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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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von alten Liedern

Aus der alten, lieben Hausmusik ist "Salonmusik" geworden; sie hat sich sehr
verändert -- zu unserem Nachteil. Den Kindern vor allem sollte man sie ans
dem Wege schaffen. Das Klavier hat sich zu breit gemacht. Lauten sollten
wieder ins Haus, Lauten und ihre bescheidene Schwester, die Gitarre. Keine
Begleitung paßt besser zu den lieben, alten Liedern, die uns seit Jahrhunderten
gehören, uns und unseren Kindern.

Solch ein uraltes Singevolk sind wir. So aus den: Innersten heraus
entstanden sind unsere Volkslieder. Das Wesen unseres Volkes ist darin, un¬
verfälscht. Was "deutsch" an uns ist, hat seinen reinsten Niederschlag in ihnen.
Selbst in der Kirche haben wir uns nie von den strengen Regeln einengen
lassen. Die lateinischen Gesänge haben uns nie genügt. In den Kirchen und
bei Bittgängen sang unser Volk deutsche Lieder, lange vor der Reformation.
Dafür haben wir ein frühes Zeugnis. Der Mönch Gottfried, der 1146 in
Begleitung des si. Bernhard am Rhein weilte, schrieb: "Als wir die deutschen
Gegenden verlassen hatten, hörte Euer Gesang ,Christ und genade' auf, und
niemand war da, der zu Gott gesungen hätte. Das romanische Volk hat keine
eigenen Lieder nach Art eurer Landsleute."

Wackernagel*) bringt den Text von 1448 geistlichen Volks- und Kirchen¬
liedern, die ihren Ursprung lange vor der Reformationszeit haben. Das
wunderbare vierzehnte Jahrhundert, diese merkwürdige Zeit, in der der Volks¬
geist so mächtig erstand, wo "jeder Handwerker unbewußt Künstler war", wie
der Herausgeber des Lotheimer Liederbuches (Arnold) sagt, hat die meisten von
ihnen entstehen sehen. Den köstlichen alten Krippenspielen, den Spielen der
Osterzeit, in denen das Volk aus bewegtem Herzen mitsingen konnte, verdanken
wir unendlich viele. "Es ist ein Ros' entsprungen" ist so entstanden. 1599
nennt das Mainzer Cantual es das "alt Trierisch Christliedlein". Die Schlichtheit
und Innigkeit der Weihnachtslieder aus dieser Zeit ist unbegreiflich herrlich.
Sie sind uns fast alle erhalten, viele in der köstlichen Sammlung von Heym
von Themar: "Schöne Christliche Weihnacht oder Kindleswiegen Gesang. Augs¬
burg 1590." Lebendig erhalten hat sich uns fast keins. Wir haben sie in drei
Jahrhunderten vergessen und verloren. Darüber können uns auch die Umdichtungen
nicht trösten, die hier und da entstanden sind und in denen noch ein Hauch der
alten Lieder weht. Nur ein Hauch freilich. Es ist den alten Liedern ja lange
Zeit so gegangen wie Shakespeares Dramen -- man sah sie als Freigut an,
das jeder nach Belieben brauchen und an dem er nach Belieben herumflicken
konnte. Mit Ehrfurcht an sie heranzutreten, sie als unantastbares Vermächtnis
anzusehen, soweit sind wir heut noch nicht.

Daß Umdichtungen ins "Neudeutsche" solch ein altes Lied einfach totschlagen,
scheint nicht eingesehen zu werden. Das beweisen einige Publikationen der
letzten Jahre. In solch einem zurechtgedrechselten, schön geordneten, ich möchte



") Wackernagel, "Das deutsche Kirchenlied von der ältesten Zeit bis zu Anfang des
XVII. Jahrhunderts". Leipzig, B. G. Teubner. 1877.
von alten Liedern

Aus der alten, lieben Hausmusik ist „Salonmusik" geworden; sie hat sich sehr
verändert — zu unserem Nachteil. Den Kindern vor allem sollte man sie ans
dem Wege schaffen. Das Klavier hat sich zu breit gemacht. Lauten sollten
wieder ins Haus, Lauten und ihre bescheidene Schwester, die Gitarre. Keine
Begleitung paßt besser zu den lieben, alten Liedern, die uns seit Jahrhunderten
gehören, uns und unseren Kindern.

Solch ein uraltes Singevolk sind wir. So aus den: Innersten heraus
entstanden sind unsere Volkslieder. Das Wesen unseres Volkes ist darin, un¬
verfälscht. Was „deutsch" an uns ist, hat seinen reinsten Niederschlag in ihnen.
Selbst in der Kirche haben wir uns nie von den strengen Regeln einengen
lassen. Die lateinischen Gesänge haben uns nie genügt. In den Kirchen und
bei Bittgängen sang unser Volk deutsche Lieder, lange vor der Reformation.
Dafür haben wir ein frühes Zeugnis. Der Mönch Gottfried, der 1146 in
Begleitung des si. Bernhard am Rhein weilte, schrieb: „Als wir die deutschen
Gegenden verlassen hatten, hörte Euer Gesang ,Christ und genade' auf, und
niemand war da, der zu Gott gesungen hätte. Das romanische Volk hat keine
eigenen Lieder nach Art eurer Landsleute."

