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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Türkische Richtlinien

auf eine Entfernung von wenigen Tagen zusammengerückt sein. Geradeso strebt die
Hedschasbahn nach Mekka, um Konstantinopels leitenden Kopf und des Islams
heiliges Herz durch einen lebensvollen Nerv zu verbinden. Schon hat der
Tripoliskrieg zwischen Türken und Arabern eine Gesinnungs- und Kampfes-
gemeinschaft geschaffen, die jeden verblüffen kann, der den arabischen Kultur¬
hochmut gegenüber dem türkischen Eroberer kennt, und die gerade auch das
größte Hindernis für einen türkischen Verzicht auf das arabische Tripolis bilden
muß. Auch darüber hinaus hat die Kriegsgefahr langsam, aber sicher alle
Nationen um das Banner der Osmanen geschart: das gemeinsame Vaterland
siegt jetzt über den trennenden Partikularismus der Parteien und der Völker.
Das "Komitee für Einheit und Fortschritt" hat keinerlei Opposition mehr im
Parlament und macht seinem programmatischen Namen zurzeit Ehre. Diese
einigende Wirkung des Krieges flutet selbst über die türkischen Reichsgrenzen
hinaus und erfaßt mohammedanische Glaubensgenossen in Ägypten hüben wie
in Indien drüben: von da und von dort wie selbst aus dem fernen China
strömen Kriegsgelder, besonders Sammelbeiträge für den Bau einer Flotte in
Konstantinopel zusammen. Weit in die mohammedanische Welt und in ihren
ergebenen Fatalismus hinein dämmert mit wachsender Klarheit und zündet mit
anfeuernder Kraft jetzt der Gedanke, daß die Türkei noch die einzige Organisation
politischer Selbständigkeit uuter den bisherigen mohammedanischen Staaten ver¬
körpert. Einer erstarkenden Türkei wird die Anziehungskraft des größeren
Körpers so sicher zugute kommen wie das Gravitationsgesetz. Das sind aber
Tendenzen, die an die größte mohammedanische Macht der Welt stoßen und sie
stören: England.

Man mag sich die Ziffern in die Erinnerung zurückrufen: die Türkei zählt
etwa 20 Millionen Mohammedaner, England aber gegen 150 Millionen! Der
Zentripetalen Wirkung der deutschen Bahnen in der Türkei hat England die
zentrifugalen Versuche englischer Pläne gegenübergestellt -- so hartnäckig wie
bisher erfolglos. Der türkisch-deutschen Bagdadbahn, die -- wie gesagt --
das mesopotamische Gebiet wirtschaftlich und politisch nach Konstantinopel hin
Zentralisiert und sichert, will das Projekt einer englischen Bagdadbahn Kon¬
kurrenz machen die von Bagdad über Homs hinüber an die syrische Küste
führen sollte -- in den Bereich des englischen Cypern. Billiger und rascher
als die türkisch-deutsche Peripherie wäre solch ein englisches Segment zu bauen
^ aber eben der Segmentcharakter warnt die Türkei: solch ein türkischer Kreis¬
ausschnitt zwischen englischen Grenzpunkten würde einmal auch einen politischen
Ausschnitt vorbereiten oder bedeuten können. Das Gleiche gilt für das eng-
Usche Projekt einer anderen Bahn, die ebenso die türkisch-arabische Einheit
durchkreuzen würde: von Suez nach Basra hinüber und durch Persien und
Belutschistan hindurch nach Indien hinein. Darum hat die Bagdadbahngesell¬
schaft auch gut daran getan, die einst englische Stichbahn Mersina-Adana --
wieder von Cyperns Nachbarschaft aus und wieder mit centrifugaler, segment-


Türkische Richtlinien

auf eine Entfernung von wenigen Tagen zusammengerückt sein. Geradeso strebt die
Hedschasbahn nach Mekka, um Konstantinopels leitenden Kopf und des Islams
heiliges Herz durch einen lebensvollen Nerv zu verbinden. Schon hat der
Tripoliskrieg zwischen Türken und Arabern eine Gesinnungs- und Kampfes-
gemeinschaft geschaffen, die jeden verblüffen kann, der den arabischen Kultur¬
hochmut gegenüber dem türkischen Eroberer kennt, und die gerade auch das
größte Hindernis für einen türkischen Verzicht auf das arabische Tripolis bilden
muß. Auch darüber hinaus hat die Kriegsgefahr langsam, aber sicher alle
Nationen um das Banner der Osmanen geschart: das gemeinsame Vaterland
siegt jetzt über den trennenden Partikularismus der Parteien und der Völker.
Das „Komitee für Einheit und Fortschritt" hat keinerlei Opposition mehr im
Parlament und macht seinem programmatischen Namen zurzeit Ehre. Diese
einigende Wirkung des Krieges flutet selbst über die türkischen Reichsgrenzen
hinaus und erfaßt mohammedanische Glaubensgenossen in Ägypten hüben wie
in Indien drüben: von da und von dort wie selbst aus dem fernen China
strömen Kriegsgelder, besonders Sammelbeiträge für den Bau einer Flotte in
Konstantinopel zusammen. Weit in die mohammedanische Welt und in ihren
ergebenen Fatalismus hinein dämmert mit wachsender Klarheit und zündet mit
anfeuernder Kraft jetzt der Gedanke, daß die Türkei noch die einzige Organisation
politischer Selbständigkeit uuter den bisherigen mohammedanischen Staaten ver¬
körpert. Einer erstarkenden Türkei wird die Anziehungskraft des größeren
Körpers so sicher zugute kommen wie das Gravitationsgesetz. Das sind aber
Tendenzen, die an die größte mohammedanische Macht der Welt stoßen und sie
stören: England.

