Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Ferdinand Hodler und sein Werk

ohne sie zu bedecken. Erst im Frauenkopf von 1911 und im Mädchenkopf
verläßt Hodler diese Richtung, die ihn als Gestalter des Frauenleibes zu der
einsamen Höhe geführt hat, auf der man bereits gewöhnt ist ihn zu bewundern.
Was er augenblicklich will, ist wohl menschlichen Blicken derzeit unerkennbar.
Der Tizianisch üppige Mädchenkopf mit schweren, großen Haarschnecken im
wohligen goldblond, mit milchig schwelgenden Farben in hellgelb und rosa,
klingt an den ungebrochenen Liebesglauben zwanziger Jahre an und wagt eine
Nichtigkeit der Form, die tief unter dem Frauenbildnis von 1874 steht, weil Hodler
wieder ganz von vorn beginnt, um zu ganz neuen Zielen zu gelangen. Er
beginnt, gläubig wie ein Kind, stark und feuerig wie ein Jüngling in Liebe,
zäh wie ein Mann, weise und erfahren wie ein Greis.

Fleisch, Haut und Kleidung heben bei Hodler niemals die Funktion der
inneren Form auf; die Kleidung, das bekannte Hodlersche blaue Gewand, ist
von erstaunlicher Mannigfaltigkeit des Ausdrucks, sowohl für sich betrachtet, wie
in seiner Wechselbeziehung zum bedeckten Körper. Bald schmiegt sich das Kleid
wie unlösbar an den Leib, wie ein lebendig Angewachsenes, das das Weib
ewig verhüllt, dennoch sein Wesen ahnen läßt, aber ein Rhodopegewand, das der
Sehnsucht selbst die Hoffnung nimmt, je die Wahrheit nackt zu schauen; bald
umwogt es sie im mächtigen Bausch und fliegt, ein leidenschaftlich Verlangender,
der Unerreichbarem ewig nach, oder es fließt hingegeben am Akt entlang von
ihrer Hand am Busen kraftlos festgehalten, oder es umspannt das Kleid der
schwellenden Jugend üppige Kraft, hält mühsam beisammen, dehnt und spannt
um Busen und Leib und droht im nächsten Augenblick erschöpft und vernichtet
drängender Gewalt zu weichen. Das blaue Tuch aus Hoblers Weberei kann
noch tausend andere Künste, den Erdgeist zu enthüllen oder zu verkleiden.

Jegliche historische Darstellung erstrebt die Versinnlichung der Wechsel¬
beziehungen zwischen Masse und Individuum. Volk und Held: das ist das
historische Problem, und dieses in Form und Farbe umgesetzt zu haben, ist die
Bedeutung von Marignano, vom Jenenser Bild, vom Tell, Näfels, Melchtal,
Winkelried. Hodler bewegt sich hierin, nachdem ihm dies gelungen, eher auf
ebener Höhe. Was er uns geboten, das große moderne Fresko, die erste echte
Epik neuzeitlicher Malerei, kann auch von ihm im Wesen nicht mehr überboten
werden; das "je commencs" dürfte in der Historienmalerei Hodlers doch nicht
wörtlich gelten. Die Komposition, die das Lineare wie das Koloristische gleich¬
mäßig umfaßt, ist und bleibt dabei das Grundlegende. Durch seine Raum¬
verteilung vermag Hodler das Wesen menschlicher Gebärdung menschlichen Tuns
überhaupt zweiteilig, in vereinzelte Typen des Vordergrundes einerseits (Prota¬
gonist) und in die Form zusammengefaßter Massen im Hintergrund anderseits
umzusetzen. Was er bietet ist nicht eigentlich Historie, sondern historische
Anschauung in Farbe und Linie verdeutlicht. Es ist nicht seine, sondern die
historische Weltanschauung, die auf dem rhythmischen Gefühl durchgreifender
Dualität beruht. Die Lebensbewegung des zweigegliederten historischen Materials,


