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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Was lehren uns die kirchlichen Verhältnisse in der Schweiz?

Generalsynode, verdorben. So haben wir seitdem eine zwiespältige Kirchen¬
verfassung, ein staatliches Kirchenregiment und eine von unten aufbauende
Synodalvertretung.

Es wird kaum eine unpopulärere und schwerfälligere Behörde geben als
die Konsistorien. Im einzelnen mag manche wertvolle Arbeit in den Aktenstößen
schlummern, die in beängstigender Weise die Repositorien der konsistorialen Amts¬
zimmer bis zur Decke hin anfüllen. Aber das geistige Leben der Kirchen irgendwie
zu leiten oder auch nur heilsam zu beeinflussen, dazu haben sich diese Körper¬
schaften als ungeeignet erwiesen. Alle neuen Bewegungen haben sich im Gegensatz
zum landesherrlichen Kirchenregiment Bahn schaffen müssen, sind dann allmählich
kirchenregimentlich eingeordnet und eingeschnürt worden. Das eigentliche Leben
der Landeskirchen hat sich vielmehr in freien Vereinigungen Ausdruck geschaffen.

Dieser unerquickliche Zustand fehlt in der Schweiz. Es gibt kein Kirchen¬
regiment, sondern nur synodale Kirchenorganisationen. Das Schwergewicht der
Kirche liegt in der Einzelgemeinde. Die Einzelgemeinde wählt durch absolutes
Mehr ihrer Stimmberechtigten ihren Pfarrer. Daß einer Gemeinde, die mit
ihren: Pfarrer zufrieden ist, durch eine von außen einbrechende Instanz der
Pfarrer genommen würde, wie wir es in Köln erlebt haben und vielleicht auch
in Dortmund erleben werden, ist in der Schweiz ausgeschlossen. Es gibt in
mehreren Gemeinden Pfarrer, die ähnlich wie Jatho denken. Nicht alle von
ihnen haben dieselbe geistige Kraft und Beredsamkeit. Aber auch die mehr
orthodox denkenden Kreise sprechen es offen aus: "Geistige Bewegungen wie
diese lassen sich nicht mit Absetzungen aus der Welt schaffen. Wenn es in den
Gemeinden Menschen gibt, die einem in der Richtung auf Pantheismus hin
modifizierten Christentum huldigen, so mögen sie auch die entsprechenden Pfarrer
haben. Die Kirche geht damit nicht zugrunde, wenn es einige Dutzend Männer
wie Jatho gibt. Wenn diese nach aufrichtigster Überzeugung ihr Bestes geben,
so wirken sie immerhin viel Gutes, zumal es weit radikalere Strömungen gibt,
denen diese Männer einen Damm entgegensetzen. Nur gut, daß als Gegengewicht
und zur Korrektur auch viele Gemeinden und Pfarrer vorhanden sind, denen
der optimistische Idealismus eines Jatho und seiner Gesinnungsgenossen nicht
genügtl" Ich glaube, es ist nicht zu viel verlangt, daß diese Gedanken auch
in unseren kirchlichen Kreisen allmählich durchdringen. Der Protestantismus hat
es seit über hundert Jahren lernen müssen, daß er eine Fülle verschiedener
Typen in sich birgt. Ja sein Reichtum dem Katholizismus gegenüber besteht
gerade darin, daß er eine Mannigfaltigkeit religiöser Gestaltungen aufweist.
Soll denn der Zustand immer dauern, daß jeder nur bei sich die volle Wahrheit,
bei dem anderen nichts als Lüge und Unglauben sehen kann? Das Christentum
steht so hoch, daß es jedem, der auch nur ein wenig von seiner Wahrheit
erfaßt hat, zur läuternden Macht werden muß. Sollte der Protestantismus
gerade auch in seiner kirchlichen Ausgestaltung nicht einer Fülle religiöser
Individualitäten sich erfreuen? Wenn der eine mehr das allgemein Religiöse


Was lehren uns die kirchlichen Verhältnisse in der Schweiz?

