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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Wilhelm Münch

Vielleicht dürfen wir in besonderem Maße Wilhelm Münch die Anerkennung
zollen, daß er bis zu seinem Ende den Erscheinungen des ihn umflutenden
Lebens gerecht wurde. Dies gilt nicht nur von seinem Spezialgebiet, dem
Schul- und Erziehungswesen, sondern von allen Gebieten, die wir im engeren
Sinne als Kulturgebiete zu bezeichnen pflegen. Allerdings war Münch Schul¬
mann in erster Linie und im Kern seines Wesens, und alles, was ihm ent¬
gegentrat, maß er -- fast unbewußt -- an seinem Einfluß auf das Gebiet der
Erziehung und Schule. Aber eben daß er diese Verbindungen auch da noch fühlte,
oder vielmehr, daß sein Inneres diese Verbindungen auch da noch herstellte,
wo andere, weniger weitschauende Geister längst keine Beziehungen mehr finden,
das zeigt, wie tief er den Wurzeln der Erziehungsfragen nachspürte. Seine
erzieherischen Prinzipien beruhten auf dem Unterbau einer Weltoffenheit, die
wir bei deutschen Gelehrten seines Zeitalters zu finden fast erstaunt sind. Es
scheint, als habe jede neue Erscheinung auf dem Kulturgebiet, wenigstens jede
neue Färbung des Milieus ihn geradezu genötigt, dazu Stellung zu nehmen,
sie in sich zu verarbeiten, mit seiner bisherigen Erfahrung zu verschmelzen und
das Ergebnis darzustellen. Die geschmackvolle Form seiner Aufsätze ist den
Lesern dieser Zeitschrift, deren Mitarbeiter er seit fünfzehn Jahren war, nicht
fremd. In kürzeren oder längeren Abhandlungen, die Münch in den ver¬
schiedensten pädagogischen, wissenschaftlichen und allgemeinen Zeitschriften ver¬
öffentlichte, hat er offenbar die ihm gemäße Darstellungsform gesucht und
gefunden. Der größte Teil dieser Arbeiten ist gesammelt nochmals erschienen
und füllt eine stattliche Reihe von Bänden, deren Titel den in ihm lebendigen
Zusammenhang zwischen Erziehung und Kulturströmung immer deutlicher dar¬
stellen: "Neue pädagogische Beiträge" 1893, "Vermischte Aufsätze über Unter¬
richtsziele und Unterrichtskunst", 2. Aufl., 1896. "Über Menschenart und
Jugendbildung" 1900, "Aus Welt und Schule" 1904. "Kultur und Erziehung"
1909, und endlich -- wenige Wochen vor seinem Tode abgeschlossen: "Zum
deutschen Kultur- und Bildungsleben" 1912. Weitere Kreise werden Münch
mehr aus diesen geistreichen, auch stilistisch oft hervorragenden Essays kennen,
als aus seinen pädagogischen Hauptwerken: "Geist des Lehramts" 1903,
"Zukunftspädagogik", zweite stark umgearbeitete Auflage, 1908, "Gedanken
über Fürstenerziehung" 1909. Und in der Tat: die Vielseitigkeit der Interessen,
die lebhafte Teilnahme an dem Kulturleben des deutschen Volkes und seinen
Beziehungen zu dem anderer Völker, das geistvolle Urteil in diesen Abhandlungen
sprechen vielleicht alle die mehr an, die nicht gerade von Berufswegen auf
pädagogische Dinge aufmerksam sind.

