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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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venezianische Unrcht

durch die teuern Preise die Fremdenstadt verrät, bot ein noch glänzenderes Bild
als im April und Mai zur Zeit der Hochsaison.

Gegen acht Uhr abends stand ich auf den Fondamenta delle Zartere, dem
diesseitigen Ufer des Giudeccakanals.

Da ich nella eine Stunde später erst erwartete, hatte ich noch Zeit, das
Treiben genauer anzusehen. Eine dreihundert Meter lange Schiffbrücke erleichterte
den Verkehr. Die Gondeln tanzten schon zu Hunderten auf dem Wasserspiegel,
als ich mich dem dichten Menschenstrom einreihte, der über die Barrenbrücke
flutete. Je näher man dem anderen User zurückte, desto lauter wurde ein
Gesumme vernehmbar, das sich zum dumpfen Getöse steigerte. Welch ein buntes
Leben und Treiben auf diesem schmalen Uferrande! Kopf an Kopf gedrängt
schon stand das Volk, und immer neue Menschenmassen ergossen sich in
erdrückender Menge von der Brücke. Lange Reihen von Lampions warfen einen
matten Dämmerschein auf das bunte Menschengewühl. In hohen und tiefen
Tönen klang es hinter den reichbesetzten Tischen und Schaubuden hervor: "Eis!
Kauft Eis!" -- "Meine Herren, wer probiert, gewinnt!" -- "Die schönsten
Fächer habe ich!" -- "Zwei Soldi die Zuckermandel!" Gebratene Gänse mit
übelriechendem Fettgeruch lagen neben Glasperlen auf derselben Bank. Der
Limonadenschenk zerrieb sein Eis neben dem Medizinmanne, der seine staniol-
verpackten Wurzeln in unerschöpflichen Redewendungen an den Mann zu
bringen suchte.

Ich lenkte in einen Maulbeergarten ein, das heißt in einen engen gevierten
Raum, wo der Wirt mit prallen Maulbeeren aufwartete. Das Geschäft ging
flott. Vornehme, in Seide gekleidete Damen und dicke Fischerweiber setzten sich
auf die Fässer und Bretter, wo sie nur Platz fanden, spießten mit Zahnstochern
die vollen Beeren und schnabulierten drauf los, eine, zwei, drei Portionen,
daß dem emsigen Wirte ob all dem Hin- und Herwatscheln die dicken Schwei߬
tränen über die rotverstrichenen Wangen liefen.

Draußen war es dunkel geworden. Aus der Ferne erschollen weiche Klänge.

Jetzt war es Zeit, das Täubchen abzuholen. Ich bestieg eine Gondel und
fuhr aus dem Menschengewühl hinaus in die laue Sommerluft. Wie gespenstige
Schatten glitten die Fahrzeuge hin und her. In der Ferne leuchteten als rote
Punkte die Stearinlichter, die sich stetig zueinander verschoben. Am Uferrand
schimmerte in den drei Landesfarben ein lichtübergossener Pavillon, die Galleggiante
oder Garreggiante, wie sie der Venezianer in seinem Dialekt nennt. Eine leicht¬
gefügte Kuppel, aus tausend glitzernden Lichtlein aufgebaut, diente der Musika
cittadina als Konzertpodium. Wie das gleißte und glimmte und die Augen blendete!

Die Uhr ging auf neun, als die Gondel am Eingang der Zattere, wo
ich nella erwarten sollte, anhielt. Eine halbe Stunde floß dahin und sie kam
nicht. Ich spähte nach allen Seiten, umsonst!

Sollte sie mit einem anderen auf und davon sein und mich zum Besten
gehalten haben? Einer solchen Handlung hielt ich sie nicht sähig. Oder hatte


venezianische Unrcht

durch die teuern Preise die Fremdenstadt verrät, bot ein noch glänzenderes Bild
als im April und Mai zur Zeit der Hochsaison.

Gegen acht Uhr abends stand ich auf den Fondamenta delle Zartere, dem
diesseitigen Ufer des Giudeccakanals.

Da ich nella eine Stunde später erst erwartete, hatte ich noch Zeit, das
Treiben genauer anzusehen. Eine dreihundert Meter lange Schiffbrücke erleichterte
den Verkehr. Die Gondeln tanzten schon zu Hunderten auf dem Wasserspiegel,
als ich mich dem dichten Menschenstrom einreihte, der über die Barrenbrücke
flutete. Je näher man dem anderen User zurückte, desto lauter wurde ein
Gesumme vernehmbar, das sich zum dumpfen Getöse steigerte. Welch ein buntes
Leben und Treiben auf diesem schmalen Uferrande! Kopf an Kopf gedrängt
schon stand das Volk, und immer neue Menschenmassen ergossen sich in
erdrückender Menge von der Brücke. Lange Reihen von Lampions warfen einen
matten Dämmerschein auf das bunte Menschengewühl. In hohen und tiefen
Tönen klang es hinter den reichbesetzten Tischen und Schaubuden hervor: „Eis!
Kauft Eis!" — „Meine Herren, wer probiert, gewinnt!" — „Die schönsten
Fächer habe ich!" — „Zwei Soldi die Zuckermandel!" Gebratene Gänse mit
übelriechendem Fettgeruch lagen neben Glasperlen auf derselben Bank. Der
Limonadenschenk zerrieb sein Eis neben dem Medizinmanne, der seine staniol-
verpackten Wurzeln in unerschöpflichen Redewendungen an den Mann zu
bringen suchte.

Ich lenkte in einen Maulbeergarten ein, das heißt in einen engen gevierten
Raum, wo der Wirt mit prallen Maulbeeren aufwartete. Das Geschäft ging
flott. Vornehme, in Seide gekleidete Damen und dicke Fischerweiber setzten sich
auf die Fässer und Bretter, wo sie nur Platz fanden, spießten mit Zahnstochern
die vollen Beeren und schnabulierten drauf los, eine, zwei, drei Portionen,
daß dem emsigen Wirte ob all dem Hin- und Herwatscheln die dicken Schwei߬
tränen über die rotverstrichenen Wangen liefen.

Draußen war es dunkel geworden. Aus der Ferne erschollen weiche Klänge.

Jetzt war es Zeit, das Täubchen abzuholen. Ich bestieg eine Gondel und
fuhr aus dem Menschengewühl hinaus in die laue Sommerluft. Wie gespenstige
Schatten glitten die Fahrzeuge hin und her. In der Ferne leuchteten als rote
Punkte die Stearinlichter, die sich stetig zueinander verschoben. Am Uferrand
schimmerte in den drei Landesfarben ein lichtübergossener Pavillon, die Galleggiante
oder Garreggiante, wie sie der Venezianer in seinem Dialekt nennt. Eine leicht¬
gefügte Kuppel, aus tausend glitzernden Lichtlein aufgebaut, diente der Musika
cittadina als Konzertpodium. Wie das gleißte und glimmte und die Augen blendete!

Die Uhr ging auf neun, als die Gondel am Eingang der Zattere, wo
ich nella erwarten sollte, anhielt. Eine halbe Stunde floß dahin und sie kam
nicht. Ich spähte nach allen Seiten, umsonst!

Sollte sie mit einem anderen auf und davon sein und mich zum Besten
gehalten haben? Einer solchen Handlung hielt ich sie nicht sähig. Oder hatte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/588>, abgerufen am 01.07.2024.