Ferdinand Hodler und sein Werk

ohne sie zu bedecken. Erst im Frauenkopf von 1911 und im Mädchenkopf
verläßt Hodler diese Richtung, die ihn als Gestalter des Frauenleibes zu der
einsamen Höhe geführt hat, auf der man bereits gewöhnt ist ihn zu bewundern.
Was er augenblicklich will, ist wohl menschlichen Blicken derzeit unerkennbar.
Der Tizianisch üppige Mädchenkopf mit schweren, großen Haarschnecken im
wohligen goldblond, mit milchig schwelgenden Farben in hellgelb und rosa,
klingt an den ungebrochenen Liebesglauben zwanziger Jahre an und wagt eine
Nichtigkeit der Form, die tief unter dem Frauenbildnis von 1874 steht, weil Hodler
wieder ganz von vorn beginnt, um zu ganz neuen Zielen zu gelangen. Er
beginnt, gläubig wie ein Kind, stark und feuerig wie ein Jüngling in Liebe,
zäh wie ein Mann, weise und erfahren wie ein Greis.

Fleisch, Haut und Kleidung heben bei Hodler niemals die Funktion der
inneren Form auf; die Kleidung, das bekannte Hodlersche blaue Gewand, ist
von erstaunlicher Mannigfaltigkeit des Ausdrucks, sowohl für sich betrachtet, wie
in seiner Wechselbeziehung zum bedeckten Körper. Bald schmiegt sich das Kleid
wie unlösbar an den Leib, wie ein lebendig Angewachsenes, das das Weib
ewig verhüllt, dennoch sein Wesen ahnen läßt, aber ein Rhodopegewand, das der
Sehnsucht selbst die Hoffnung nimmt, je die Wahrheit nackt zu schauen; bald
umwogt es sie im mächtigen Bausch und fliegt, ein leidenschaftlich Verlangender,
der Unerreichbarem ewig nach, oder es fließt hingegeben am Akt entlang von
ihrer Hand am Busen kraftlos festgehalten, oder es umspannt das Kleid der
schwellenden Jugend üppige Kraft, hält mühsam beisammen, dehnt und spannt
um Busen und Leib und droht im nächsten Augenblick erschöpft und vernichtet
drängender Gewalt zu weichen. Das blaue Tuch aus Hoblers Weberei kann
noch tausend andere Künste, den Erdgeist zu enthüllen oder zu verkleiden.

