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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Was lehren uns die kirchlichen Verhältnisse in der Schweiz?

Religion nach den heiligen Schriften des Alten und Neuen Testaments im Gerste
der evangelisch-reformierten Kirche lehren und verkündigen zu wollen." (So die
Kirchenordnung von Se. Gallen; die der anderen Kantone lauten ähnlich.)
Derartige Ordinationsbekenntnisse scheinen mir für Deutschland vorbildlich zu
sein. Im Grunde ist mit solchen Gelöbnissen alles gesagt, was man für sein
Leben und Wirken versprechen kann. Weder zu viel, noch zu wenig. Was der
Pfarrer aus der Bibel ableitet und was er zurückstellt, wird seinem eigenen
Ermessen überlassen. Wenn er nur innerhalb der von der Reformation aus¬
gegangenen Bewegung stehen und nach seinen Kräften der evangelischen Kirche
dienen will, so wird er nicht weiter danach gefragt, was er für Lehrsätze im
einzelnen anerkennt und bestreitet.

So definiert auch die Verfassung der reformierten Kirche von Basel-Stadt
vom 21. November 1910 in Paragraph 1 das Wesen der Kirche:


"Die Grundlage ihrer Lehre ist Jesus Christus und sein Evangeliuni, das sie aus der
Bibel unter der Leitung des christlichen Gewissens, der christlichen Erfahrung und der Wissen¬
schaft erforscht, verkündet und im Leben zu verwirklichen trachtet."

Damit kommen wir zum wichtigsten Punkt. Der Schwerpunkt der Kirche
in der Schweiz liegt in der Einzelgemeinde, nicht in einem Kirchenregiment.
Das hat zur Folge, daß die Kirche in ganz anderer Weise volkstümlich ist als
in Norddeutschland. Die Kluft zwischen Pfarrer und Gemeinde besteht dort
nicht. Die katholische Trennung von Klerus und Laien ist in der Schweiz viel
gründlicher aufgehoben. Es war der größte Mangel in Luthers Organisation
des kirchlichen Lebens, daß er nicht der einzelnen Gemeinde Vertreter gab. Die
Folge war, daß die zur Aushilfe eingesetzte staatliche Beaufsichtigung der Pfarrer
zur dauernden Einrichtung wurde. So entstand das Mißgebilde des staatlichen
Kirchenregiments, das Konsistorium, das von Luther nur als Notbehelf für
einige Zeit gedacht war. Es wurde zur dauernden Institution. Hier haben
Zwingli und Calvin einen glücklicheren Griff getan. Die Kirchenältesten haben
sich seit der Reformationszeit in allen reformierten Ländern, in der Schweiz, in
Schottland, Nordamerika, aber auch in Westfalen und der Rheinprovinz als
segensreiche Institution eingebürgert. Es war der größte Fehler bei der Ein¬
führung der Union in Preußen.1817, daß man nicht dem Rate Schleiermachers,
ihres geistigen Vaters, folgte und überall Gemeindevertreter in den unierten
Gemeinden schuf. Man nahm dadurch den Gemeinden die einzige Möglichkeit,
durch die sie ihre Wünsche in geordneter Weise hätten aussprechen können. Was
war die Folge? Die Kirche wurde in Norddeutschland immer mehr Pastoren¬
kirche statt Gemeindekirche. Eine Gemeinschaft, in der man nicht selber mit¬
arbeiten kaun, verliert an Interesse. Kirche gleich Pastor und Konsistorium ist
noch immer die Ansicht, die in weiten Kreisen herrscht. Viel zu spät, erst 1873,
erhielt die preußische Landeskirche das, wessen sie längst bedürfte: eine Kirchen¬
organisation, die den Gemeinden ihre Vertretung schuf. Und auch diese wurde
durch ein ungeschicktes Wahlrecht sür die höheren Instanzen, Provinzial- und


Grenzboten II 1912 71
Was lehren uns die kirchlichen Verhältnisse in der Schweiz?

Religion nach den heiligen Schriften des Alten und Neuen Testaments im Gerste
der evangelisch-reformierten Kirche lehren und verkündigen zu wollen." (So die
Kirchenordnung von Se. Gallen; die der anderen Kantone lauten ähnlich.)
Derartige Ordinationsbekenntnisse scheinen mir für Deutschland vorbildlich zu
sein. Im Grunde ist mit solchen Gelöbnissen alles gesagt, was man für sein
Leben und Wirken versprechen kann. Weder zu viel, noch zu wenig. Was der
Pfarrer aus der Bibel ableitet und was er zurückstellt, wird seinem eigenen
Ermessen überlassen. Wenn er nur innerhalb der von der Reformation aus¬
gegangenen Bewegung stehen und nach seinen Kräften der evangelischen Kirche
dienen will, so wird er nicht weiter danach gefragt, was er für Lehrsätze im
einzelnen anerkennt und bestreitet.

So definiert auch die Verfassung der reformierten Kirche von Basel-Stadt
vom 21. November 1910 in Paragraph 1 das Wesen der Kirche:


„Die Grundlage ihrer Lehre ist Jesus Christus und sein Evangeliuni, das sie aus der
Bibel unter der Leitung des christlichen Gewissens, der christlichen Erfahrung und der Wissen¬
schaft erforscht, verkündet und im Leben zu verwirklichen trachtet."

