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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Ferdinand Hodler und sein Merk

Maße an Ausdruckskraft der Form, an Spannung der Linie, weil das Mittel¬
stadium vielleicht bloß einen Farbenton zu treffen hatte und eine letzte Fassung
plötzlich alle Lebensfunken aus zehn vorhergehenden an sich reißen wird. Bei
der sast bedenklichen Hodlerschwärmerei von heute werden alle die Frühgeborenen
dem Meister aus der Hand gerissen und wie mancher steht dann ratlos davor.
Denn es kommt bei dieser Arbeitsweise vor allem darauf an zu entscheiden,
ob der Meister hier oder dort auch sein letztes Wort gesprochen hat, wie beim Tell,
Marignano, oder aber ob er auf der Suche begriffen ist und der Fragen erst eine
beantwortet und welche? Letzterenfalls hat der bloß Genießende mit dem Bilde
nichts, aber auch gar nichts zu schaffen. Der Forscher und Kenner bloß kann
daran seine echte Freude haben, jenen Punkt vereinzelter Vollkommenheit heraus¬
zusuchen, der vielleicht in einer späteren Fassung verschwindet, um zuletzt in
einer höchsten Verkettung wieder zu erscheinen, oder auch nicht. So groß ist
sein Nibelungenschatz, daß selbst seine Riesenkraft kaum alles aus dem Flusse
heben, bergen und Speichern kann.

Wie anders Amiet! Wenn er an die Leinwand geht, ist das Bild fast
sertig und steht klar und scharf vor dem inneren Schauen, aber selbst wenn ihn
die Tücke der Materie unerwartet überfällt, so malt er die zehn Bilder Hodlers
wohl auf dieselbe Leinwand übereinander und was man zu sehen bekommt, ist
immer der fertige Amiet. Er wirft die Wucht seines Könnens nicht auf einen
einzelnen Punkt, um nur diesen über alle Vorstellung hinaus- und hinanzutreiben
und aus solchen Punkten der Vollendung Strahlen zusammenzufangen. Sein
Weg, nicht minder mühsam, bedingt eine ständige gleichmäßige Ausbreitung
des Könnens auf das Ganze der Aufgabe.

Die frühesten Spuren dessen, was Hodler jenseits und über dem weiblichen
Menschen aus dem Motiv der Frau geschaffen, finde ich im Frauenbildnis aus dem
Jahre 1874. Das Bild stellt eine junge Dame dar im schwarzgrauen Kleide, mit
gelblicher Gesichtsfarbe auf einem lediglich ausgleichenden Hintergrunde. Eine vor¬
nehme Anlehnung an die französische Schule ist in Zeichnung und Farbe unverkenn¬
bar; allein die Lichter, die auf Hand und Kopf die Knochenbildung heraus¬
treiben, deuten auf Kommendes. Es ist jetzt leicht ex un^us leonsm zu rusen.
Die uns heute bekannte Idealität des Hodlerschen Frauentypus besteht zeichnerisch
in einer nur ihm eigenen selbständigen Schönheit der Knochenbildung. Von
diesen Frauenbildnifsen bis zur Eva von 1900, zur Empfindung von 1908 bis
M den Figuren aus dem Tage, dem Entzückten Weib wird es in steigendem
Maße sichtbar: die dem Skelett innewohnende konstruktive oder architektonische
Schönheit weiblicher Form ist herausgezwungen. Dem inneren Gebilde der
Frau hat Hodler das Todesgrausige genommen. Die Wölbung der Stirn, die
scharfe, mit der Fingerspitze nachdrückbare Angenbrauenkante, der Nasenrücken
bewahrt unter Fleisch und Haut die architektonische Schönheit, ebenso Hüften¬
knochen und Kniekehle. Haut und Fleisch decken knapp und eng diese Form,


Ferdinand Hodler und sein Merk

Maße an Ausdruckskraft der Form, an Spannung der Linie, weil das Mittel¬
stadium vielleicht bloß einen Farbenton zu treffen hatte und eine letzte Fassung
plötzlich alle Lebensfunken aus zehn vorhergehenden an sich reißen wird. Bei
der sast bedenklichen Hodlerschwärmerei von heute werden alle die Frühgeborenen
dem Meister aus der Hand gerissen und wie mancher steht dann ratlos davor.
Denn es kommt bei dieser Arbeitsweise vor allem darauf an zu entscheiden,
ob der Meister hier oder dort auch sein letztes Wort gesprochen hat, wie beim Tell,
Marignano, oder aber ob er auf der Suche begriffen ist und der Fragen erst eine
beantwortet und welche? Letzterenfalls hat der bloß Genießende mit dem Bilde
nichts, aber auch gar nichts zu schaffen. Der Forscher und Kenner bloß kann
daran seine echte Freude haben, jenen Punkt vereinzelter Vollkommenheit heraus¬
zusuchen, der vielleicht in einer späteren Fassung verschwindet, um zuletzt in
einer höchsten Verkettung wieder zu erscheinen, oder auch nicht. So groß ist
sein Nibelungenschatz, daß selbst seine Riesenkraft kaum alles aus dem Flusse
heben, bergen und Speichern kann.

Wie anders Amiet! Wenn er an die Leinwand geht, ist das Bild fast
sertig und steht klar und scharf vor dem inneren Schauen, aber selbst wenn ihn
die Tücke der Materie unerwartet überfällt, so malt er die zehn Bilder Hodlers
wohl auf dieselbe Leinwand übereinander und was man zu sehen bekommt, ist
immer der fertige Amiet. Er wirft die Wucht seines Könnens nicht auf einen
einzelnen Punkt, um nur diesen über alle Vorstellung hinaus- und hinanzutreiben
und aus solchen Punkten der Vollendung Strahlen zusammenzufangen. Sein
Weg, nicht minder mühsam, bedingt eine ständige gleichmäßige Ausbreitung
des Könnens auf das Ganze der Aufgabe.