Psychologisches Feingefühl, also das. was der Erzieher in erster Linie
braucht, ist ein Grundzug in Münchs Wesen. Entschiedener Vertreter des ein¬
fühlenden Begreifens der kindlichen Psyche, kann er in den gegenwärtigen
experimentell - psychologischen Bestrebungen nicht restlose Aufklärung suchen.
Persönliches Verständnis scheint ihm das Erforderliche; wer verständnisvoll an


Wilhelm Münch

Vielleicht dürfen wir in besonderem Maße Wilhelm Münch die Anerkennung
zollen, daß er bis zu seinem Ende den Erscheinungen des ihn umflutenden
Lebens gerecht wurde. Dies gilt nicht nur von seinem Spezialgebiet, dem
Schul- und Erziehungswesen, sondern von allen Gebieten, die wir im engeren
Sinne als Kulturgebiete zu bezeichnen pflegen. Allerdings war Münch Schul¬
mann in erster Linie und im Kern seines Wesens, und alles, was ihm ent¬
gegentrat, maß er — fast unbewußt — an seinem Einfluß auf das Gebiet der
Erziehung und Schule. Aber eben daß er diese Verbindungen auch da noch fühlte,
oder vielmehr, daß sein Inneres diese Verbindungen auch da noch herstellte,
wo andere, weniger weitschauende Geister längst keine Beziehungen mehr finden,
das zeigt, wie tief er den Wurzeln der Erziehungsfragen nachspürte. Seine
erzieherischen Prinzipien beruhten auf dem Unterbau einer Weltoffenheit, die
wir bei deutschen Gelehrten seines Zeitalters zu finden fast erstaunt sind. Es
scheint, als habe jede neue Erscheinung auf dem Kulturgebiet, wenigstens jede
neue Färbung des Milieus ihn geradezu genötigt, dazu Stellung zu nehmen,
sie in sich zu verarbeiten, mit seiner bisherigen Erfahrung zu verschmelzen und
das Ergebnis darzustellen. Die geschmackvolle Form seiner Aufsätze ist den
Lesern dieser Zeitschrift, deren Mitarbeiter er seit fünfzehn Jahren war, nicht
fremd. In kürzeren oder längeren Abhandlungen, die Münch in den ver¬
schiedensten pädagogischen, wissenschaftlichen und allgemeinen Zeitschriften ver¬
öffentlichte, hat er offenbar die ihm gemäße Darstellungsform gesucht und
gefunden. Der größte Teil dieser Arbeiten ist gesammelt nochmals erschienen
und füllt eine stattliche Reihe von Bänden, deren Titel den in ihm lebendigen
Zusammenhang zwischen Erziehung und Kulturströmung immer deutlicher dar¬
stellen: „Neue pädagogische Beiträge" 1893, „Vermischte Aufsätze über Unter¬
richtsziele und Unterrichtskunst", 2. Aufl., 1896. „Über Menschenart und
Jugendbildung" 1900, „Aus Welt und Schule" 1904. „Kultur und Erziehung"
1909, und endlich — wenige Wochen vor seinem Tode abgeschlossen: „Zum
deutschen Kultur- und Bildungsleben" 1912. Weitere Kreise werden Münch
mehr aus diesen geistreichen, auch stilistisch oft hervorragenden Essays kennen,
als aus seinen pädagogischen Hauptwerken: „Geist des Lehramts" 1903,
„Zukunftspädagogik", zweite stark umgearbeitete Auflage, 1908, „Gedanken
über Fürstenerziehung" 1909. Und in der Tat: die Vielseitigkeit der Interessen,
die lebhafte Teilnahme an dem Kulturleben des deutschen Volkes und seinen
Beziehungen zu dem anderer Völker, das geistvolle Urteil in diesen Abhandlungen
sprechen vielleicht alle die mehr an, die nicht gerade von Berufswegen auf
pädagogische Dinge aufmerksam sind.

