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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Die Schicksalsstunde der deutschen Landwirtschaft

Menschenalters mehrmals in die Lage, daß sie entweder mehr Arbeitskräfte
braucht als sie selbst produziert oder daß sie Arbeitskraft abgibt infolge von
Überproduktion.

Ist nun der besitzlose Arbeiterstand in den Augen der nächst höheren Schicht
minderwertig geworden, dann gehen deren Nachkommen in die Städte als
Militäranwärter, Eisenbahner, Postbeamte, und es entsteht jene Lücke, die wir
gegenwärtig besonders im Osten des Vaterlandes zu beklagen haben. Die Lücke
reißt weiter und Scholle um Scholle geht verloren.

Der preußische Staat hat in den letzten Jahrzehnten eine großartige
Ansiedlungspolitik mit solchen Bauern getrieben, die ihr Land selbst bestellen
können. Die gewissenhafte Arbeit preußischer Beamten bringt viel fertig, und
sie hat gewiß die verausgabten 350 Millionen nützlich für die Zukunft verwendet.
Aber was nützt die sorgsame Anpflanzung neuer Bauern, wenn die alten, seit
vielen Generationen ansässigen Bauern in ihren Sitzen locker werden, wenn alte
deutsche Höfe in polnische Hände übergehen. Trotz unserer staatlichen Ansiedlungs¬
politik haben wir in elf Jahren 100000 Hektar mehr verloren, als gewonnen.
Man könnte spottweise sagen, wir haben 3500 Mark pro Hektar aufgewendet,
nicht um den Hektar zu gewinnen, sondern um ihn zu verlieren. Das ist das
Ergebnis unserer Politik. Wie kommt das? Nun, antworten die Gegner der
staatlichen Siedlungspolitik, dasselbe Geld, das aus der Hand des deutschen
Staates fließt, um zu germanisieren, hat an anderer Stelle polonisiert. Und
doch liegt der Grund gerade für das Elementare der Erscheinung tiefer.

Die Kraft der polnischen Kolonisation in ihrem Kampf gegen die deutsche
beruht gerade darin, daß sie die Arbeiter für sich hat, und der Fehler unserer
bisherigen Kolonisation ist, daß sie über dem Bauer den Arbeiter vergaß.

Soll es nun mit der Entvölkerung und Polonisierung unseres Landes so
weiter gehen und was kann dagegen geschehen? Ich wende mich zunächst an
die deutschen Landwirte in ihrer Eigenschaft als Arbeitgeber.

Wieviel kostet die Beschaffung des ausländischen Arbeiters pro Kopf? Vor
wenigen Jahren noch 4 Mark auf den Kopf, heute schon 20 bis 30 Mark.
In Zukunft mehr? Die Scharen, die jährlich nötig sind, um den Bedarf in
der deutschen Landwirtschaft zu befriedigen, wachsen beständig und so hat man
in der Feldarbeiterzentrale schon förmlich einen Menschenfang organisiert.
Auch die deutsche Industrie wird sich bald an dieser Menschenjagd be¬
teiligen. Woher soll sie auch die Menschen nehmen, wenn es einmal kein
deutsches Landvolk mehr in die Städte zu ziehen gibt? Immer schwieriger wird
es werden, diese Menschenmassen auszutreiben. Ist es da nicht strafbarer
Leichtsinn, wenn ein so gewaltiges Gewerbe, wie die deutsche Landwirtschaft,
sich so unberechenbaren Mächten wie etwa der russischen Bureaukratie in die Hand
gibt und ihr alle unübersehbaren Möglichkeiten solcher Versorgung überläßt? Oder
was wird aus der deutschen Ernte, wenn in Rußland und Galizien die Cholera
oder Pest ausbricht?


Die Schicksalsstunde der deutschen Landwirtschaft

Menschenalters mehrmals in die Lage, daß sie entweder mehr Arbeitskräfte
braucht als sie selbst produziert oder daß sie Arbeitskraft abgibt infolge von
Überproduktion.

Ist nun der besitzlose Arbeiterstand in den Augen der nächst höheren Schicht
minderwertig geworden, dann gehen deren Nachkommen in die Städte als
Militäranwärter, Eisenbahner, Postbeamte, und es entsteht jene Lücke, die wir
gegenwärtig besonders im Osten des Vaterlandes zu beklagen haben. Die Lücke
reißt weiter und Scholle um Scholle geht verloren.

Der preußische Staat hat in den letzten Jahrzehnten eine großartige
Ansiedlungspolitik mit solchen Bauern getrieben, die ihr Land selbst bestellen
können. Die gewissenhafte Arbeit preußischer Beamten bringt viel fertig, und
sie hat gewiß die verausgabten 350 Millionen nützlich für die Zukunft verwendet.
Aber was nützt die sorgsame Anpflanzung neuer Bauern, wenn die alten, seit
vielen Generationen ansässigen Bauern in ihren Sitzen locker werden, wenn alte
deutsche Höfe in polnische Hände übergehen. Trotz unserer staatlichen Ansiedlungs¬
politik haben wir in elf Jahren 100000 Hektar mehr verloren, als gewonnen.
Man könnte spottweise sagen, wir haben 3500 Mark pro Hektar aufgewendet,
nicht um den Hektar zu gewinnen, sondern um ihn zu verlieren. Das ist das
Ergebnis unserer Politik. Wie kommt das? Nun, antworten die Gegner der
staatlichen Siedlungspolitik, dasselbe Geld, das aus der Hand des deutschen
Staates fließt, um zu germanisieren, hat an anderer Stelle polonisiert. Und
doch liegt der Grund gerade für das Elementare der Erscheinung tiefer.

Die Kraft der polnischen Kolonisation in ihrem Kampf gegen die deutsche
beruht gerade darin, daß sie die Arbeiter für sich hat, und der Fehler unserer
bisherigen Kolonisation ist, daß sie über dem Bauer den Arbeiter vergaß.

Soll es nun mit der Entvölkerung und Polonisierung unseres Landes so
weiter gehen und was kann dagegen geschehen? Ich wende mich zunächst an
die deutschen Landwirte in ihrer Eigenschaft als Arbeitgeber.

Wieviel kostet die Beschaffung des ausländischen Arbeiters pro Kopf? Vor
wenigen Jahren noch 4 Mark auf den Kopf, heute schon 20 bis 30 Mark.
In Zukunft mehr? Die Scharen, die jährlich nötig sind, um den Bedarf in
der deutschen Landwirtschaft zu befriedigen, wachsen beständig und so hat man
in der Feldarbeiterzentrale schon förmlich einen Menschenfang organisiert.
Auch die deutsche Industrie wird sich bald an dieser Menschenjagd be¬
teiligen. Woher soll sie auch die Menschen nehmen, wenn es einmal kein
deutsches Landvolk mehr in die Städte zu ziehen gibt? Immer schwieriger wird
es werden, diese Menschenmassen auszutreiben. Ist es da nicht strafbarer
Leichtsinn, wenn ein so gewaltiges Gewerbe, wie die deutsche Landwirtschaft,
sich so unberechenbaren Mächten wie etwa der russischen Bureaukratie in die Hand
gibt und ihr alle unübersehbaren Möglichkeiten solcher Versorgung überläßt? Oder
was wird aus der deutschen Ernte, wenn in Rußland und Galizien die Cholera
oder Pest ausbricht?


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/420>, abgerufen am 29.06.2024.