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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Wilhelm Münch

Winkel, spöttisch oder etwas bitter, zucken sehen. Was er ablehnt, nennt er
wohl einmal "minder erfreulich", und selbst da fügt er wie entschuldigend
hinzu: "wenn auch nach Menschenart durchaus verständlich"; von einer falschen
Auffassung sagt er: "Ich möchte ihr weiter keine Worte widmen, denn bei
allein Streben nach Gerechtigkeit könnten es keine freundlichen seinl" Selbst in
Dingen, die ihm höchst zuwider sein müssen, und die ein anderer mit weniger
Geist, aber mehr Temperament behandeln würde, sieht er Auswirkung der
"Gesetze der Zeit". Warm werden sehen wir ihn höchstens gelegentlich bei der
Abwehr allzu törichter Vorwürfe gegen seine Schule.

Wer so wie Münch in die inneren Voraussetzungen der Erziehung (vgl. u. a.
den Aufsatz "Poesie und Erziehung", Grenzboten 1899, I.) und ihrer Methoden
eindringt, dem erscheint das pädagogische Gebiet nicht als ein ringseingehegtes
Gartenland, sondern ihm führen Wege nach allen Richtungen hinaus ins Leben.
Und wie er versteht sich in die Kindesseele einzufühlen, so zeigt er sich auch als
Meister des Verständnisses fertiger Charaktere. Man darf hier auf die Studien
über Jean Paul verweisen; die Grenzbotengemeinde aber kennt Münch auch aus
seiner Würdigung Miltons (1908, IV.) und -- gleichsam am entgegengesetzten
Rande desselben Gebietes--aus der ausgezeichneten Studie überAlthoff(1909,IV.).
Oft aber erweitert sich ihm die psychologische Betrachtung auf das Gebiet
der Volks- (z. B. "Volk und Jugend". Grenzboten 1897, III.. "Neugier und
Wißbegier", Grenzboten 1905, I.) und Völkerpsychologie; auch zur Psychologie
der Masse hat Münch (besonders in den Aufsätzen "Volk und Jugend" und
"Der Einzelne und die Gemeinschaft") eine Reihe feiner Bemerkungen gemacht.

Es ist dem milden Wesen Münchs sehr angemessen, das Menschenleben
und seine Phasen als solche sinnig zu betrachten ("Die Lebensalter", vgl. auch
"Ruhm und Lebensdauer", Grenzboten 1901, I.); besonders in seinen letzten
Lebensjahren lagen dem weithin rückschauenden, viel erfahrenen Greise solche
Betrachtungen nahe. Ja, in diesem Rückwärtsschauen schlägt die Neigung
Münchs, alle Lebenserscheinungen in ihre Bedingtheiten aufzulösen, in eine
künstlerisch anmutende Gabe des Zusammenschauens um. Und so hat er als
anspruchsloser Gestalter drei kleine Bände Erzählungen veröffentlicht; zumeist
etwas wehmütige Erinnerungen an Gestalten und Ereignisse seines reichen
Lebensganges, lebenswahre Porträts und Genrebilder aus dem Schatz des
Erfahrenen ("Gestalten vom Wege", 1905, "Leute von ehedem". 1908, "Selt¬
same Alltagsmenschen", 1910).

Immer aber stehen diese Darstellungen wie die erwähnten Essays auf dem
Grunde einer sicheren Kulturbeurteilung. Nicht selten streift Münch mit kleiner
Wendung den Gegensatz von einst und jetzt, und ein resignierter Zug scheint
dann sein Antlitz zu verdunkeln. Ja es ist für uns Heutige von wesentlicher
Bedeutung, wie auch ein so milder Beurteiler zu dem verwirrenden Vielerlei
der gegenwärtigen Kulturerscheinungen Stellung nimmt. Gewiß sucht Münch
vor allem das Seiende als Gewordenes zu verstehen; aber an diesem Punkte


Wilhelm Münch

Winkel, spöttisch oder etwas bitter, zucken sehen. Was er ablehnt, nennt er
wohl einmal „minder erfreulich", und selbst da fügt er wie entschuldigend
hinzu: „wenn auch nach Menschenart durchaus verständlich"; von einer falschen
Auffassung sagt er: „Ich möchte ihr weiter keine Worte widmen, denn bei
allein Streben nach Gerechtigkeit könnten es keine freundlichen seinl" Selbst in
Dingen, die ihm höchst zuwider sein müssen, und die ein anderer mit weniger
Geist, aber mehr Temperament behandeln würde, sieht er Auswirkung der
„Gesetze der Zeit". Warm werden sehen wir ihn höchstens gelegentlich bei der
Abwehr allzu törichter Vorwürfe gegen seine Schule.

Wer so wie Münch in die inneren Voraussetzungen der Erziehung (vgl. u. a.
den Aufsatz „Poesie und Erziehung", Grenzboten 1899, I.) und ihrer Methoden
eindringt, dem erscheint das pädagogische Gebiet nicht als ein ringseingehegtes
Gartenland, sondern ihm führen Wege nach allen Richtungen hinaus ins Leben.
Und wie er versteht sich in die Kindesseele einzufühlen, so zeigt er sich auch als
Meister des Verständnisses fertiger Charaktere. Man darf hier auf die Studien
über Jean Paul verweisen; die Grenzbotengemeinde aber kennt Münch auch aus
seiner Würdigung Miltons (1908, IV.) und — gleichsam am entgegengesetzten
Rande desselben Gebietes—aus der ausgezeichneten Studie überAlthoff(1909,IV.).
Oft aber erweitert sich ihm die psychologische Betrachtung auf das Gebiet
der Volks- (z. B. „Volk und Jugend". Grenzboten 1897, III.. „Neugier und
Wißbegier", Grenzboten 1905, I.) und Völkerpsychologie; auch zur Psychologie
der Masse hat Münch (besonders in den Aufsätzen „Volk und Jugend" und
„Der Einzelne und die Gemeinschaft") eine Reihe feiner Bemerkungen gemacht.

