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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Türkische Richtlinien

Wie die Jnteressenlogik muß die Türkei davon überzeugen, daß ein Bund mit
England eine echte 8vLieta8 leonina bedeutet, in welcher England wirklich einen
Löwenanteil verschlingen würde.

So wie der englische Löwe südlich und westlich der Türkei lauert, so drückt
der russische Bär nördlich und östlich von altersher. Zwar, das Testament
Peters des Großen, das den Halbmond auf der Hagia Sofia durch das Kreuz
hat ersetzen wollen, ruht still als verstaubtes Aktenstück und hofft wohl selbst
kaum auf eine Erfüllung. Aber seine traditionelle "Erbfeindschaft" hat da?
nachbarliche Nußland doch auch dem Sultan Abdul Hamid gegenüber bewiesen
und betätigt. Nußland hat die Intrigen- und Jnterventionspolitik Englands
gegen die Bagdadbahn mitgemacht -- bis Potsdam; darüber später. Und
Rußland hat die Ausdehnung der Anatolischen Bahn über Angora nach Erzerum
an die russische Grenze heran und nach Samsun an das Schwarze Meer hin
dem allen Regime versagt durch einen Vertrag, dem sich die junge Türkei jetzt
dadurch entzieht, daß sie diese strategisch wichtigen Bahnen keinem fremden
Konzessionär übergibt, sondern in eigner Regie ausführt. Doch Rußland will
jetzt die Übergangszeit der Türkei und ihre Bindung durch den Krieg diplomatisch
ausbeuten, um an der türkischen Ostgrenze zwischen dem Schwarzen Meer und
dem Kaspischen Meer seine Position zu sichern und zu stärken, um die Türkei vom
Urmiasee wegzudrängen und um selbst mit breiterer Front nach Persien vor¬
zudringen -- eine Taktik, die gleichfalls die militärischen und organisatorischen
Unterlassungssünden der Hamidschen Ära jetzt noch Rußland erleichtern. Immerhin
weiß man an zuständiger Stelle, daß auch die russische Rüstung zurzeit für
einen Krieg nicht ausreicht: weder sind seit dem russisch-japanischen Kriege die
notwendigen Bestände zu Lande ergänzt worden, noch besitzen die alten Kähne
der Schwarzen-Meer-Flotte einen besonders gefährlichen Gefechtswert. Darum
fehlt auch den bulgarischen, serbischen und montenegrinischen Vorposten Rußlands
auf dem Balkan jede ernsthaft aggressive Aktivität. Die russische Dardanellen¬
forderung wird aus den gleichen Erwägungen als diplomatische Bluffpolitik
gewertet. Das russische Verlangen nach einer Öffnung der Dardanellen ist aber
auch geeignet, die Divergenz der russischen und der englischen Interessen --
trotz aller Entente -- anzudeuten: so wenig England durch eine russische Flotte
im Mittelmeer seine Seeherrschaft schwächen lassen will, so viel liegt Rußland
daran, aus dem Käfig des Schwarzen Meeres herauszukommen. Wohl null
eine "Demarkationslinie" auch im Osten, in Persien, dem russischen Bären und
dem englischen Löwen vorher vereinbarte Bissen zuweisen; aber England lugt
doch argwöhnisch hinüber und beobachtet ängstlich, wie Rußland zum Wasser
des Persischen Golfes hinabschleicht -- auf der persisch-russischen AnschlußKme
der deutsch-türkischen Bagdadbahn: Teheran--Hannekin--Bagdad--Basra --
durch ein Tor, das Deutschland im Potsdamer Vertrag Nußland geöffnet hat.
Auch die russisch-französische Sentnnents-Entente wird im Orient durch die wider¬
streitenden Linien verschiedener realer Interessen gestört: Jswolski in Paris


Türkische Richtlinien

Wie die Jnteressenlogik muß die Türkei davon überzeugen, daß ein Bund mit
England eine echte 8vLieta8 leonina bedeutet, in welcher England wirklich einen
Löwenanteil verschlingen würde.