Jegliche historische Darstellung erstrebt die Versinnlichung der Wechsel¬
beziehungen zwischen Masse und Individuum. Volk und Held: das ist das
historische Problem, und dieses in Form und Farbe umgesetzt zu haben, ist die
Bedeutung von Marignano, vom Jenenser Bild, vom Tell, Näfels, Melchtal,
Winkelried. Hodler bewegt sich hierin, nachdem ihm dies gelungen, eher auf
ebener Höhe. Was er uns geboten, das große moderne Fresko, die erste echte
Epik neuzeitlicher Malerei, kann auch von ihm im Wesen nicht mehr überboten
werden; das „je commencs" dürfte in der Historienmalerei Hodlers doch nicht
wörtlich gelten. Die Komposition, die das Lineare wie das Koloristische gleich¬
mäßig umfaßt, ist und bleibt dabei das Grundlegende. Durch seine Raum¬
verteilung vermag Hodler das Wesen menschlicher Gebärdung menschlichen Tuns
überhaupt zweiteilig, in vereinzelte Typen des Vordergrundes einerseits (Prota¬
gonist) und in die Form zusammengefaßter Massen im Hintergrund anderseits
umzusetzen. Was er bietet ist nicht eigentlich Historie, sondern historische
Anschauung in Farbe und Linie verdeutlicht. Es ist nicht seine, sondern die
historische Weltanschauung, die auf dem rhythmischen Gefühl durchgreifender
Dualität beruht. Die Lebensbewegung des zweigegliederten historischen Materials,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0452" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/321535"/>
          <fw type="header" place="top"> Ferdinand Hodler und sein Werk</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1944" prev="#ID_1943"> ohne sie zu bedecken. Erst im Frauenkopf von 1911 und im Mädchenkopf<lb/>
verläßt Hodler diese Richtung, die ihn als Gestalter des Frauenleibes zu der<lb/>
einsamen Höhe geführt hat, auf der man bereits gewöhnt ist ihn zu bewundern.<lb/>
Was er augenblicklich will, ist wohl menschlichen Blicken derzeit unerkennbar.<lb/>
Der Tizianisch üppige Mädchenkopf mit schweren, großen Haarschnecken im<lb/>
wohligen goldblond, mit milchig schwelgenden Farben in hellgelb und rosa,<lb/>
klingt an den ungebrochenen Liebesglauben zwanziger Jahre an und wagt eine<lb/>
Nichtigkeit der Form, die tief unter dem Frauenbildnis von 1874 steht, weil Hodler<lb/>
wieder ganz von vorn beginnt, um zu ganz neuen Zielen zu gelangen. Er<lb/>
beginnt, gläubig wie ein Kind, stark und feuerig wie ein Jüngling in Liebe,<lb/>
zäh wie ein Mann, weise und erfahren wie ein Greis.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1945"> Fleisch, Haut und Kleidung heben bei Hodler niemals die Funktion der<lb/>
inneren Form auf; die Kleidung, das bekannte Hodlersche blaue Gewand, ist<lb/>
von erstaunlicher Mannigfaltigkeit des Ausdrucks, sowohl für sich betrachtet, wie<lb/>
in seiner Wechselbeziehung zum bedeckten Körper. Bald schmiegt sich das Kleid<lb/>
wie unlösbar an den Leib, wie ein lebendig Angewachsenes, das das Weib<lb/>
ewig verhüllt, dennoch sein Wesen ahnen läßt, aber ein Rhodopegewand, das der<lb/>
Sehnsucht selbst die Hoffnung nimmt, je die Wahrheit nackt zu schauen; bald<lb/>
umwogt es sie im mächtigen Bausch und fliegt, ein leidenschaftlich Verlangender,<lb/>
der Unerreichbarem ewig nach, oder es fließt hingegeben am Akt entlang von<lb/>
ihrer Hand am Busen kraftlos festgehalten, oder es umspannt das Kleid der<lb/>
schwellenden Jugend üppige Kraft, hält mühsam beisammen, dehnt und spannt<lb/>
um Busen und Leib und droht im nächsten Augenblick erschöpft und vernichtet<lb/>
drängender Gewalt zu weichen. Das blaue Tuch aus Hoblers Weberei kann<lb/>
noch tausend andere Künste, den Erdgeist zu enthüllen oder zu verkleiden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1946" next="#ID_1947"> Jegliche historische Darstellung erstrebt die Versinnlichung der Wechsel¬<lb/>
beziehungen zwischen Masse und Individuum. Volk und Held: das ist das<lb/>
historische Problem, und dieses in Form und Farbe umgesetzt zu haben, ist die<lb/>
Bedeutung von Marignano, vom Jenenser Bild, vom Tell, Näfels, Melchtal,<lb/>
Winkelried. Hodler bewegt sich hierin, nachdem ihm dies gelungen, eher auf<lb/>
ebener Höhe. Was er uns geboten, das große moderne Fresko, die erste echte<lb/>
Epik neuzeitlicher Malerei, kann auch von ihm im Wesen nicht mehr überboten<lb/>