Man mag sich die Ziffern in die Erinnerung zurückrufen: die Türkei zählt
etwa 20 Millionen Mohammedaner, England aber gegen 150 Millionen! Der
Zentripetalen Wirkung der deutschen Bahnen in der Türkei hat England die
zentrifugalen Versuche englischer Pläne gegenübergestellt — so hartnäckig wie
bisher erfolglos. Der türkisch-deutschen Bagdadbahn, die — wie gesagt —
das mesopotamische Gebiet wirtschaftlich und politisch nach Konstantinopel hin
Zentralisiert und sichert, will das Projekt einer englischen Bagdadbahn Kon¬
kurrenz machen die von Bagdad über Homs hinüber an die syrische Küste
führen sollte — in den Bereich des englischen Cypern. Billiger und rascher
als die türkisch-deutsche Peripherie wäre solch ein englisches Segment zu bauen
^ aber eben der Segmentcharakter warnt die Türkei: solch ein türkischer Kreis¬
ausschnitt zwischen englischen Grenzpunkten würde einmal auch einen politischen
Ausschnitt vorbereiten oder bedeuten können. Das Gleiche gilt für das eng-
Usche Projekt einer anderen Bahn, die ebenso die türkisch-arabische Einheit
durchkreuzen würde: von Suez nach Basra hinüber und durch Persien und
Belutschistan hindurch nach Indien hinein. Darum hat die Bagdadbahngesell¬
schaft auch gut daran getan, die einst englische Stichbahn Mersina-Adana —
wieder von Cyperns Nachbarschaft aus und wieder mit centrifugaler, segment-


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[0517] Türkische Richtlinien auf eine Entfernung von wenigen Tagen zusammengerückt sein. Geradeso strebt die Hedschasbahn nach Mekka, um Konstantinopels leitenden Kopf und des Islams heiliges Herz durch einen lebensvollen Nerv zu verbinden. Schon hat der Tripoliskrieg zwischen Türken und Arabern eine Gesinnungs- und Kampfes- gemeinschaft geschaffen, die jeden verblüffen kann, der den arabischen Kultur¬ hochmut gegenüber dem türkischen Eroberer kennt, und die gerade auch das größte Hindernis für einen türkischen Verzicht auf das arabische Tripolis bilden muß. Auch darüber hinaus hat die Kriegsgefahr langsam, aber sicher alle Nationen um das Banner der Osmanen geschart: das gemeinsame Vaterland siegt jetzt über den trennenden Partikularismus der Parteien und der Völker. Das „Komitee für Einheit und Fortschritt" hat keinerlei Opposition mehr im Parlament und macht seinem programmatischen Namen zurzeit Ehre. Diese einigende Wirkung des Krieges flutet selbst über die türkischen Reichsgrenzen hinaus und erfaßt mohammedanische Glaubensgenossen in Ägypten hüben wie in Indien drüben: von da und von dort wie selbst aus dem fernen China strömen Kriegsgelder, besonders Sammelbeiträge für den Bau einer Flotte in Konstantinopel zusammen. Weit in die mohammedanische Welt und in ihren ergebenen Fatalismus hinein dämmert mit wachsender Klarheit und zündet mit anfeuernder Kraft jetzt der Gedanke, daß die Türkei noch die einzige Organisation politischer Selbständigkeit uuter den bisherigen mohammedanischen Staaten ver¬ körpert. Einer erstarkenden Türkei wird die Anziehungskraft des größeren Körpers so sicher zugute kommen wie das Gravitationsgesetz. Das sind aber Tendenzen, die an die größte mohammedanische Macht der Welt stoßen und sie stören: England. Man mag sich die Ziffern in die Erinnerung zurückrufen: die Türkei zählt etwa 20 Millionen Mohammedaner, England aber gegen 150 Millionen! Der Zentripetalen Wirkung der deutschen Bahnen in der Türkei hat England die zentrifugalen Versuche englischer Pläne gegenübergestellt — so hartnäckig wie bisher erfolglos. Der türkisch-deutschen Bagdadbahn, die — wie gesagt — das mesopotamische Gebiet wirtschaftlich und politisch nach Konstantinopel hin Zentralisiert und sichert, will das Projekt einer englischen Bagdadbahn Kon¬ kurrenz machen die von Bagdad über Homs hinüber an die syrische Küste führen sollte — in den Bereich des englischen Cypern. Billiger und rascher als die türkisch-deutsche Peripherie wäre solch ein englisches Segment zu bauen ^ aber eben der Segmentcharakter warnt die Türkei: solch ein türkischer Kreis¬ ausschnitt zwischen englischen Grenzpunkten würde einmal auch einen politischen Ausschnitt vorbereiten oder bedeuten können. Das Gleiche gilt für das eng- Usche Projekt einer anderen Bahn, die ebenso die türkisch-arabische Einheit durchkreuzen würde: von Suez nach Basra hinüber und durch Persien und Belutschistan hindurch nach Indien hinein. Darum hat die Bagdadbahngesell¬ schaft auch gut daran getan, die einst englische Stichbahn Mersina-Adana — wieder von Cyperns Nachbarschaft aus und wieder mit centrifugaler, segment-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/517>, abgerufen am 23.07.2024.