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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Lhina, Rußland und Europa

Bauern zur Verfügung hält. Soweit die Wirksamkeit der transsibirischen Bahn
reicht, sind, wenn auch unter recht erheblichen Opfern, Erfolge erzielt worden.
Aber sie bedeuten Tropfen ini Meer gegenüber den ungeheuren Anforderungen,
die gestellt werden müssen. Die russischen Bemühungen werden vor allem beein¬
trächtigt durch die riesigen Entfernungen, die die bedrohten Gebiete vom russischen
Stammlande trennen. Sie bedeuten im Zeitalter des Verkehrs um so größere
Hindernisse für jede Entwicklung, je weniger sie selbst mit Verkehrsmitteln
ausgerüstet sind und je loser ihre Verbindung mit den benachbarten Verkehrs¬
netzen ist. Dieser Mangel zwingt die Regierung, an dem alten kostspieligen
Verfahren militärischer Kolonisation festzuhalten, doppelt unfruchtbar in heutiger
Zeit, als es die für Wegebau erforderlichen Mittel verschlingt und somit ein
wahres Hemmnis für eine Kolonisation nach modernen Gesichtspunkten bildet.
Von den sonstigen Nachteilen jeder militärischen Okkupation, wie übermäßig
starkes Vordrängen militärischer Gesichtspunkte zum Nachteil gewerblicher, sozialer,
rechtlicher und kultureller braucht nicht gesprochen zu werden.

Diese Beobachtungen haben in der russischen Regierung schon seit mehr als
einem Jahrzehnt die Frage immer wieder auftauchen lassen, wie die Kolonisation
und Ansiedlung russischer Bauern in Sibirien wirtschaftlicher und politisch wirk¬
samer durchgeführt werden könnte. Jetzt scheint man sich zu der Überzeugung
durchgerungen zu haben, daß dies nur dann erreicht werden könnte, wenn
Rußland seine Kolonien mit der Heimat durch gute Eisenbahnen verbindet. Und
so sind denn auch die führenden russischen Blätter voll von Projekten über die
Verlängerung der russischen Bahnen über die Wolga hinaus, über den Ausbau
der sibirischen Eisenbahn, über die Anlagen von Zweigbahnen usw. Alle solche
Projekte sind indessen von vorwiegend lokaler Bedeutung und kommen wohl den
Wünschen der einzelnen Gouvernements und Gebiete Sibiriens entgegen, aber
sie tragen alle den Todeskeim in sich: sie bieten für Jahrzehnte keine Aussicht,
rentabel zu werden, weil sie für viele Jahrzehnte nur einseitig Ausfuhrbahnen,
nicht aber zugleich Einfuhrbahnen sein können. Mit anderen Worten: sie weisen
gegenüber der militärischen Kolonisation nicht die ins Auge springenden Vorteile
auf, deren es bedürfte, um das System mit gutem Gewissen zu ändern.




Den Mangel der Unrentabilität beseitigt ein Projekt, das seit etwa drei
Jahren in Rußland von ernsthafter Seite bearbeitet wird, nachdem es in West¬
europa als Teil einer Linie Rotterdam--Peking--Shanghai schon vor mehr als
vierzig Jahren erörtert wurde"). Neuerdings soll ein entsprechender Plan auch das
Interesse der russischen Regierung gefunden haben. Es gilt das Herz Rußlands
mit dem Herzen Chinas zu verbinden und die Parole auszugeben: Moskau--
Peking in vier Tagen!



*) U, a. von Dr. Meissel im Jahre 1371: "Die europäisch-asiatische Eisenbahnlinie
Rotterdam--Tientsin", und von Ferd. Freiherr vonRichthofen meinem in der Geographischen
Gesellschaft zu Berlin gehaltenen Vortrage.
Lhina, Rußland und Europa

Bauern zur Verfügung hält. Soweit die Wirksamkeit der transsibirischen Bahn
reicht, sind, wenn auch unter recht erheblichen Opfern, Erfolge erzielt worden.
Aber sie bedeuten Tropfen ini Meer gegenüber den ungeheuren Anforderungen,
die gestellt werden müssen. Die russischen Bemühungen werden vor allem beein¬
trächtigt durch die riesigen Entfernungen, die die bedrohten Gebiete vom russischen
Stammlande trennen. Sie bedeuten im Zeitalter des Verkehrs um so größere
Hindernisse für jede Entwicklung, je weniger sie selbst mit Verkehrsmitteln
ausgerüstet sind und je loser ihre Verbindung mit den benachbarten Verkehrs¬
netzen ist. Dieser Mangel zwingt die Regierung, an dem alten kostspieligen
Verfahren militärischer Kolonisation festzuhalten, doppelt unfruchtbar in heutiger
Zeit, als es die für Wegebau erforderlichen Mittel verschlingt und somit ein
wahres Hemmnis für eine Kolonisation nach modernen Gesichtspunkten bildet.
Von den sonstigen Nachteilen jeder militärischen Okkupation, wie übermäßig
starkes Vordrängen militärischer Gesichtspunkte zum Nachteil gewerblicher, sozialer,
rechtlicher und kultureller braucht nicht gesprochen zu werden.

