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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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China, Rußland und Europa

Das Projekt gründet sich auf den durchaus einleuchtenden Satz: eine Eisen¬
bahn, die rentabel sein soll, darf ihr rollendes Material nicht leer
laufen lassen, muß also Hin- und Rückfracht haben; solches ist aber
nur möglich, wenn sie Gebiete verbindet, zwischen denen ein Güter¬
austausch von der Größe möglich ist, der dem für den Bahnbau
aufgewendeten Kapital entspricht.

Wahrlich ein einfacher Gedanke! So schön aber und so sehr durchzogen
von ideellen Ausblicken, daß man fürchten muß, er sei angesichts der mensch¬
lichen Schwächen und des menschlichen Eigennutzes undurchführbar.

Immerhin sei es versucht, die Bedeutsamkeit des Problems und die sich
aus seiner Durchführung ergebenden Möglichkeiten aufzudecken.

Nach den mir bekannt gewordenen Vorschlägen soll die neue Eisenbahn, was
Schnelligkeit, Bequemlichkeit und Exaktheit der Beförderung anbetrifft, den größten
Ansprüchen Westeuropas genügen; ferner soll sie mit allen Hilfsmitteln der
Technik ausgerüstet sein, um die schnellste Beförderung der umfangreichsten
Massengüter zu gewährleisten.

Die Streckenführung soll auf möglichst grader Linie von Moskau nach
Semipalatins! (3450 Kilometer) erfolgen, und sich von dort aus den Gebirgs-
zügen des Altai, den Eigentümlichkeiten der südlichen Mongolei und der
chinesischen Gebirge anpassend, nach weiteren 3500 Kilometern Peking zuwenden.
Von der chinesischen Regierung erwartet man, daß sie die Forderung aufstellt,
die seit kurzem eröffnete Strecke Peking--Kalgan in die Linienführung auf¬
zunehmen, während von russischer Seite dahin gewirkt werden dürfte, die Linie
Moskau--Ssaratow einzuschließen. Die privaten Förderer des Gedankens
Moskau--Peking stehen einer solchen Möglichkeit nur mit gemischten Gefühlen
gegenüber: wenn auch die Hineinziehung bereits bestehender Bahnstrecken einige
Vorteile zu haben scheint, etwa die Verringerung des Kapitalaufwaudes, so soll
man diese nicht überschätzen. Die in Frage kommenden Bahnen sind nämlich
so minderwertig eingerichtet, daß es erheblicher Aufwendungen bedürfte, um sie
auf die gewünschte höchste Höhe der Leistungsfähigkeit zu bringen, und dann
bedeutet ihre Einfügung in jedem Falle eine Verlängerung der Fahrt und
somit auch eine Verteuerung für die Durchgangstransporte, die aber sind es,
auf deren Hereinziehung der größte Wert gelegt werden mußte, sofern die Bahn
die ihr zugedachte weltpolitische und kulturelle Bedeutung haben soll.

Die russische Strecke, wie sie einstweilen gedacht ist, würde von Moskau
in ostsüdöstlicher Richtung durch den nördlichsten Teil des getreide- und industrie¬
reichen Gouvernements Rjäsan gehen, dann durch die waldreichen, im übrigen
ebenso beschaffenen südlichen Kreise von Wladimir und Nischni-Nowgorod, also
auf einer Strecke von 500 Kilometern die am dichtest bevölkerten Teile Rußlands
durchqueren, alsdann die schwarze Erde des Gouvernements Ssimbirsk durch¬
schneiden, bei der Stadt Ssimbirsk selbst die Wolga überschreiten und weiter
durch das viehreiche Land der Mordwinen und Tschuwaschen, durch die Basch-


China, Rußland und Europa

Das Projekt gründet sich auf den durchaus einleuchtenden Satz: eine Eisen¬
bahn, die rentabel sein soll, darf ihr rollendes Material nicht leer
laufen lassen, muß also Hin- und Rückfracht haben; solches ist aber
nur möglich, wenn sie Gebiete verbindet, zwischen denen ein Güter¬
austausch von der Größe möglich ist, der dem für den Bahnbau
aufgewendeten Kapital entspricht.

Wahrlich ein einfacher Gedanke! So schön aber und so sehr durchzogen
von ideellen Ausblicken, daß man fürchten muß, er sei angesichts der mensch¬
lichen Schwächen und des menschlichen Eigennutzes undurchführbar.

Immerhin sei es versucht, die Bedeutsamkeit des Problems und die sich
aus seiner Durchführung ergebenden Möglichkeiten aufzudecken.

Nach den mir bekannt gewordenen Vorschlägen soll die neue Eisenbahn, was
Schnelligkeit, Bequemlichkeit und Exaktheit der Beförderung anbetrifft, den größten
Ansprüchen Westeuropas genügen; ferner soll sie mit allen Hilfsmitteln der
Technik ausgerüstet sein, um die schnellste Beförderung der umfangreichsten
Massengüter zu gewährleisten.

