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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Türkische Richtlinien

treibt beunruhigende Bluffpolitik und Louis in Petersburg braucht eine stetige
Beschwichtigung. Oder: Nußland beklagt sich darüber, daß Frankreich die Türkei
durch Anleihen unterstützt, die zu Rüstungen auch gegen Rußland verwendet
werden sollen.

Frankreich aber hat das größte Kapital in der Türkei investiert und es
braucht für sein Milliardenguthaben eine prosperierende Türkei. Frankreich ist
ja das Land des "Orientprotektorats", seit Napoleon durch sein großzügiges
und weitblickendes Schulgründungssnstem mit Hilfe der geistlichen Kongregationen
den großen kulturpolitischen Einfluß Frankreichs in der Türkei geschaffen hat,
der auch wachsende wirtschaftliche Vorteile Frankreich vermittelt und sichert.
Der Revanchetraum und der Ententeköder haben Frankreich in das Schlepptau
der englischen Politik gelockt, so daß die französische Regierung die Einladung
zur Kapitalbeteiligung an der Bagdadbahn abgelehnt hat. Aber die Vernunft
der Interessen hat doch dazu geführt, daß das französische Privatkapital mit
30 Prozent an der Bagdadbahn partizipiert, mit der schweizerischen Beteiligung
zusammen sogar zu 60 Prozent. Die französischen und türkischen und deutschen
Interessen zeigen das gleiche Ziel einer Konsolidierung der Türkei: der gallische
Hahn ist mit dem preußischen Adler auch im Orient natürlicher und näher
verwandt als mit dem englischen Löwen.

Die Napoleonische Ära, die für Frankreich den Boden im Orient besonders
bereitet hat, ist auch das Geburtsdatum für die Entwicklung der deutsch¬
türkischen Politik. Unter dem Eindruck von sedem hat es der türkische Staats¬
mann Ali Pascha bereits ausgesprochen, daß nun Preußen-Deutschland in
Österreich einen Verbündeten gewinnen wird und daß sich dadurch für die Türkei
ein deutsch-österreichischer Schutz ergeben wird. Deutschlands Verhältnis zur
Türkei zeichnet sich durch eine Besonderheit aus, die keiner anderen Beziehung
eignet. Deutschland ist die einzige orientpolitische Macht, die keine Grenz¬
gemeinschaft mit der Türkei hat und darum auch keine Reibungsschwierigkeit;
ja auch die einzige Macht, die keine mohammedanischen Massen beherrscht.
(Unsere Kolonialinsassen sind nach Zahl und Art nicht ausschlaggebend.) Die
englische Ziffer ist schon genannt worden: gegen 150 Millionen Mohammedaner.
Rußland hat in Europa und in Asien etwa 18 Millionen Mohammedaner.
Frankreich unterwirft in Nord- und Mittelafrika Mohammedaner, auch in
Marokko, und Italien tat sich mohammedanische Lasten in Tripolis auf.
Deutschland bleibt die einzige Macht, die keine mohammedanischen Völker und
Länder vergewaltigt und zwingt. In dieser negativen Formulierung bleibt
das Wort des deutschen Kaisers, das er an Sultan Saladins Grab gesprochen
hat ("Ich will der Freund der dreihundert Millionen Mohammedaner sein"),
bestehen -- trotz Marokko und trotz Tripolis. Diese Tatsache hat selbst der
jungtürkische Saloniker Kongreß konstatieren müssen, wiederum trotz Tripolis.
Darum kann auch der Gedanke bestehen bleiben, den selbst der englische Kolonial¬
politiker Sir Johnston geschaut hat: "Wäre ich ein Deutscher, so würde ich


Türkische Richtlinien

treibt beunruhigende Bluffpolitik und Louis in Petersburg braucht eine stetige
Beschwichtigung. Oder: Nußland beklagt sich darüber, daß Frankreich die Türkei
durch Anleihen unterstützt, die zu Rüstungen auch gegen Rußland verwendet
werden sollen.

Frankreich aber hat das größte Kapital in der Türkei investiert und es
braucht für sein Milliardenguthaben eine prosperierende Türkei. Frankreich ist
ja das Land des „Orientprotektorats", seit Napoleon durch sein großzügiges
und weitblickendes Schulgründungssnstem mit Hilfe der geistlichen Kongregationen
den großen kulturpolitischen Einfluß Frankreichs in der Türkei geschaffen hat,
der auch wachsende wirtschaftliche Vorteile Frankreich vermittelt und sichert.
Der Revanchetraum und der Ententeköder haben Frankreich in das Schlepptau
der englischen Politik gelockt, so daß die französische Regierung die Einladung
zur Kapitalbeteiligung an der Bagdadbahn abgelehnt hat. Aber die Vernunft
der Interessen hat doch dazu geführt, daß das französische Privatkapital mit
30 Prozent an der Bagdadbahn partizipiert, mit der schweizerischen Beteiligung
zusammen sogar zu 60 Prozent. Die französischen und türkischen und deutschen
Interessen zeigen das gleiche Ziel einer Konsolidierung der Türkei: der gallische
Hahn ist mit dem preußischen Adler auch im Orient natürlicher und näher
verwandt als mit dem englischen Löwen.