Generalsynode, verdorben. So haben wir seitdem eine zwiespältige Kirchen¬
verfassung, ein staatliches Kirchenregiment und eine von unten aufbauende
Synodalvertretung.

Es wird kaum eine unpopulärere und schwerfälligere Behörde geben als
die Konsistorien. Im einzelnen mag manche wertvolle Arbeit in den Aktenstößen
schlummern, die in beängstigender Weise die Repositorien der konsistorialen Amts¬
zimmer bis zur Decke hin anfüllen. Aber das geistige Leben der Kirchen irgendwie
zu leiten oder auch nur heilsam zu beeinflussen, dazu haben sich diese Körper¬
schaften als ungeeignet erwiesen. Alle neuen Bewegungen haben sich im Gegensatz
zum landesherrlichen Kirchenregiment Bahn schaffen müssen, sind dann allmählich
kirchenregimentlich eingeordnet und eingeschnürt worden. Das eigentliche Leben
der Landeskirchen hat sich vielmehr in freien Vereinigungen Ausdruck geschaffen.

Dieser unerquickliche Zustand fehlt in der Schweiz. Es gibt kein Kirchen¬
regiment, sondern nur synodale Kirchenorganisationen. Das Schwergewicht der
Kirche liegt in der Einzelgemeinde. Die Einzelgemeinde wählt durch absolutes
Mehr ihrer Stimmberechtigten ihren Pfarrer. Daß einer Gemeinde, die mit
ihren: Pfarrer zufrieden ist, durch eine von außen einbrechende Instanz der
Pfarrer genommen würde, wie wir es in Köln erlebt haben und vielleicht auch
in Dortmund erleben werden, ist in der Schweiz ausgeschlossen. Es gibt in
mehreren Gemeinden Pfarrer, die ähnlich wie Jatho denken. Nicht alle von
ihnen haben dieselbe geistige Kraft und Beredsamkeit. Aber auch die mehr
orthodox denkenden Kreise sprechen es offen aus: „Geistige Bewegungen wie
diese lassen sich nicht mit Absetzungen aus der Welt schaffen. Wenn es in den
Gemeinden Menschen gibt, die einem in der Richtung auf Pantheismus hin
modifizierten Christentum huldigen, so mögen sie auch die entsprechenden Pfarrer
haben. Die Kirche geht damit nicht zugrunde, wenn es einige Dutzend Männer
wie Jatho gibt. Wenn diese nach aufrichtigster Überzeugung ihr Bestes geben,
so wirken sie immerhin viel Gutes, zumal es weit radikalere Strömungen gibt,
denen diese Männer einen Damm entgegensetzen. Nur gut, daß als Gegengewicht
und zur Korrektur auch viele Gemeinden und Pfarrer vorhanden sind, denen
der optimistische Idealismus eines Jatho und seiner Gesinnungsgenossen nicht
genügtl" Ich glaube, es ist nicht zu viel verlangt, daß diese Gedanken auch
in unseren kirchlichen Kreisen allmählich durchdringen. Der Protestantismus hat
es seit über hundert Jahren lernen müssen, daß er eine Fülle verschiedener
Typen in sich birgt. Ja sein Reichtum dem Katholizismus gegenüber besteht
gerade darin, daß er eine Mannigfaltigkeit religiöser Gestaltungen aufweist.
Soll denn der Zustand immer dauern, daß jeder nur bei sich die volle Wahrheit,
bei dem anderen nichts als Lüge und Unglauben sehen kann? Das Christentum
steht so hoch, daß es jedem, der auch nur ein wenig von seiner Wahrheit
erfaßt hat, zur läuternden Macht werden muß. Sollte der Protestantismus
gerade auch in seiner kirchlichen Ausgestaltung nicht einer Fülle religiöser
Individualitäten sich erfreuen? Wenn der eine mehr das allgemein Religiöse