Die Streckenführung soll auf möglichst grader Linie von Moskau nach
Semipalatins! (3450 Kilometer) erfolgen, und sich von dort aus den Gebirgs-
zügen des Altai, den Eigentümlichkeiten der südlichen Mongolei und der
chinesischen Gebirge anpassend, nach weiteren 3500 Kilometern Peking zuwenden.
Von der chinesischen Regierung erwartet man, daß sie die Forderung aufstellt,
die seit kurzem eröffnete Strecke Peking—Kalgan in die Linienführung auf¬
zunehmen, während von russischer Seite dahin gewirkt werden dürfte, die Linie
Moskau—Ssaratow einzuschließen. Die privaten Förderer des Gedankens
Moskau—Peking stehen einer solchen Möglichkeit nur mit gemischten Gefühlen
gegenüber: wenn auch die Hineinziehung bereits bestehender Bahnstrecken einige
Vorteile zu haben scheint, etwa die Verringerung des Kapitalaufwaudes, so soll
man diese nicht überschätzen. Die in Frage kommenden Bahnen sind nämlich
so minderwertig eingerichtet, daß es erheblicher Aufwendungen bedürfte, um sie
auf die gewünschte höchste Höhe der Leistungsfähigkeit zu bringen, und dann
bedeutet ihre Einfügung in jedem Falle eine Verlängerung der Fahrt und
somit auch eine Verteuerung für die Durchgangstransporte, die aber sind es,
auf deren Hereinziehung der größte Wert gelegt werden mußte, sofern die Bahn
die ihr zugedachte weltpolitische und kulturelle Bedeutung haben soll.

Die russische Strecke, wie sie einstweilen gedacht ist, würde von Moskau
in ostsüdöstlicher Richtung durch den nördlichsten Teil des getreide- und industrie¬
reichen Gouvernements Rjäsan gehen, dann durch die waldreichen, im übrigen
ebenso beschaffenen südlichen Kreise von Wladimir und Nischni-Nowgorod, also
auf einer Strecke von 500 Kilometern die am dichtest bevölkerten Teile Rußlands
durchqueren, alsdann die schwarze Erde des Gouvernements Ssimbirsk durch¬
schneiden, bei der Stadt Ssimbirsk selbst die Wolga überschreiten und weiter
durch das viehreiche Land der Mordwinen und Tschuwaschen, durch die Basch-


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[0468] China, Rußland und Europa Das Projekt gründet sich auf den durchaus einleuchtenden Satz: eine Eisen¬ bahn, die rentabel sein soll, darf ihr rollendes Material nicht leer laufen lassen, muß also Hin- und Rückfracht haben; solches ist aber nur möglich, wenn sie Gebiete verbindet, zwischen denen ein Güter¬ austausch von der Größe möglich ist, der dem für den Bahnbau aufgewendeten Kapital entspricht. Wahrlich ein einfacher Gedanke! So schön aber und so sehr durchzogen von ideellen Ausblicken, daß man fürchten muß, er sei angesichts der mensch¬ lichen Schwächen und des menschlichen Eigennutzes undurchführbar. Immerhin sei es versucht, die Bedeutsamkeit des Problems und die sich aus seiner Durchführung ergebenden Möglichkeiten aufzudecken. Nach den mir bekannt gewordenen Vorschlägen soll die neue Eisenbahn, was Schnelligkeit, Bequemlichkeit und Exaktheit der Beförderung anbetrifft, den größten Ansprüchen Westeuropas genügen; ferner soll sie mit allen Hilfsmitteln der Technik ausgerüstet sein, um die schnellste Beförderung der umfangreichsten Massengüter zu gewährleisten. Die Streckenführung soll auf möglichst grader Linie von Moskau nach Semipalatins! (3450 Kilometer) erfolgen, und sich von dort aus den Gebirgs- zügen des Altai, den Eigentümlichkeiten der südlichen Mongolei und der chinesischen Gebirge anpassend, nach weiteren 3500 Kilometern Peking zuwenden. Von der chinesischen Regierung erwartet man, daß sie die Forderung aufstellt, die seit kurzem eröffnete Strecke Peking—Kalgan in die Linienführung auf¬ zunehmen, während von russischer Seite dahin gewirkt werden dürfte, die Linie Moskau—Ssaratow einzuschließen. Die privaten Förderer des Gedankens Moskau—Peking stehen einer solchen Möglichkeit nur mit gemischten Gefühlen gegenüber: wenn auch die Hineinziehung bereits bestehender Bahnstrecken einige Vorteile zu haben scheint, etwa die Verringerung des Kapitalaufwaudes, so soll man diese nicht überschätzen. Die in Frage kommenden Bahnen sind nämlich so minderwertig eingerichtet, daß es erheblicher Aufwendungen bedürfte, um sie auf die gewünschte höchste Höhe der Leistungsfähigkeit zu bringen, und dann bedeutet ihre Einfügung in jedem Falle eine Verlängerung der Fahrt und somit auch eine Verteuerung für die Durchgangstransporte, die aber sind es, auf deren Hereinziehung der größte Wert gelegt werden mußte, sofern die Bahn die ihr zugedachte weltpolitische und kulturelle Bedeutung haben soll. Die russische Strecke, wie sie einstweilen gedacht ist, würde von Moskau in ostsüdöstlicher Richtung durch den nördlichsten Teil des getreide- und industrie¬ reichen Gouvernements Rjäsan gehen, dann durch die waldreichen, im übrigen ebenso beschaffenen südlichen Kreise von Wladimir und Nischni-Nowgorod, also auf einer Strecke von 500 Kilometern die am dichtest bevölkerten Teile Rußlands durchqueren, alsdann die schwarze Erde des Gouvernements Ssimbirsk durch¬ schneiden, bei der Stadt Ssimbirsk selbst die Wolga überschreiten und weiter durch das viehreiche Land der Mordwinen und Tschuwaschen, durch die Basch-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/468>, abgerufen am 25.08.2024.