Diese Beobachtungen haben in der russischen Regierung schon seit mehr als
einem Jahrzehnt die Frage immer wieder auftauchen lassen, wie die Kolonisation
und Ansiedlung russischer Bauern in Sibirien wirtschaftlicher und politisch wirk¬
samer durchgeführt werden könnte. Jetzt scheint man sich zu der Überzeugung
durchgerungen zu haben, daß dies nur dann erreicht werden könnte, wenn
Rußland seine Kolonien mit der Heimat durch gute Eisenbahnen verbindet. Und
so sind denn auch die führenden russischen Blätter voll von Projekten über die
Verlängerung der russischen Bahnen über die Wolga hinaus, über den Ausbau
der sibirischen Eisenbahn, über die Anlagen von Zweigbahnen usw. Alle solche
Projekte sind indessen von vorwiegend lokaler Bedeutung und kommen wohl den
Wünschen der einzelnen Gouvernements und Gebiete Sibiriens entgegen, aber
sie tragen alle den Todeskeim in sich: sie bieten für Jahrzehnte keine Aussicht,
rentabel zu werden, weil sie für viele Jahrzehnte nur einseitig Ausfuhrbahnen,
nicht aber zugleich Einfuhrbahnen sein können. Mit anderen Worten: sie weisen
gegenüber der militärischen Kolonisation nicht die ins Auge springenden Vorteile
auf, deren es bedürfte, um das System mit gutem Gewissen zu ändern.




Den Mangel der Unrentabilität beseitigt ein Projekt, das seit etwa drei
Jahren in Rußland von ernsthafter Seite bearbeitet wird, nachdem es in West¬
europa als Teil einer Linie Rotterdam—Peking—Shanghai schon vor mehr als
vierzig Jahren erörtert wurde"). Neuerdings soll ein entsprechender Plan auch das
Interesse der russischen Regierung gefunden haben. Es gilt das Herz Rußlands
mit dem Herzen Chinas zu verbinden und die Parole auszugeben: Moskau—
Peking in vier Tagen!



*) U, a. von Dr. Meissel im Jahre 1371: „Die europäisch-asiatische Eisenbahnlinie
Rotterdam—Tientsin", und von Ferd. Freiherr vonRichthofen meinem in der Geographischen
Gesellschaft zu Berlin gehaltenen Vortrage.
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[0467] Lhina, Rußland und Europa Bauern zur Verfügung hält. Soweit die Wirksamkeit der transsibirischen Bahn reicht, sind, wenn auch unter recht erheblichen Opfern, Erfolge erzielt worden. Aber sie bedeuten Tropfen ini Meer gegenüber den ungeheuren Anforderungen, die gestellt werden müssen. Die russischen Bemühungen werden vor allem beein¬ trächtigt durch die riesigen Entfernungen, die die bedrohten Gebiete vom russischen Stammlande trennen. Sie bedeuten im Zeitalter des Verkehrs um so größere Hindernisse für jede Entwicklung, je weniger sie selbst mit Verkehrsmitteln ausgerüstet sind und je loser ihre Verbindung mit den benachbarten Verkehrs¬ netzen ist. Dieser Mangel zwingt die Regierung, an dem alten kostspieligen Verfahren militärischer Kolonisation festzuhalten, doppelt unfruchtbar in heutiger Zeit, als es die für Wegebau erforderlichen Mittel verschlingt und somit ein wahres Hemmnis für eine Kolonisation nach modernen Gesichtspunkten bildet. Von den sonstigen Nachteilen jeder militärischen Okkupation, wie übermäßig starkes Vordrängen militärischer Gesichtspunkte zum Nachteil gewerblicher, sozialer, rechtlicher und kultureller braucht nicht gesprochen zu werden. Diese Beobachtungen haben in der russischen Regierung schon seit mehr als einem Jahrzehnt die Frage immer wieder auftauchen lassen, wie die Kolonisation und Ansiedlung russischer Bauern in Sibirien wirtschaftlicher und politisch wirk¬ samer durchgeführt werden könnte. Jetzt scheint man sich zu der Überzeugung durchgerungen zu haben, daß dies nur dann erreicht werden könnte, wenn Rußland seine Kolonien mit der Heimat durch gute Eisenbahnen verbindet. Und so sind denn auch die führenden russischen Blätter voll von Projekten über die Verlängerung der russischen Bahnen über die Wolga hinaus, über den Ausbau der sibirischen Eisenbahn, über die Anlagen von Zweigbahnen usw. Alle solche Projekte sind indessen von vorwiegend lokaler Bedeutung und kommen wohl den Wünschen der einzelnen Gouvernements und Gebiete Sibiriens entgegen, aber sie tragen alle den Todeskeim in sich: sie bieten für Jahrzehnte keine Aussicht, rentabel zu werden, weil sie für viele Jahrzehnte nur einseitig Ausfuhrbahnen, nicht aber zugleich Einfuhrbahnen sein können. Mit anderen Worten: sie weisen gegenüber der militärischen Kolonisation nicht die ins Auge springenden Vorteile auf, deren es bedürfte, um das System mit gutem Gewissen zu ändern. Den Mangel der Unrentabilität beseitigt ein Projekt, das seit etwa drei Jahren in Rußland von ernsthafter Seite bearbeitet wird, nachdem es in West¬ europa als Teil einer Linie Rotterdam—Peking—Shanghai schon vor mehr als vierzig Jahren erörtert wurde"). Neuerdings soll ein entsprechender Plan auch das Interesse der russischen Regierung gefunden haben. Es gilt das Herz Rußlands mit dem Herzen Chinas zu verbinden und die Parole auszugeben: Moskau— Peking in vier Tagen! *) U, a. von Dr. Meissel im Jahre 1371: „Die europäisch-asiatische Eisenbahnlinie Rotterdam—Tientsin", und von Ferd. Freiherr vonRichthofen meinem in der Geographischen Gesellschaft zu Berlin gehaltenen Vortrage.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/467>, abgerufen am 23.07.2024.