Psychologisches Feingefühl, also das. was der Erzieher in erster Linie
braucht, ist ein Grundzug in Münchs Wesen. Entschiedener Vertreter des ein¬
fühlenden Begreifens der kindlichen Psyche, kann er in den gegenwärtigen
experimentell - psychologischen Bestrebungen nicht restlose Aufklärung suchen.
Persönliches Verständnis scheint ihm das Erforderliche; wer verständnisvoll an


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[0547] Wilhelm Münch Vielleicht dürfen wir in besonderem Maße Wilhelm Münch die Anerkennung zollen, daß er bis zu seinem Ende den Erscheinungen des ihn umflutenden Lebens gerecht wurde. Dies gilt nicht nur von seinem Spezialgebiet, dem Schul- und Erziehungswesen, sondern von allen Gebieten, die wir im engeren Sinne als Kulturgebiete zu bezeichnen pflegen. Allerdings war Münch Schul¬ mann in erster Linie und im Kern seines Wesens, und alles, was ihm ent¬ gegentrat, maß er — fast unbewußt — an seinem Einfluß auf das Gebiet der Erziehung und Schule. Aber eben daß er diese Verbindungen auch da noch fühlte, oder vielmehr, daß sein Inneres diese Verbindungen auch da noch herstellte, wo andere, weniger weitschauende Geister längst keine Beziehungen mehr finden, das zeigt, wie tief er den Wurzeln der Erziehungsfragen nachspürte. Seine erzieherischen Prinzipien beruhten auf dem Unterbau einer Weltoffenheit, die wir bei deutschen Gelehrten seines Zeitalters zu finden fast erstaunt sind. Es scheint, als habe jede neue Erscheinung auf dem Kulturgebiet, wenigstens jede neue Färbung des Milieus ihn geradezu genötigt, dazu Stellung zu nehmen, sie in sich zu verarbeiten, mit seiner bisherigen Erfahrung zu verschmelzen und das Ergebnis darzustellen. Die geschmackvolle Form seiner Aufsätze ist den Lesern dieser Zeitschrift, deren Mitarbeiter er seit fünfzehn Jahren war, nicht fremd. In kürzeren oder längeren Abhandlungen, die Münch in den ver¬ schiedensten pädagogischen, wissenschaftlichen und allgemeinen Zeitschriften ver¬ öffentlichte, hat er offenbar die ihm gemäße Darstellungsform gesucht und gefunden. Der größte Teil dieser Arbeiten ist gesammelt nochmals erschienen und füllt eine stattliche Reihe von Bänden, deren Titel den in ihm lebendigen Zusammenhang zwischen Erziehung und Kulturströmung immer deutlicher dar¬ stellen: „Neue pädagogische Beiträge" 1893, „Vermischte Aufsätze über Unter¬ richtsziele und Unterrichtskunst", 2. Aufl., 1896. „Über Menschenart und Jugendbildung" 1900, „Aus Welt und Schule" 1904. „Kultur und Erziehung" 1909, und endlich — wenige Wochen vor seinem Tode abgeschlossen: „Zum deutschen Kultur- und Bildungsleben" 1912. Weitere Kreise werden Münch mehr aus diesen geistreichen, auch stilistisch oft hervorragenden Essays kennen, als aus seinen pädagogischen Hauptwerken: „Geist des Lehramts" 1903, „Zukunftspädagogik", zweite stark umgearbeitete Auflage, 1908, „Gedanken über Fürstenerziehung" 1909. Und in der Tat: die Vielseitigkeit der Interessen, die lebhafte Teilnahme an dem Kulturleben des deutschen Volkes und seinen Beziehungen zu dem anderer Völker, das geistvolle Urteil in diesen Abhandlungen sprechen vielleicht alle die mehr an, die nicht gerade von Berufswegen auf pädagogische Dinge aufmerksam sind. Psychologisches Feingefühl, also das. was der Erzieher in erster Linie braucht, ist ein Grundzug in Münchs Wesen. Entschiedener Vertreter des ein¬ fühlenden Begreifens der kindlichen Psyche, kann er in den gegenwärtigen experimentell - psychologischen Bestrebungen nicht restlose Aufklärung suchen. Persönliches Verständnis scheint ihm das Erforderliche; wer verständnisvoll an

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/547>, abgerufen am 01.10.2024.