg in mir auf und verflog. Warum denn gerade heute abend I
Und war es überhaupt sicher, daß er daran dachte? Unsinn! Weivermucken!
Wie, wenn die Blonde sich einen tollen Streich erlaubte, mich vom Stern einer
Gondel aus beobachtete, ein bißchen zappeln ließ und mich dann überraschte.
So wird es sein, also hinaus in das bunte, glänzende Lichtermeer!

Auf der weiten Wasserfläche herrschte tiefes Schweigen, nur vom Plätscher¬
schlag des Ruders unterbrochen, mit dem die leicht dahinschwebende Gondel
geleitet wurde.

Wir trieben den leuchtenden Girlanden der Galleggiante zu, welcher die
Klänge der Kapelle entströmten. Die Gondeln näherten sich von allen Seiten
in unabsehbarer Zahl, und wie die letzten Töne verbrausten, flogen sie wieder
auseinander gegen die Mitte des Kanals, wo sie von der Flutströmung ergriffen
wurden und still dahinschwammen. Mit der zunehmenden Dunkelheit mehrten
sich die Boote wie die Sterne am Himmel, die ihren fahlen Dämmerschein über
die glatten Fluten ergossen. Das Ruder tauchte nicht mehr wie am Tage in
schmutziggraues Lagunenwasscr; von den Papierlaternen bestrahlt, flimmerte der
Spiegel wie flüssiges Gold.

Ich sah scharf nach allen Seiten, obwohl es unmöglich war, auch in größter
Nähe jemand zu erkennen. Noch zweimal fuhren wir an die Zattere zurück,
und dann gab ich das Suchen auf. Was sollte ich tun? Heimkehren mochte
ich nicht und so überließ ich mich dem Fährmann und meinen trüben Gedanken.

Eine Gondel streifte leise unsere Flanke. Ein Baldachin, aus blumen-
durchflochtenen Grünzweigen erstellt, wölbte sich über einem weißgedeckten Tischchen,
auf dem ein Fiasco mit Gläsern und Eßwaren noch unberührt standen. Ein
blonder Mädchenkopf lehnte an der Brust eines jungen Mannes, den Blick in
die dunklen Schatten verloren.

Wenn das nella wäre! Das Blut schoß mir in die Schläfen. Das
stille Glück des fremden Kahnes, der wohlige Abendwind, die bekannten Melodien,


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[0589] venezianische Nacht die Bestie vom Giudeccapalast vielleicht die Colombine in die Krallen gefaßt? Das Herz schlug mir zum Halse empor. „Calle Cristoforo!" rief ich dem Fährmann zu. Ich wollte mir Gewißheit verschaffen. Das Ruder schnitt ein, und der leichte Nachen trieb durch den dunkeln Kanal, vorbei an starrenden Häuser- mauern. In wenigen Minuten waren wir am Ort. Die Läden der Büvette waren geschlossen. Ich drückte auf die Klinke der Tür; aber sie gab nicht nach. In der Nähe ließ sich kein Mensch erblicken. „Da sitzt die ganze Stadt in den Gondeln," hatte sie gesagt, und nun fuhr es mir wie ein Blitz durch den Kopf: wenn sie jetzt auf dich wartete! Ich lief wieder der Gondel zu und gab das Zeichen zur Rückfahrt. Wo die Zattere in den Giudeccakanal ausladen, wurde wieder angehalten und herum¬ gespäht; aber die Ersehnte erschien nicht. Der Gedanke, der widerliche Glatzkopf habe heute abend den Bubenstreich ausgeführt, stieg in mir auf und verflog. Warum denn gerade heute abend I Und war es überhaupt sicher, daß er daran dachte? Unsinn! Weivermucken! Wie, wenn die Blonde sich einen tollen Streich erlaubte, mich vom Stern einer Gondel aus beobachtete, ein bißchen zappeln ließ und mich dann überraschte. So wird es sein, also hinaus in das bunte, glänzende Lichtermeer! Auf der weiten Wasserfläche herrschte tiefes Schweigen, nur vom Plätscher¬ schlag des Ruders unterbrochen, mit dem die leicht dahinschwebende Gondel geleitet wurde. Wir trieben den leuchtenden Girlanden der Galleggiante zu, welcher die Klänge der Kapelle entströmten. Die Gondeln näherten sich von allen Seiten in unabsehbarer Zahl, und wie die letzten Töne verbrausten, flogen sie wieder auseinander gegen die Mitte des Kanals, wo sie von der Flutströmung ergriffen wurden und still dahinschwammen. Mit der zunehmenden Dunkelheit mehrten sich die Boote wie die Sterne am Himmel, die ihren fahlen Dämmerschein über die glatten Fluten ergossen. Das Ruder tauchte nicht mehr wie am Tage in schmutziggraues Lagunenwasscr; von den Papierlaternen bestrahlt, flimmerte der Spiegel wie flüssiges Gold. Ich sah scharf nach allen Seiten, obwohl es unmöglich war, auch in größter Nähe jemand zu erkennen. Noch zweimal fuhren wir an die Zattere zurück, und dann gab ich das Suchen auf. Was sollte ich tun? Heimkehren mochte ich nicht und so überließ ich mich dem Fährmann und meinen trüben Gedanken. Eine Gondel streifte leise unsere Flanke. Ein Baldachin, aus blumen- durchflochtenen Grünzweigen erstellt, wölbte sich über einem weißgedeckten Tischchen, auf dem ein Fiasco mit Gläsern und Eßwaren noch unberührt standen. Ein blonder Mädchenkopf lehnte an der Brust eines jungen Mannes, den Blick in die dunklen Schatten verloren. Wenn das nella wäre! Das Blut schoß mir in die Schläfen. Das stille Glück des fremden Kahnes, der wohlige Abendwind, die bekannten Melodien,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/589>, abgerufen am 29.06.2024.