Wackernagel*) bringt den Text von 1448 geistlichen Volks- und Kirchen¬
liedern, die ihren Ursprung lange vor der Reformationszeit haben. Das
wunderbare vierzehnte Jahrhundert, diese merkwürdige Zeit, in der der Volks¬
geist so mächtig erstand, wo „jeder Handwerker unbewußt Künstler war", wie
der Herausgeber des Lotheimer Liederbuches (Arnold) sagt, hat die meisten von
ihnen entstehen sehen. Den köstlichen alten Krippenspielen, den Spielen der
Osterzeit, in denen das Volk aus bewegtem Herzen mitsingen konnte, verdanken
wir unendlich viele. „Es ist ein Ros' entsprungen" ist so entstanden. 1599
nennt das Mainzer Cantual es das „alt Trierisch Christliedlein". Die Schlichtheit
und Innigkeit der Weihnachtslieder aus dieser Zeit ist unbegreiflich herrlich.
Sie sind uns fast alle erhalten, viele in der köstlichen Sammlung von Heym
von Themar: „Schöne Christliche Weihnacht oder Kindleswiegen Gesang. Augs¬
burg 1590." Lebendig erhalten hat sich uns fast keins. Wir haben sie in drei
Jahrhunderten vergessen und verloren. Darüber können uns auch die Umdichtungen
nicht trösten, die hier und da entstanden sind und in denen noch ein Hauch der
alten Lieder weht. Nur ein Hauch freilich. Es ist den alten Liedern ja lange
Zeit so gegangen wie Shakespeares Dramen — man sah sie als Freigut an,
das jeder nach Belieben brauchen und an dem er nach Belieben herumflicken
konnte. Mit Ehrfurcht an sie heranzutreten, sie als unantastbares Vermächtnis
anzusehen, soweit sind wir heut noch nicht.

Daß Umdichtungen ins „Neudeutsche" solch ein altes Lied einfach totschlagen,
scheint nicht eingesehen zu werden. Das beweisen einige Publikationen der
letzten Jahre. In solch einem zurechtgedrechselten, schön geordneten, ich möchte



") Wackernagel, „Das deutsche Kirchenlied von der ältesten Zeit bis zu Anfang des
XVII. Jahrhunderts". Leipzig, B. G. Teubner. 1877.
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[0039] von alten Liedern Aus der alten, lieben Hausmusik ist „Salonmusik" geworden; sie hat sich sehr verändert — zu unserem Nachteil. Den Kindern vor allem sollte man sie ans dem Wege schaffen. Das Klavier hat sich zu breit gemacht. Lauten sollten wieder ins Haus, Lauten und ihre bescheidene Schwester, die Gitarre. Keine Begleitung paßt besser zu den lieben, alten Liedern, die uns seit Jahrhunderten gehören, uns und unseren Kindern. Solch ein uraltes Singevolk sind wir. So aus den: Innersten heraus entstanden sind unsere Volkslieder. Das Wesen unseres Volkes ist darin, un¬ verfälscht. Was „deutsch" an uns ist, hat seinen reinsten Niederschlag in ihnen. Selbst in der Kirche haben wir uns nie von den strengen Regeln einengen lassen. Die lateinischen Gesänge haben uns nie genügt. In den Kirchen und bei Bittgängen sang unser Volk deutsche Lieder, lange vor der Reformation. Dafür haben wir ein frühes Zeugnis. Der Mönch Gottfried, der 1146 in Begleitung des si. Bernhard am Rhein weilte, schrieb: „Als wir die deutschen Gegenden verlassen hatten, hörte Euer Gesang ,Christ und genade' auf, und niemand war da, der zu Gott gesungen hätte. Das romanische Volk hat keine eigenen Lieder nach Art eurer Landsleute." Wackernagel*) bringt den Text von 1448 geistlichen Volks- und Kirchen¬ liedern, die ihren Ursprung lange vor der Reformationszeit haben. Das wunderbare vierzehnte Jahrhundert, diese merkwürdige Zeit, in der der Volks¬ geist so mächtig erstand, wo „jeder Handwerker unbewußt Künstler war", wie der Herausgeber des Lotheimer Liederbuches (Arnold) sagt, hat die meisten von ihnen entstehen sehen. Den köstlichen alten Krippenspielen, den Spielen der Osterzeit, in denen das Volk aus bewegtem Herzen mitsingen konnte, verdanken wir unendlich viele. „Es ist ein Ros' entsprungen" ist so entstanden. 1599 nennt das Mainzer Cantual es das „alt Trierisch Christliedlein". Die Schlichtheit und Innigkeit der Weihnachtslieder aus dieser Zeit ist unbegreiflich herrlich. Sie sind uns fast alle erhalten, viele in der köstlichen Sammlung von Heym von Themar: „Schöne Christliche Weihnacht oder Kindleswiegen Gesang. Augs¬ burg 1590." Lebendig erhalten hat sich uns fast keins. Wir haben sie in drei Jahrhunderten vergessen und verloren. Darüber können uns auch die Umdichtungen nicht trösten, die hier und da entstanden sind und in denen noch ein Hauch der alten Lieder weht. Nur ein Hauch freilich. Es ist den alten Liedern ja lange Zeit so gegangen wie Shakespeares Dramen — man sah sie als Freigut an, das jeder nach Belieben brauchen und an dem er nach Belieben herumflicken konnte. Mit Ehrfurcht an sie heranzutreten, sie als unantastbares Vermächtnis anzusehen, soweit sind wir heut noch nicht. Daß Umdichtungen ins „Neudeutsche" solch ein altes Lied einfach totschlagen, scheint nicht eingesehen zu werden. Das beweisen einige Publikationen der letzten Jahre. In solch einem zurechtgedrechselten, schön geordneten, ich möchte ") Wackernagel, „Das deutsche Kirchenlied von der ältesten Zeit bis zu Anfang des XVII. Jahrhunderts". Leipzig, B. G. Teubner. 1877.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/39>, abgerufen am 22.07.2024.