werden; das &#x201E;je commencs" dürfte in der Historienmalerei Hodlers doch nicht<lb/>
wörtlich gelten. Die Komposition, die das Lineare wie das Koloristische gleich¬<lb/>
mäßig umfaßt, ist und bleibt dabei das Grundlegende. Durch seine Raum¬<lb/>
verteilung vermag Hodler das Wesen menschlicher Gebärdung menschlichen Tuns<lb/>
überhaupt zweiteilig, in vereinzelte Typen des Vordergrundes einerseits (Prota¬<lb/>
gonist) und in die Form zusammengefaßter Massen im Hintergrund anderseits<lb/>
umzusetzen. Was er bietet ist nicht eigentlich Historie, sondern historische<lb/>
Anschauung in Farbe und Linie verdeutlicht. Es ist nicht seine, sondern die<lb/>
historische Weltanschauung, die auf dem rhythmischen Gefühl durchgreifender<lb/>
Dualität beruht. Die Lebensbewegung des zweigegliederten historischen Materials,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0452] Ferdinand Hodler und sein Werk ohne sie zu bedecken. Erst im Frauenkopf von 1911 und im Mädchenkopf verläßt Hodler diese Richtung, die ihn als Gestalter des Frauenleibes zu der einsamen Höhe geführt hat, auf der man bereits gewöhnt ist ihn zu bewundern. Was er augenblicklich will, ist wohl menschlichen Blicken derzeit unerkennbar. Der Tizianisch üppige Mädchenkopf mit schweren, großen Haarschnecken im wohligen goldblond, mit milchig schwelgenden Farben in hellgelb und rosa, klingt an den ungebrochenen Liebesglauben zwanziger Jahre an und wagt eine Nichtigkeit der Form, die tief unter dem Frauenbildnis von 1874 steht, weil Hodler wieder ganz von vorn beginnt, um zu ganz neuen Zielen zu gelangen. Er beginnt, gläubig wie ein Kind, stark und feuerig wie ein Jüngling in Liebe, zäh wie ein Mann, weise und erfahren wie ein Greis. Fleisch, Haut und Kleidung heben bei Hodler niemals die Funktion der inneren Form auf; die Kleidung, das bekannte Hodlersche blaue Gewand, ist von erstaunlicher Mannigfaltigkeit des Ausdrucks, sowohl für sich betrachtet, wie in seiner Wechselbeziehung zum bedeckten Körper. Bald schmiegt sich das Kleid wie unlösbar an den Leib, wie ein lebendig Angewachsenes, das das Weib ewig verhüllt, dennoch sein Wesen ahnen läßt, aber ein Rhodopegewand, das der Sehnsucht selbst die Hoffnung nimmt, je die Wahrheit nackt zu schauen; bald umwogt es sie im mächtigen Bausch und fliegt, ein leidenschaftlich Verlangender, der Unerreichbarem ewig nach, oder es fließt hingegeben am Akt entlang von ihrer Hand am Busen kraftlos festgehalten, oder es umspannt das Kleid der schwellenden Jugend üppige Kraft, hält mühsam beisammen, dehnt und spannt um Busen und Leib und droht im nächsten Augenblick erschöpft und vernichtet drängender Gewalt zu weichen. Das blaue Tuch aus Hoblers Weberei kann noch tausend andere Künste, den Erdgeist zu enthüllen oder zu verkleiden. Jegliche historische Darstellung erstrebt die Versinnlichung der Wechsel¬ beziehungen zwischen Masse und Individuum. Volk und Held: das ist das historische Problem, und dieses in Form und Farbe umgesetzt zu haben, ist die Bedeutung von Marignano, vom Jenenser Bild, vom Tell, Näfels, Melchtal, Winkelried. Hodler bewegt sich hierin, nachdem ihm dies gelungen, eher auf ebener Höhe. Was er uns geboten, das große moderne Fresko, die erste echte Epik neuzeitlicher Malerei, kann auch von ihm im Wesen nicht mehr überboten werden; das „je commencs" dürfte in der Historienmalerei Hodlers doch nicht wörtlich gelten. Die Komposition, die das Lineare wie das Koloristische gleich¬ mäßig umfaßt, ist und bleibt dabei das Grundlegende. Durch seine Raum¬ verteilung vermag Hodler das Wesen menschlicher Gebärdung menschlichen Tuns überhaupt zweiteilig, in vereinzelte Typen des Vordergrundes einerseits (Prota¬ gonist) und in die Form zusammengefaßter Massen im Hintergrund anderseits umzusetzen. Was er bietet ist nicht eigentlich Historie, sondern historische Anschauung in Farbe und Linie verdeutlicht. Es ist nicht seine, sondern die historische Weltanschauung, die auf dem rhythmischen Gefühl durchgreifender Dualität beruht. Die Lebensbewegung des zweigegliederten historischen Materials,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/452
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/452>, abgerufen am 23.07.2024.