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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Wilhelm Münch

ein Gebiet herantritt -- sei es nun das pädagogische oder irgendein anderes --
der hat die Vorbedingung für alles praktische Handeln. Aber freilich ist neben
dem Verstehen das Wollen die andere Wurzel des richtigen Tuns. Da ist es
für Münch bezeichnend, daß er hie und da wie mit einem Ruck Halt macht,
wo die Grenze der verständnisvollen und verständniswirkenden Analyse und der
praktischen Stellungnahme liegt. Man könnte sagen: das tout comprenärs
ist sein Ziel, die feine geistvolle Analyse seine Domäne, aber eine gewisse Scheu
vor der Aktivität, vor der Offensive durchzieht alle seine Schriften. "Es ist
zwar nicht richtig," sagt er einmal, "daß alles Wirkliche vernünftig sei. Aber
das Gewordene und Bestehende ist niemals von Hause aus so unsinnig, wie
es wohl in dem Augenblicke erscheint, da es geschichtlich von Neuem abgelöst
wird." Aus diesem Wort läßt sich Münchs ganze Stellung gegenüber dem
Weltgeschehen verstehen. An anderer Stelle äußert er sich: "Ob alles zu ver¬
stehen wirklich schon verpflichte, alles zu verzeihen, sei dahingestellt. Aber
wirklich möglichst alles zu verstehen, ehe man verwirft und verurteilt, ehe man
Recht und Schuld nach der einen und der anderen Seite zuerkennt, ist jedenfalls
Pflicht. Eine Pflicht übrigens, die nur wenige sich zumuten und freilich auch
nicht allzuviele übernehmen können."

Diese Anschauung führt Münch natürlich zu vermittelnden Standpunkten
in allen Fragen, die ihn beschäftigt haben. Er ist sich bewußt, daß er berufen
ist, diese Standpunkte des überlegenen Verständnisses einzunehmen: "Natürlich
kommt es darauf an, ob man die Mitte sucht, weil man nicht den Mut hat
oder nicht die Klarheit, sich zu einer Partei zu schlagen, oder weil eine viel¬
umfassende Erfahrung, eine eingehende Kenntnis aller in Betracht kommenden
tatsächlichen wie psychologischen Verhältnisse aus der kampferfüllten Ebene hinweg
auf eine größere Höhe mit weiterem Umblick hat gelangen lassen." Auf diese
Höhe sucht Münch auch seine Leser zu führen. Und mag es ihm dabei auch
manches Mal nicht gelingen, den zu befriedigen, der praktische Anweisungen für
den Werktag aus den Schriften des Pädagogen schöpfen möchte, so wird er
doch jeden ernsten Menschen zum Nachdenken nötigen, ihm zu einer Sonntags¬
stimmung verhelfen, die ihre Früchte auch im Alltag zeitigt. Münch erkennt
eben die Schwierigkeiten des Erziehungswerkes in solcher Tiefe, daß er nur
schwer und zögernd und mit Vorbehalten an die Aufstellung allgemeingültiger
pädagogischer Regeln herangeht. Und wie auf dem Gebiete der Erziehung,
so anderwärts.

Aus der verstehenden Analyse der Erscheinung erwächst dem Denker natürlich
kritische Stellungnahme; aber sie ist bei Münch im wesentlichen defensiv, selten
offensiv. So ist auch seine Kritik nicht zersetzend, sondern ein überlegener Ein¬
blick in die Bedingungen der gegenteiligen Ansicht. Miene und Tonart des
Vortrags sind auch bei der Ablehnung leidenschaftslos. Gewiß, Münch scheut
sich nicht, die Wahrheit auszusprechen, aber kein flammendes Auge, kein Beben
der Stimme verrät den inneren Anteil. Kaum, daß wir im Geiste seine Mund-


Wilhelm Münch

ein Gebiet herantritt — sei es nun das pädagogische oder irgendein anderes —
der hat die Vorbedingung für alles praktische Handeln. Aber freilich ist neben
dem Verstehen das Wollen die andere Wurzel des richtigen Tuns. Da ist es
für Münch bezeichnend, daß er hie und da wie mit einem Ruck Halt macht,
wo die Grenze der verständnisvollen und verständniswirkenden Analyse und der
praktischen Stellungnahme liegt. Man könnte sagen: das tout comprenärs
ist sein Ziel, die feine geistvolle Analyse seine Domäne, aber eine gewisse Scheu
vor der Aktivität, vor der Offensive durchzieht alle seine Schriften. „Es ist
zwar nicht richtig," sagt er einmal, „daß alles Wirkliche vernünftig sei. Aber
das Gewordene und Bestehende ist niemals von Hause aus so unsinnig, wie
es wohl in dem Augenblicke erscheint, da es geschichtlich von Neuem abgelöst
wird." Aus diesem Wort läßt sich Münchs ganze Stellung gegenüber dem
Weltgeschehen verstehen. An anderer Stelle äußert er sich: „Ob alles zu ver¬
stehen wirklich schon verpflichte, alles zu verzeihen, sei dahingestellt. Aber
wirklich möglichst alles zu verstehen, ehe man verwirft und verurteilt, ehe man
Recht und Schuld nach der einen und der anderen Seite zuerkennt, ist jedenfalls
Pflicht. Eine Pflicht übrigens, die nur wenige sich zumuten und freilich auch
nicht allzuviele übernehmen können."

