Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Not der Ärzte

Lediglich wenn man Selbstverwaltung und Willkür des Kassenvorstandes auf
einen Nenner bringt, erhält die Phrase einen Schein von Recht." Und weiter:
"Dagegen liegen viele Zeugnisse vor von Kassen, die die freie Arztwahl haben
und nur gut damit fahren." Auch die große Leipziger Ortskrankenkasse, Vor¬
steher Pollender, ist damit zufrieden.

Die Schwierigkeiten der auf diesem Boden erwachsenen Kämpfe, in denen
die vereinzelten Ärzte sehr oft den kürzeren zogen, führten dann, wie schon
gesagt, nach langem Tasten dazu, dasselbe Mittel anzuwenden, das den Gegnern
zum Siege verhalf, nämlich die Organisation. Es kam der von allen anderen
Seiten verdächtigte L. W. V. zustande.

Durch den Einfluß des L. W. V. begannen nun bald die Streitigkeiten mit
den Kassen ein anderes Aussehen anzunehmen. Das leichte Spiel einzelnen
Ärzten gegenüber war aus, die Ärzte hielten ebenso zusammen wie die organi¬
sierten Kassen, und nun kam es bald zu großen Kraftproben, bei denen die
Kassen noch immer günstiger standen, weil es sich bei ihnen nicht um Berufs¬
fragen, oder gar um die bürgerliche Existenz handelte wie bei den Ärzten.
Diese Kämpfe, von denen die größeren auch in die Presse gelangten, sind beiden
Teilen ohne Zweifel schädlich gewesen; aber aus dem Vorstehenden wird ersichtlich
sein, daß die Ärzte durch die Lage der Dinge den gesamten ärztlichen Stand
mit Recht gefährdet sahen. Daß sie sich dem nicht schweigend unterwerfen
wollten, wird ihnen kein billig Denkender verargen.

Darüber kann kein Zweifel sein: der L. W. V. war den sonstigen Beteiligten,
die sich in den Versicherungen nach Wunsch eingerichtet hatten, herzlich un¬
bequem. An Stelle eines durch Uneinigkeit und Konkurrenz zerrissenen Standes
war eine neue, kräftige, einheitlich geleitete Organisation getreten und verlangte
auch ihren Platz an der Sonne. Allgemeines Erstaunen, höchste moralische Ent¬
rüstung, stilles, oft auch recht lautes Zedern über den frechen Spatz I Alle Beord-
nungen, alle Berechnungen schienen zuschanden zu werden; eine neue, ärgerliche
Arbeit stand bevor. Und doch war die Absicht des L. W. V. nur auf friedliche
Arbeit gerichtet; wer seine Berechtigung anerkannte, fand ihn zu sachlicher Er¬
ledigung bereit. Er machte keineswegs die freie Arztwahl zur conclitio sine ama
non, sondern ließ alle alten Verhältnisse, soweit die Beteiligten zufrieden waren,
unberührt und störte keinen Besitz. Wurde freilich der Frieden gebrochen, so
stand er den Ärzten kräftig zur Seite und suchte dabei seine Organisation zur
Geltung zu bringen, unter Umständen die freie Arztwahl durchzusetzen.

Das Verhältnis zu den Berufsgenossenschaften war im ganzen von Anfang
an gut und blieb es. Mit den Invaliden- und Altersversicherungen sind einige
kleinere Zwistigkeiten vorgekommen; von der bureaukratischen Leitung dieser sehr
mächtigen Anstalten, welche den dringenden Wunsch haben, ihre Herrschaft auch
über die anderen Versicherungszweige auszudehnen, geht schon eine starke Strö¬
mung gegen die Ärzte aus. Der Hauptwiderstand wird von den Krankenkassen
geleistet. Sie sind in einigen großen Verbänden vereinigt, von denen der Verband


Die Not der Ärzte

Lediglich wenn man Selbstverwaltung und Willkür des Kassenvorstandes auf
einen Nenner bringt, erhält die Phrase einen Schein von Recht." Und weiter:
„Dagegen liegen viele Zeugnisse vor von Kassen, die die freie Arztwahl haben
und nur gut damit fahren." Auch die große Leipziger Ortskrankenkasse, Vor¬
steher Pollender, ist damit zufrieden.

