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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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zu Berlin, ins. Zerm. quart. 494, Is. Jahrhundert" oder "Weimarer Pap.
Hs. 0. 72 vom Jahre 1436. Blatt 45" usw.

Aber es gibt unzufriedene Seelen, denen das nicht genügt, die sogar damit
noch nicht zufrieden sind, daß ein großer Teil der Volkslieder, geistlicher und
weltlicher, gesammelt ist, in Riesenbauten, Lexikonformat, in längst vergriffenen
Ausgaben, wie der von Wackernagel, und daß alle unsere großen Bibliotheken
sie besitzen, unansleihbar, in der Handbibliothek, zum Nachschlagen. Nur daß
sie fast ille nachgeschlagen werden. Was auf den ersten Blick befriedigender
scheinen könnte, aber bei genaueren: Zusehen nicht standhält, ist, daß fast sämt¬
liche Gymnasiums- und größeren Schulbibliotheken diese Werke besitzen -- nur
merkt die Schule wenig davon. In der Schule ist für die Volkslieder "kein
Platz vorgesehen". In den Literaturstunden wird etwas "Geschichte des Volks¬
liedes" gelehrt, sie werden gestreift, mehr nicht. Ihr Platz wäre in den Gesangs¬
stunden, denn zum singen sind die besten von ihnen da. Aber gerade damit
steht es übel aus. In den Grenzboten (1909, Ur. 41) habe ich erzählt, wie
ich einen Rekognoszierungszug durch alle die Hunderte von "neuen, verbesserten
und revidierten Liederbücher für den Gebrauch an Volks- und Mittelschulen"
antrat und wie er ausfiel. Das war im Jahre 1909 und es ist nicht besser
geworden. Es wird auch dort nicht sobald besser werden. Wir, die wir die
alten Lieder lieb haben, müssen uns selbst helfen. Von meinem Versuch mit
dem Dorfkinderchor auf der Insel Reichenau habe ich ebenfalls in den Grenz¬
boten erzählt und muß mir hier versagen, von dieser Episode, die eine meiner
liebsten Erinnerungen ist, ausführlicher zu sprechen. Der Weg, den ich damals
einschlug, scheint mir gangbar für jeden, der Freude an den alten Liedern und am
Singen hat, Freude an Kindern auch, aber das gehört schon sowieso eng zusammen!

Sind denn aber unsere eigenen Kinder, unsere Kinder der "besseren Stände"
so gut versorgt, daß wir es uns leisten können, Experimente zu machen, die
uns aus dein Wege liegen? Man würde mich sehr mißverstehen, wenn man
das für meine Ansicht hielte. Unsere Kinder sind nicht gut versorgt, sie sind
sogar erbärmlich dran, schlimmer als die kleinen Dorfbarfüßer, die wenigstens
die Natur um sich haben, denn es scheint ja doch, als ob hie und da noch,
aus Heide und Waldwiese, ein Lied emporwächst aus alten, alten Wurzeln. --
Unser Stadtasphalt ist ein schlechter Boden dafür, auf solchem Boden ist es
möglich, daß Kinder aufwachsen mit alten Herzen, denen ein Volkslied mit
seiner schlichten Wärme fremder scheint, als wir Glücklicheren uns vorstellen
können -- arme Kinder! Von ihnen vor allem möchte ich jetzt sprechen, denn
es ist mir immer klarer geworden, daß der Anfang hier gemacht werden muß,
vielleicht gerade, weil es schwerer Boden ist.

Es ist so still geworden in unseren Häusern. Großstadtbewohner, denen
auf ihrer Loggia sechs Klaviere zu gleicher Zeit den Morgen verschönern, werden
mir nicht beistimmen. Sie müssen mich nur verstehen. Was da gehämmert
wird in unserer "klavierverholzten" Zeit, ist nicht Hausmusik, eher grober Unfug.


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zu Berlin, ins. Zerm. quart. 494, Is. Jahrhundert" oder „Weimarer Pap.
Hs. 0. 72 vom Jahre 1436. Blatt 45" usw.

Aber es gibt unzufriedene Seelen, denen das nicht genügt, die sogar damit
noch nicht zufrieden sind, daß ein großer Teil der Volkslieder, geistlicher und
weltlicher, gesammelt ist, in Riesenbauten, Lexikonformat, in längst vergriffenen
Ausgaben, wie der von Wackernagel, und daß alle unsere großen Bibliotheken
sie besitzen, unansleihbar, in der Handbibliothek, zum Nachschlagen. Nur daß
sie fast ille nachgeschlagen werden. Was auf den ersten Blick befriedigender
scheinen könnte, aber bei genaueren: Zusehen nicht standhält, ist, daß fast sämt¬
liche Gymnasiums- und größeren Schulbibliotheken diese Werke besitzen — nur
merkt die Schule wenig davon. In der Schule ist für die Volkslieder „kein
Platz vorgesehen". In den Literaturstunden wird etwas „Geschichte des Volks¬
liedes" gelehrt, sie werden gestreift, mehr nicht. Ihr Platz wäre in den Gesangs¬
stunden, denn zum singen sind die besten von ihnen da. Aber gerade damit
steht es übel aus. In den Grenzboten (1909, Ur. 41) habe ich erzählt, wie
ich einen Rekognoszierungszug durch alle die Hunderte von „neuen, verbesserten
und revidierten Liederbücher für den Gebrauch an Volks- und Mittelschulen"
antrat und wie er ausfiel. Das war im Jahre 1909 und es ist nicht besser
geworden. Es wird auch dort nicht sobald besser werden. Wir, die wir die
alten Lieder lieb haben, müssen uns selbst helfen. Von meinem Versuch mit
dem Dorfkinderchor auf der Insel Reichenau habe ich ebenfalls in den Grenz¬
boten erzählt und muß mir hier versagen, von dieser Episode, die eine meiner
liebsten Erinnerungen ist, ausführlicher zu sprechen. Der Weg, den ich damals
einschlug, scheint mir gangbar für jeden, der Freude an den alten Liedern und am
Singen hat, Freude an Kindern auch, aber das gehört schon sowieso eng zusammen!

Sind denn aber unsere eigenen Kinder, unsere Kinder der „besseren Stände"
so gut versorgt, daß wir es uns leisten können, Experimente zu machen, die
uns aus dein Wege liegen? Man würde mich sehr mißverstehen, wenn man
das für meine Ansicht hielte. Unsere Kinder sind nicht gut versorgt, sie sind
sogar erbärmlich dran, schlimmer als die kleinen Dorfbarfüßer, die wenigstens
die Natur um sich haben, denn es scheint ja doch, als ob hie und da noch,
aus Heide und Waldwiese, ein Lied emporwächst aus alten, alten Wurzeln. —
Unser Stadtasphalt ist ein schlechter Boden dafür, auf solchem Boden ist es
möglich, daß Kinder aufwachsen mit alten Herzen, denen ein Volkslied mit
seiner schlichten Wärme fremder scheint, als wir Glücklicheren uns vorstellen
können — arme Kinder! Von ihnen vor allem möchte ich jetzt sprechen, denn
es ist mir immer klarer geworden, daß der Anfang hier gemacht werden muß,
vielleicht gerade, weil es schwerer Boden ist.

Es ist so still geworden in unseren Häusern. Großstadtbewohner, denen
auf ihrer Loggia sechs Klaviere zu gleicher Zeit den Morgen verschönern, werden
mir nicht beistimmen. Sie müssen mich nur verstehen. Was da gehämmert
wird in unserer „klavierverholzten" Zeit, ist nicht Hausmusik, eher grober Unfug.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/38>, abgerufen am 22.07.2024.