Diese Anschauung führt Münch natürlich zu vermittelnden Standpunkten
in allen Fragen, die ihn beschäftigt haben. Er ist sich bewußt, daß er berufen
ist, diese Standpunkte des überlegenen Verständnisses einzunehmen: „Natürlich
kommt es darauf an, ob man die Mitte sucht, weil man nicht den Mut hat
oder nicht die Klarheit, sich zu einer Partei zu schlagen, oder weil eine viel¬
umfassende Erfahrung, eine eingehende Kenntnis aller in Betracht kommenden
tatsächlichen wie psychologischen Verhältnisse aus der kampferfüllten Ebene hinweg
auf eine größere Höhe mit weiterem Umblick hat gelangen lassen." Auf diese
Höhe sucht Münch auch seine Leser zu führen. Und mag es ihm dabei auch
manches Mal nicht gelingen, den zu befriedigen, der praktische Anweisungen für
den Werktag aus den Schriften des Pädagogen schöpfen möchte, so wird er
doch jeden ernsten Menschen zum Nachdenken nötigen, ihm zu einer Sonntags¬
stimmung verhelfen, die ihre Früchte auch im Alltag zeitigt. Münch erkennt
eben die Schwierigkeiten des Erziehungswerkes in solcher Tiefe, daß er nur
schwer und zögernd und mit Vorbehalten an die Aufstellung allgemeingültiger
pädagogischer Regeln herangeht. Und wie auf dem Gebiete der Erziehung,
so anderwärts.

Aus der verstehenden Analyse der Erscheinung erwächst dem Denker natürlich
kritische Stellungnahme; aber sie ist bei Münch im wesentlichen defensiv, selten
offensiv. So ist auch seine Kritik nicht zersetzend, sondern ein überlegener Ein¬
blick in die Bedingungen der gegenteiligen Ansicht. Miene und Tonart des
Vortrags sind auch bei der Ablehnung leidenschaftslos. Gewiß, Münch scheut
sich nicht, die Wahrheit auszusprechen, aber kein flammendes Auge, kein Beben
der Stimme verrät den inneren Anteil. Kaum, daß wir im Geiste seine Mund-


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[0548] Wilhelm Münch ein Gebiet herantritt — sei es nun das pädagogische oder irgendein anderes — der hat die Vorbedingung für alles praktische Handeln. Aber freilich ist neben dem Verstehen das Wollen die andere Wurzel des richtigen Tuns. Da ist es für Münch bezeichnend, daß er hie und da wie mit einem Ruck Halt macht, wo die Grenze der verständnisvollen und verständniswirkenden Analyse und der praktischen Stellungnahme liegt. Man könnte sagen: das tout comprenärs ist sein Ziel, die feine geistvolle Analyse seine Domäne, aber eine gewisse Scheu vor der Aktivität, vor der Offensive durchzieht alle seine Schriften. „Es ist zwar nicht richtig," sagt er einmal, „daß alles Wirkliche vernünftig sei. Aber das Gewordene und Bestehende ist niemals von Hause aus so unsinnig, wie es wohl in dem Augenblicke erscheint, da es geschichtlich von Neuem abgelöst wird." Aus diesem Wort läßt sich Münchs ganze Stellung gegenüber dem Weltgeschehen verstehen. An anderer Stelle äußert er sich: „Ob alles zu ver¬ stehen wirklich schon verpflichte, alles zu verzeihen, sei dahingestellt. Aber wirklich möglichst alles zu verstehen, ehe man verwirft und verurteilt, ehe man Recht und Schuld nach der einen und der anderen Seite zuerkennt, ist jedenfalls Pflicht. Eine Pflicht übrigens, die nur wenige sich zumuten und freilich auch nicht allzuviele übernehmen können." Diese Anschauung führt Münch natürlich zu vermittelnden Standpunkten in allen Fragen, die ihn beschäftigt haben. Er ist sich bewußt, daß er berufen ist, diese Standpunkte des überlegenen Verständnisses einzunehmen: „Natürlich kommt es darauf an, ob man die Mitte sucht, weil man nicht den Mut hat oder nicht die Klarheit, sich zu einer Partei zu schlagen, oder weil eine viel¬ umfassende Erfahrung, eine eingehende Kenntnis aller in Betracht kommenden tatsächlichen wie psychologischen Verhältnisse aus der kampferfüllten Ebene hinweg auf eine größere Höhe mit weiterem Umblick hat gelangen lassen." Auf diese Höhe sucht Münch auch seine Leser zu führen. Und mag es ihm dabei auch manches Mal nicht gelingen, den zu befriedigen, der praktische Anweisungen für den Werktag aus den Schriften des Pädagogen schöpfen möchte, so wird er doch jeden ernsten Menschen zum Nachdenken nötigen, ihm zu einer Sonntags¬ stimmung verhelfen, die ihre Früchte auch im Alltag zeitigt. Münch erkennt eben die Schwierigkeiten des Erziehungswerkes in solcher Tiefe, daß er nur schwer und zögernd und mit Vorbehalten an die Aufstellung allgemeingültiger pädagogischer Regeln herangeht. Und wie auf dem Gebiete der Erziehung, so anderwärts. Aus der verstehenden Analyse der Erscheinung erwächst dem Denker natürlich kritische Stellungnahme; aber sie ist bei Münch im wesentlichen defensiv, selten offensiv. So ist auch seine Kritik nicht zersetzend, sondern ein überlegener Ein¬ blick in die Bedingungen der gegenteiligen Ansicht. Miene und Tonart des Vortrags sind auch bei der Ablehnung leidenschaftslos. Gewiß, Münch scheut sich nicht, die Wahrheit auszusprechen, aber kein flammendes Auge, kein Beben der Stimme verrät den inneren Anteil. Kaum, daß wir im Geiste seine Mund-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/548>, abgerufen am 01.07.2024.