Es ist dem milden Wesen Münchs sehr angemessen, das Menschenleben
und seine Phasen als solche sinnig zu betrachten („Die Lebensalter", vgl. auch
„Ruhm und Lebensdauer", Grenzboten 1901, I.); besonders in seinen letzten
Lebensjahren lagen dem weithin rückschauenden, viel erfahrenen Greise solche
Betrachtungen nahe. Ja, in diesem Rückwärtsschauen schlägt die Neigung
Münchs, alle Lebenserscheinungen in ihre Bedingtheiten aufzulösen, in eine
künstlerisch anmutende Gabe des Zusammenschauens um. Und so hat er als
anspruchsloser Gestalter drei kleine Bände Erzählungen veröffentlicht; zumeist
etwas wehmütige Erinnerungen an Gestalten und Ereignisse seines reichen
Lebensganges, lebenswahre Porträts und Genrebilder aus dem Schatz des
Erfahrenen („Gestalten vom Wege", 1905, „Leute von ehedem". 1908, „Selt¬
same Alltagsmenschen", 1910).

Immer aber stehen diese Darstellungen wie die erwähnten Essays auf dem
Grunde einer sicheren Kulturbeurteilung. Nicht selten streift Münch mit kleiner
Wendung den Gegensatz von einst und jetzt, und ein resignierter Zug scheint
dann sein Antlitz zu verdunkeln. Ja es ist für uns Heutige von wesentlicher
Bedeutung, wie auch ein so milder Beurteiler zu dem verwirrenden Vielerlei
der gegenwärtigen Kulturerscheinungen Stellung nimmt. Gewiß sucht Münch
vor allem das Seiende als Gewordenes zu verstehen; aber an diesem Punkte


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[0549] Wilhelm Münch Winkel, spöttisch oder etwas bitter, zucken sehen. Was er ablehnt, nennt er wohl einmal „minder erfreulich", und selbst da fügt er wie entschuldigend hinzu: „wenn auch nach Menschenart durchaus verständlich"; von einer falschen Auffassung sagt er: „Ich möchte ihr weiter keine Worte widmen, denn bei allein Streben nach Gerechtigkeit könnten es keine freundlichen seinl" Selbst in Dingen, die ihm höchst zuwider sein müssen, und die ein anderer mit weniger Geist, aber mehr Temperament behandeln würde, sieht er Auswirkung der „Gesetze der Zeit". Warm werden sehen wir ihn höchstens gelegentlich bei der Abwehr allzu törichter Vorwürfe gegen seine Schule. Wer so wie Münch in die inneren Voraussetzungen der Erziehung (vgl. u. a. den Aufsatz „Poesie und Erziehung", Grenzboten 1899, I.) und ihrer Methoden eindringt, dem erscheint das pädagogische Gebiet nicht als ein ringseingehegtes Gartenland, sondern ihm führen Wege nach allen Richtungen hinaus ins Leben. Und wie er versteht sich in die Kindesseele einzufühlen, so zeigt er sich auch als Meister des Verständnisses fertiger Charaktere. Man darf hier auf die Studien über Jean Paul verweisen; die Grenzbotengemeinde aber kennt Münch auch aus seiner Würdigung Miltons (1908, IV.) und — gleichsam am entgegengesetzten Rande desselben Gebietes—aus der ausgezeichneten Studie überAlthoff(1909,IV.). Oft aber erweitert sich ihm die psychologische Betrachtung auf das Gebiet der Volks- (z. B. „Volk und Jugend". Grenzboten 1897, III.. „Neugier und Wißbegier", Grenzboten 1905, I.) und Völkerpsychologie; auch zur Psychologie der Masse hat Münch (besonders in den Aufsätzen „Volk und Jugend" und „Der Einzelne und die Gemeinschaft") eine Reihe feiner Bemerkungen gemacht. Es ist dem milden Wesen Münchs sehr angemessen, das Menschenleben und seine Phasen als solche sinnig zu betrachten („Die Lebensalter", vgl. auch „Ruhm und Lebensdauer", Grenzboten 1901, I.); besonders in seinen letzten Lebensjahren lagen dem weithin rückschauenden, viel erfahrenen Greise solche Betrachtungen nahe. Ja, in diesem Rückwärtsschauen schlägt die Neigung Münchs, alle Lebenserscheinungen in ihre Bedingtheiten aufzulösen, in eine künstlerisch anmutende Gabe des Zusammenschauens um. Und so hat er als anspruchsloser Gestalter drei kleine Bände Erzählungen veröffentlicht; zumeist etwas wehmütige Erinnerungen an Gestalten und Ereignisse seines reichen Lebensganges, lebenswahre Porträts und Genrebilder aus dem Schatz des Erfahrenen („Gestalten vom Wege", 1905, „Leute von ehedem". 1908, „Selt¬ same Alltagsmenschen", 1910). Immer aber stehen diese Darstellungen wie die erwähnten Essays auf dem Grunde einer sicheren Kulturbeurteilung. Nicht selten streift Münch mit kleiner Wendung den Gegensatz von einst und jetzt, und ein resignierter Zug scheint dann sein Antlitz zu verdunkeln. Ja es ist für uns Heutige von wesentlicher Bedeutung, wie auch ein so milder Beurteiler zu dem verwirrenden Vielerlei der gegenwärtigen Kulturerscheinungen Stellung nimmt. Gewiß sucht Münch vor allem das Seiende als Gewordenes zu verstehen; aber an diesem Punkte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/549>, abgerufen am 29.06.2024.