So wie der englische Löwe südlich und westlich der Türkei lauert, so drückt
der russische Bär nördlich und östlich von altersher. Zwar, das Testament
Peters des Großen, das den Halbmond auf der Hagia Sofia durch das Kreuz
hat ersetzen wollen, ruht still als verstaubtes Aktenstück und hofft wohl selbst
kaum auf eine Erfüllung. Aber seine traditionelle „Erbfeindschaft" hat da?
nachbarliche Nußland doch auch dem Sultan Abdul Hamid gegenüber bewiesen
und betätigt. Nußland hat die Intrigen- und Jnterventionspolitik Englands
gegen die Bagdadbahn mitgemacht — bis Potsdam; darüber später. Und
Rußland hat die Ausdehnung der Anatolischen Bahn über Angora nach Erzerum
an die russische Grenze heran und nach Samsun an das Schwarze Meer hin
dem allen Regime versagt durch einen Vertrag, dem sich die junge Türkei jetzt
dadurch entzieht, daß sie diese strategisch wichtigen Bahnen keinem fremden
Konzessionär übergibt, sondern in eigner Regie ausführt. Doch Rußland will
jetzt die Übergangszeit der Türkei und ihre Bindung durch den Krieg diplomatisch
ausbeuten, um an der türkischen Ostgrenze zwischen dem Schwarzen Meer und
dem Kaspischen Meer seine Position zu sichern und zu stärken, um die Türkei vom
Urmiasee wegzudrängen und um selbst mit breiterer Front nach Persien vor¬
zudringen — eine Taktik, die gleichfalls die militärischen und organisatorischen
Unterlassungssünden der Hamidschen Ära jetzt noch Rußland erleichtern. Immerhin
weiß man an zuständiger Stelle, daß auch die russische Rüstung zurzeit für
einen Krieg nicht ausreicht: weder sind seit dem russisch-japanischen Kriege die
notwendigen Bestände zu Lande ergänzt worden, noch besitzen die alten Kähne
der Schwarzen-Meer-Flotte einen besonders gefährlichen Gefechtswert. Darum
fehlt auch den bulgarischen, serbischen und montenegrinischen Vorposten Rußlands
auf dem Balkan jede ernsthaft aggressive Aktivität. Die russische Dardanellen¬
forderung wird aus den gleichen Erwägungen als diplomatische Bluffpolitik
gewertet. Das russische Verlangen nach einer Öffnung der Dardanellen ist aber
auch geeignet, die Divergenz der russischen und der englischen Interessen —
trotz aller Entente — anzudeuten: so wenig England durch eine russische Flotte
im Mittelmeer seine Seeherrschaft schwächen lassen will, so viel liegt Rußland
daran, aus dem Käfig des Schwarzen Meeres herauszukommen. Wohl null
eine „Demarkationslinie" auch im Osten, in Persien, dem russischen Bären und
dem englischen Löwen vorher vereinbarte Bissen zuweisen; aber England lugt
doch argwöhnisch hinüber und beobachtet ängstlich, wie Rußland zum Wasser
des Persischen Golfes hinabschleicht — auf der persisch-russischen AnschlußKme
der deutsch-türkischen Bagdadbahn: Teheran—Hannekin—Bagdad—Basra —
durch ein Tor, das Deutschland im Potsdamer Vertrag Nußland geöffnet hat.
Auch die russisch-französische Sentnnents-Entente wird im Orient durch die wider¬
streitenden Linien verschiedener realer Interessen gestört: Jswolski in Paris


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[0519] Türkische Richtlinien Wie die Jnteressenlogik muß die Türkei davon überzeugen, daß ein Bund mit England eine echte 8vLieta8 leonina bedeutet, in welcher England wirklich einen Löwenanteil verschlingen würde. So wie der englische Löwe südlich und westlich der Türkei lauert, so drückt der russische Bär nördlich und östlich von altersher. Zwar, das Testament Peters des Großen, das den Halbmond auf der Hagia Sofia durch das Kreuz hat ersetzen wollen, ruht still als verstaubtes Aktenstück und hofft wohl selbst kaum auf eine Erfüllung. Aber seine traditionelle „Erbfeindschaft" hat da? nachbarliche Nußland doch auch dem Sultan Abdul Hamid gegenüber bewiesen und betätigt. Nußland hat die Intrigen- und Jnterventionspolitik Englands gegen die Bagdadbahn mitgemacht — bis Potsdam; darüber später. Und Rußland hat die Ausdehnung der Anatolischen Bahn über Angora nach Erzerum an die russische Grenze heran und nach Samsun an das Schwarze Meer hin dem allen Regime versagt durch einen Vertrag, dem sich die junge Türkei jetzt dadurch entzieht, daß sie diese strategisch wichtigen Bahnen keinem fremden Konzessionär übergibt, sondern in eigner Regie ausführt. Doch Rußland will jetzt die Übergangszeit der Türkei und ihre Bindung durch den Krieg diplomatisch ausbeuten, um an der türkischen Ostgrenze zwischen dem Schwarzen Meer und dem Kaspischen Meer seine Position zu sichern und zu stärken, um die Türkei vom Urmiasee wegzudrängen und um selbst mit breiterer Front nach Persien vor¬ zudringen — eine Taktik, die gleichfalls die militärischen und organisatorischen Unterlassungssünden der Hamidschen Ära jetzt noch Rußland erleichtern. Immerhin weiß man an zuständiger Stelle, daß auch die russische Rüstung zurzeit für einen Krieg nicht ausreicht: weder sind seit dem russisch-japanischen Kriege die notwendigen Bestände zu Lande ergänzt worden, noch besitzen die alten Kähne der Schwarzen-Meer-Flotte einen besonders gefährlichen Gefechtswert. Darum fehlt auch den bulgarischen, serbischen und montenegrinischen Vorposten Rußlands auf dem Balkan jede ernsthaft aggressive Aktivität. Die russische Dardanellen¬ forderung wird aus den gleichen Erwägungen als diplomatische Bluffpolitik gewertet. Das russische Verlangen nach einer Öffnung der Dardanellen ist aber auch geeignet, die Divergenz der russischen und der englischen Interessen — trotz aller Entente — anzudeuten: so wenig England durch eine russische Flotte im Mittelmeer seine Seeherrschaft schwächen lassen will, so viel liegt Rußland daran, aus dem Käfig des Schwarzen Meeres herauszukommen. Wohl null eine „Demarkationslinie" auch im Osten, in Persien, dem russischen Bären und dem englischen Löwen vorher vereinbarte Bissen zuweisen; aber England lugt doch argwöhnisch hinüber und beobachtet ängstlich, wie Rußland zum Wasser des Persischen Golfes hinabschleicht — auf der persisch-russischen AnschlußKme der deutsch-türkischen Bagdadbahn: Teheran—Hannekin—Bagdad—Basra — durch ein Tor, das Deutschland im Potsdamer Vertrag Nußland geöffnet hat. Auch die russisch-französische Sentnnents-Entente wird im Orient durch die wider¬ streitenden Linien verschiedener realer Interessen gestört: Jswolski in Paris

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/519>, abgerufen am 03.07.2024.