Die frühesten Spuren dessen, was Hodler jenseits und über dem weiblichen
Menschen aus dem Motiv der Frau geschaffen, finde ich im Frauenbildnis aus dem
Jahre 1874. Das Bild stellt eine junge Dame dar im schwarzgrauen Kleide, mit
gelblicher Gesichtsfarbe auf einem lediglich ausgleichenden Hintergrunde. Eine vor¬
nehme Anlehnung an die französische Schule ist in Zeichnung und Farbe unverkenn¬
bar; allein die Lichter, die auf Hand und Kopf die Knochenbildung heraus¬
treiben, deuten auf Kommendes. Es ist jetzt leicht ex un^us leonsm zu rusen.
Die uns heute bekannte Idealität des Hodlerschen Frauentypus besteht zeichnerisch
in einer nur ihm eigenen selbständigen Schönheit der Knochenbildung. Von
diesen Frauenbildnifsen bis zur Eva von 1900, zur Empfindung von 1908 bis
M den Figuren aus dem Tage, dem Entzückten Weib wird es in steigendem
Maße sichtbar: die dem Skelett innewohnende konstruktive oder architektonische
Schönheit weiblicher Form ist herausgezwungen. Dem inneren Gebilde der
Frau hat Hodler das Todesgrausige genommen. Die Wölbung der Stirn, die
scharfe, mit der Fingerspitze nachdrückbare Angenbrauenkante, der Nasenrücken
bewahrt unter Fleisch und Haut die architektonische Schönheit, ebenso Hüften¬
knochen und Kniekehle. Haut und Fleisch decken knapp und eng diese Form,


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[0451] Ferdinand Hodler und sein Merk Maße an Ausdruckskraft der Form, an Spannung der Linie, weil das Mittel¬ stadium vielleicht bloß einen Farbenton zu treffen hatte und eine letzte Fassung plötzlich alle Lebensfunken aus zehn vorhergehenden an sich reißen wird. Bei der sast bedenklichen Hodlerschwärmerei von heute werden alle die Frühgeborenen dem Meister aus der Hand gerissen und wie mancher steht dann ratlos davor. Denn es kommt bei dieser Arbeitsweise vor allem darauf an zu entscheiden, ob der Meister hier oder dort auch sein letztes Wort gesprochen hat, wie beim Tell, Marignano, oder aber ob er auf der Suche begriffen ist und der Fragen erst eine beantwortet und welche? Letzterenfalls hat der bloß Genießende mit dem Bilde nichts, aber auch gar nichts zu schaffen. Der Forscher und Kenner bloß kann daran seine echte Freude haben, jenen Punkt vereinzelter Vollkommenheit heraus¬ zusuchen, der vielleicht in einer späteren Fassung verschwindet, um zuletzt in einer höchsten Verkettung wieder zu erscheinen, oder auch nicht. So groß ist sein Nibelungenschatz, daß selbst seine Riesenkraft kaum alles aus dem Flusse heben, bergen und Speichern kann. Wie anders Amiet! Wenn er an die Leinwand geht, ist das Bild fast sertig und steht klar und scharf vor dem inneren Schauen, aber selbst wenn ihn die Tücke der Materie unerwartet überfällt, so malt er die zehn Bilder Hodlers wohl auf dieselbe Leinwand übereinander und was man zu sehen bekommt, ist immer der fertige Amiet. Er wirft die Wucht seines Könnens nicht auf einen einzelnen Punkt, um nur diesen über alle Vorstellung hinaus- und hinanzutreiben und aus solchen Punkten der Vollendung Strahlen zusammenzufangen. Sein Weg, nicht minder mühsam, bedingt eine ständige gleichmäßige Ausbreitung des Könnens auf das Ganze der Aufgabe. Die frühesten Spuren dessen, was Hodler jenseits und über dem weiblichen Menschen aus dem Motiv der Frau geschaffen, finde ich im Frauenbildnis aus dem Jahre 1874. Das Bild stellt eine junge Dame dar im schwarzgrauen Kleide, mit gelblicher Gesichtsfarbe auf einem lediglich ausgleichenden Hintergrunde. Eine vor¬ nehme Anlehnung an die französische Schule ist in Zeichnung und Farbe unverkenn¬ bar; allein die Lichter, die auf Hand und Kopf die Knochenbildung heraus¬ treiben, deuten auf Kommendes. Es ist jetzt leicht ex un^us leonsm zu rusen. Die uns heute bekannte Idealität des Hodlerschen Frauentypus besteht zeichnerisch in einer nur ihm eigenen selbständigen Schönheit der Knochenbildung. Von diesen Frauenbildnifsen bis zur Eva von 1900, zur Empfindung von 1908 bis M den Figuren aus dem Tage, dem Entzückten Weib wird es in steigendem Maße sichtbar: die dem Skelett innewohnende konstruktive oder architektonische Schönheit weiblicher Form ist herausgezwungen. Dem inneren Gebilde der Frau hat Hodler das Todesgrausige genommen. Die Wölbung der Stirn, die scharfe, mit der Fingerspitze nachdrückbare Angenbrauenkante, der Nasenrücken bewahrt unter Fleisch und Haut die architektonische Schönheit, ebenso Hüften¬ knochen und Kniekehle. Haut und Fleisch decken knapp und eng diese Form,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/451>, abgerufen am 22.07.2024.