Damit kommen wir zum wichtigsten Punkt. Der Schwerpunkt der Kirche
in der Schweiz liegt in der Einzelgemeinde, nicht in einem Kirchenregiment.
Das hat zur Folge, daß die Kirche in ganz anderer Weise volkstümlich ist als
in Norddeutschland. Die Kluft zwischen Pfarrer und Gemeinde besteht dort
nicht. Die katholische Trennung von Klerus und Laien ist in der Schweiz viel
gründlicher aufgehoben. Es war der größte Mangel in Luthers Organisation
des kirchlichen Lebens, daß er nicht der einzelnen Gemeinde Vertreter gab. Die
Folge war, daß die zur Aushilfe eingesetzte staatliche Beaufsichtigung der Pfarrer
zur dauernden Einrichtung wurde. So entstand das Mißgebilde des staatlichen
Kirchenregiments, das Konsistorium, das von Luther nur als Notbehelf für
einige Zeit gedacht war. Es wurde zur dauernden Institution. Hier haben
Zwingli und Calvin einen glücklicheren Griff getan. Die Kirchenältesten haben
sich seit der Reformationszeit in allen reformierten Ländern, in der Schweiz, in
Schottland, Nordamerika, aber auch in Westfalen und der Rheinprovinz als
segensreiche Institution eingebürgert. Es war der größte Fehler bei der Ein¬
führung der Union in Preußen.1817, daß man nicht dem Rate Schleiermachers,
ihres geistigen Vaters, folgte und überall Gemeindevertreter in den unierten
Gemeinden schuf. Man nahm dadurch den Gemeinden die einzige Möglichkeit,
durch die sie ihre Wünsche in geordneter Weise hätten aussprechen können. Was
war die Folge? Die Kirche wurde in Norddeutschland immer mehr Pastoren¬
kirche statt Gemeindekirche. Eine Gemeinschaft, in der man nicht selber mit¬
arbeiten kaun, verliert an Interesse. Kirche gleich Pastor und Konsistorium ist
noch immer die Ansicht, die in weiten Kreisen herrscht. Viel zu spät, erst 1873,
erhielt die preußische Landeskirche das, wessen sie längst bedürfte: eine Kirchen¬
organisation, die den Gemeinden ihre Vertretung schuf. Und auch diese wurde
durch ein ungeschicktes Wahlrecht sür die höheren Instanzen, Provinzial- und


Grenzboten II 1912 71
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[0569] Was lehren uns die kirchlichen Verhältnisse in der Schweiz? Religion nach den heiligen Schriften des Alten und Neuen Testaments im Gerste der evangelisch-reformierten Kirche lehren und verkündigen zu wollen." (So die Kirchenordnung von Se. Gallen; die der anderen Kantone lauten ähnlich.) Derartige Ordinationsbekenntnisse scheinen mir für Deutschland vorbildlich zu sein. Im Grunde ist mit solchen Gelöbnissen alles gesagt, was man für sein Leben und Wirken versprechen kann. Weder zu viel, noch zu wenig. Was der Pfarrer aus der Bibel ableitet und was er zurückstellt, wird seinem eigenen Ermessen überlassen. Wenn er nur innerhalb der von der Reformation aus¬ gegangenen Bewegung stehen und nach seinen Kräften der evangelischen Kirche dienen will, so wird er nicht weiter danach gefragt, was er für Lehrsätze im einzelnen anerkennt und bestreitet. So definiert auch die Verfassung der reformierten Kirche von Basel-Stadt vom 21. November 1910 in Paragraph 1 das Wesen der Kirche: „Die Grundlage ihrer Lehre ist Jesus Christus und sein Evangeliuni, das sie aus der Bibel unter der Leitung des christlichen Gewissens, der christlichen Erfahrung und der Wissen¬ schaft erforscht, verkündet und im Leben zu verwirklichen trachtet." Damit kommen wir zum wichtigsten Punkt. Der Schwerpunkt der Kirche in der Schweiz liegt in der Einzelgemeinde, nicht in einem Kirchenregiment. Das hat zur Folge, daß die Kirche in ganz anderer Weise volkstümlich ist als in Norddeutschland. Die Kluft zwischen Pfarrer und Gemeinde besteht dort nicht. Die katholische Trennung von Klerus und Laien ist in der Schweiz viel gründlicher aufgehoben. Es war der größte Mangel in Luthers Organisation des kirchlichen Lebens, daß er nicht der einzelnen Gemeinde Vertreter gab. Die Folge war, daß die zur Aushilfe eingesetzte staatliche Beaufsichtigung der Pfarrer zur dauernden Einrichtung wurde. So entstand das Mißgebilde des staatlichen Kirchenregiments, das Konsistorium, das von Luther nur als Notbehelf für einige Zeit gedacht war. Es wurde zur dauernden Institution. Hier haben Zwingli und Calvin einen glücklicheren Griff getan. Die Kirchenältesten haben sich seit der Reformationszeit in allen reformierten Ländern, in der Schweiz, in Schottland, Nordamerika, aber auch in Westfalen und der Rheinprovinz als segensreiche Institution eingebürgert. Es war der größte Fehler bei der Ein¬ führung der Union in Preußen.1817, daß man nicht dem Rate Schleiermachers, ihres geistigen Vaters, folgte und überall Gemeindevertreter in den unierten Gemeinden schuf. Man nahm dadurch den Gemeinden die einzige Möglichkeit, durch die sie ihre Wünsche in geordneter Weise hätten aussprechen können. Was war die Folge? Die Kirche wurde in Norddeutschland immer mehr Pastoren¬ kirche statt Gemeindekirche. Eine Gemeinschaft, in der man nicht selber mit¬ arbeiten kaun, verliert an Interesse. Kirche gleich Pastor und Konsistorium ist noch immer die Ansicht, die in weiten Kreisen herrscht. Viel zu spät, erst 1873, erhielt die preußische Landeskirche das, wessen sie längst bedürfte: eine Kirchen¬ organisation, die den Gemeinden ihre Vertretung schuf. Und auch diese wurde durch ein ungeschicktes Wahlrecht sür die höheren Instanzen, Provinzial- und Grenzboten II 1912 71

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/569>, abgerufen am 26.06.2024.