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[0570] Was lehren uns die kirchlichen Verhältnisse in der Schweiz? Generalsynode, verdorben. So haben wir seitdem eine zwiespältige Kirchen¬ verfassung, ein staatliches Kirchenregiment und eine von unten aufbauende Synodalvertretung. Es wird kaum eine unpopulärere und schwerfälligere Behörde geben als die Konsistorien. Im einzelnen mag manche wertvolle Arbeit in den Aktenstößen schlummern, die in beängstigender Weise die Repositorien der konsistorialen Amts¬ zimmer bis zur Decke hin anfüllen. Aber das geistige Leben der Kirchen irgendwie zu leiten oder auch nur heilsam zu beeinflussen, dazu haben sich diese Körper¬ schaften als ungeeignet erwiesen. Alle neuen Bewegungen haben sich im Gegensatz zum landesherrlichen Kirchenregiment Bahn schaffen müssen, sind dann allmählich kirchenregimentlich eingeordnet und eingeschnürt worden. Das eigentliche Leben der Landeskirchen hat sich vielmehr in freien Vereinigungen Ausdruck geschaffen. Dieser unerquickliche Zustand fehlt in der Schweiz. Es gibt kein Kirchen¬ regiment, sondern nur synodale Kirchenorganisationen. Das Schwergewicht der Kirche liegt in der Einzelgemeinde. Die Einzelgemeinde wählt durch absolutes Mehr ihrer Stimmberechtigten ihren Pfarrer. Daß einer Gemeinde, die mit ihren: Pfarrer zufrieden ist, durch eine von außen einbrechende Instanz der Pfarrer genommen würde, wie wir es in Köln erlebt haben und vielleicht auch in Dortmund erleben werden, ist in der Schweiz ausgeschlossen. Es gibt in mehreren Gemeinden Pfarrer, die ähnlich wie Jatho denken. Nicht alle von ihnen haben dieselbe geistige Kraft und Beredsamkeit. Aber auch die mehr orthodox denkenden Kreise sprechen es offen aus: „Geistige Bewegungen wie diese lassen sich nicht mit Absetzungen aus der Welt schaffen. Wenn es in den Gemeinden Menschen gibt, die einem in der Richtung auf Pantheismus hin modifizierten Christentum huldigen, so mögen sie auch die entsprechenden Pfarrer haben. Die Kirche geht damit nicht zugrunde, wenn es einige Dutzend Männer wie Jatho gibt. Wenn diese nach aufrichtigster Überzeugung ihr Bestes geben, so wirken sie immerhin viel Gutes, zumal es weit radikalere Strömungen gibt, denen diese Männer einen Damm entgegensetzen. Nur gut, daß als Gegengewicht und zur Korrektur auch viele Gemeinden und Pfarrer vorhanden sind, denen der optimistische Idealismus eines Jatho und seiner Gesinnungsgenossen nicht genügtl" Ich glaube, es ist nicht zu viel verlangt, daß diese Gedanken auch in unseren kirchlichen Kreisen allmählich durchdringen. Der Protestantismus hat es seit über hundert Jahren lernen müssen, daß er eine Fülle verschiedener Typen in sich birgt. Ja sein Reichtum dem Katholizismus gegenüber besteht gerade darin, daß er eine Mannigfaltigkeit religiöser Gestaltungen aufweist. Soll denn der Zustand immer dauern, daß jeder nur bei sich die volle Wahrheit, bei dem anderen nichts als Lüge und Unglauben sehen kann? Das Christentum steht so hoch, daß es jedem, der auch nur ein wenig von seiner Wahrheit erfaßt hat, zur läuternden Macht werden muß. Sollte der Protestantismus gerade auch in seiner kirchlichen Ausgestaltung nicht einer Fülle religiöser Individualitäten sich erfreuen? Wenn der eine mehr das allgemein Religiöse

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/570>, abgerufen am 28.09.2024.