Die Napoleonische Ära, die für Frankreich den Boden im Orient besonders
bereitet hat, ist auch das Geburtsdatum für die Entwicklung der deutsch¬
türkischen Politik. Unter dem Eindruck von sedem hat es der türkische Staats¬
mann Ali Pascha bereits ausgesprochen, daß nun Preußen-Deutschland in
Österreich einen Verbündeten gewinnen wird und daß sich dadurch für die Türkei
ein deutsch-österreichischer Schutz ergeben wird. Deutschlands Verhältnis zur
Türkei zeichnet sich durch eine Besonderheit aus, die keiner anderen Beziehung
eignet. Deutschland ist die einzige orientpolitische Macht, die keine Grenz¬
gemeinschaft mit der Türkei hat und darum auch keine Reibungsschwierigkeit;
ja auch die einzige Macht, die keine mohammedanischen Massen beherrscht.
(Unsere Kolonialinsassen sind nach Zahl und Art nicht ausschlaggebend.) Die
englische Ziffer ist schon genannt worden: gegen 150 Millionen Mohammedaner.
Rußland hat in Europa und in Asien etwa 18 Millionen Mohammedaner.
Frankreich unterwirft in Nord- und Mittelafrika Mohammedaner, auch in
Marokko, und Italien tat sich mohammedanische Lasten in Tripolis auf.
Deutschland bleibt die einzige Macht, die keine mohammedanischen Völker und
Länder vergewaltigt und zwingt. In dieser negativen Formulierung bleibt
das Wort des deutschen Kaisers, das er an Sultan Saladins Grab gesprochen
hat („Ich will der Freund der dreihundert Millionen Mohammedaner sein"),
bestehen — trotz Marokko und trotz Tripolis. Diese Tatsache hat selbst der
jungtürkische Saloniker Kongreß konstatieren müssen, wiederum trotz Tripolis.
Darum kann auch der Gedanke bestehen bleiben, den selbst der englische Kolonial¬
politiker Sir Johnston geschaut hat: „Wäre ich ein Deutscher, so würde ich


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[0520] Türkische Richtlinien treibt beunruhigende Bluffpolitik und Louis in Petersburg braucht eine stetige Beschwichtigung. Oder: Nußland beklagt sich darüber, daß Frankreich die Türkei durch Anleihen unterstützt, die zu Rüstungen auch gegen Rußland verwendet werden sollen. Frankreich aber hat das größte Kapital in der Türkei investiert und es braucht für sein Milliardenguthaben eine prosperierende Türkei. Frankreich ist ja das Land des „Orientprotektorats", seit Napoleon durch sein großzügiges und weitblickendes Schulgründungssnstem mit Hilfe der geistlichen Kongregationen den großen kulturpolitischen Einfluß Frankreichs in der Türkei geschaffen hat, der auch wachsende wirtschaftliche Vorteile Frankreich vermittelt und sichert. Der Revanchetraum und der Ententeköder haben Frankreich in das Schlepptau der englischen Politik gelockt, so daß die französische Regierung die Einladung zur Kapitalbeteiligung an der Bagdadbahn abgelehnt hat. Aber die Vernunft der Interessen hat doch dazu geführt, daß das französische Privatkapital mit 30 Prozent an der Bagdadbahn partizipiert, mit der schweizerischen Beteiligung zusammen sogar zu 60 Prozent. Die französischen und türkischen und deutschen Interessen zeigen das gleiche Ziel einer Konsolidierung der Türkei: der gallische Hahn ist mit dem preußischen Adler auch im Orient natürlicher und näher verwandt als mit dem englischen Löwen. Die Napoleonische Ära, die für Frankreich den Boden im Orient besonders bereitet hat, ist auch das Geburtsdatum für die Entwicklung der deutsch¬ türkischen Politik. Unter dem Eindruck von sedem hat es der türkische Staats¬ mann Ali Pascha bereits ausgesprochen, daß nun Preußen-Deutschland in Österreich einen Verbündeten gewinnen wird und daß sich dadurch für die Türkei ein deutsch-österreichischer Schutz ergeben wird. Deutschlands Verhältnis zur Türkei zeichnet sich durch eine Besonderheit aus, die keiner anderen Beziehung eignet. Deutschland ist die einzige orientpolitische Macht, die keine Grenz¬ gemeinschaft mit der Türkei hat und darum auch keine Reibungsschwierigkeit; ja auch die einzige Macht, die keine mohammedanischen Massen beherrscht. (Unsere Kolonialinsassen sind nach Zahl und Art nicht ausschlaggebend.) Die englische Ziffer ist schon genannt worden: gegen 150 Millionen Mohammedaner. Rußland hat in Europa und in Asien etwa 18 Millionen Mohammedaner. Frankreich unterwirft in Nord- und Mittelafrika Mohammedaner, auch in Marokko, und Italien tat sich mohammedanische Lasten in Tripolis auf. Deutschland bleibt die einzige Macht, die keine mohammedanischen Völker und Länder vergewaltigt und zwingt. In dieser negativen Formulierung bleibt das Wort des deutschen Kaisers, das er an Sultan Saladins Grab gesprochen hat („Ich will der Freund der dreihundert Millionen Mohammedaner sein"), bestehen — trotz Marokko und trotz Tripolis. Diese Tatsache hat selbst der jungtürkische Saloniker Kongreß konstatieren müssen, wiederum trotz Tripolis. Darum kann auch der Gedanke bestehen bleiben, den selbst der englische Kolonial¬ politiker Sir Johnston geschaut hat: „Wäre ich ein Deutscher, so würde ich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/520>, abgerufen am 01.07.2024.