Die Schwierigkeiten der auf diesem Boden erwachsenen Kämpfe, in denen
die vereinzelten Ärzte sehr oft den kürzeren zogen, führten dann, wie schon
gesagt, nach langem Tasten dazu, dasselbe Mittel anzuwenden, das den Gegnern
zum Siege verhalf, nämlich die Organisation. Es kam der von allen anderen
Seiten verdächtigte L. W. V. zustande.

Durch den Einfluß des L. W. V. begannen nun bald die Streitigkeiten mit
den Kassen ein anderes Aussehen anzunehmen. Das leichte Spiel einzelnen
Ärzten gegenüber war aus, die Ärzte hielten ebenso zusammen wie die organi¬
sierten Kassen, und nun kam es bald zu großen Kraftproben, bei denen die
Kassen noch immer günstiger standen, weil es sich bei ihnen nicht um Berufs¬
fragen, oder gar um die bürgerliche Existenz handelte wie bei den Ärzten.
Diese Kämpfe, von denen die größeren auch in die Presse gelangten, sind beiden
Teilen ohne Zweifel schädlich gewesen; aber aus dem Vorstehenden wird ersichtlich
sein, daß die Ärzte durch die Lage der Dinge den gesamten ärztlichen Stand
mit Recht gefährdet sahen. Daß sie sich dem nicht schweigend unterwerfen
wollten, wird ihnen kein billig Denkender verargen.

Darüber kann kein Zweifel sein: der L. W. V. war den sonstigen Beteiligten,
die sich in den Versicherungen nach Wunsch eingerichtet hatten, herzlich un¬
bequem. An Stelle eines durch Uneinigkeit und Konkurrenz zerrissenen Standes
war eine neue, kräftige, einheitlich geleitete Organisation getreten und verlangte
auch ihren Platz an der Sonne. Allgemeines Erstaunen, höchste moralische Ent¬
rüstung, stilles, oft auch recht lautes Zedern über den frechen Spatz I Alle Beord-
nungen, alle Berechnungen schienen zuschanden zu werden; eine neue, ärgerliche
Arbeit stand bevor. Und doch war die Absicht des L. W. V. nur auf friedliche
Arbeit gerichtet; wer seine Berechtigung anerkannte, fand ihn zu sachlicher Er¬
ledigung bereit. Er machte keineswegs die freie Arztwahl zur conclitio sine ama
non, sondern ließ alle alten Verhältnisse, soweit die Beteiligten zufrieden waren,
unberührt und störte keinen Besitz. Wurde freilich der Frieden gebrochen, so
stand er den Ärzten kräftig zur Seite und suchte dabei seine Organisation zur
Geltung zu bringen, unter Umständen die freie Arztwahl durchzusetzen.

Das Verhältnis zu den Berufsgenossenschaften war im ganzen von Anfang
an gut und blieb es. Mit den Invaliden- und Altersversicherungen sind einige
kleinere Zwistigkeiten vorgekommen; von der bureaukratischen Leitung dieser sehr
mächtigen Anstalten, welche den dringenden Wunsch haben, ihre Herrschaft auch
über die anderen Versicherungszweige auszudehnen, geht schon eine starke Strö¬
mung gegen die Ärzte aus. Der Hauptwiderstand wird von den Krankenkassen
geleistet. Sie sind in einigen großen Verbänden vereinigt, von denen der Verband


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0388" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/321471"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Not der Ärzte</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1633" prev="#ID_1632"> Lediglich wenn man Selbstverwaltung und Willkür des Kassenvorstandes auf<lb/>
einen Nenner bringt, erhält die Phrase einen Schein von Recht." Und weiter:<lb/>
&#x201E;Dagegen liegen viele Zeugnisse vor von Kassen, die die freie Arztwahl haben<lb/>
und nur gut damit fahren." Auch die große Leipziger Ortskrankenkasse, Vor¬<lb/>
steher Pollender, ist damit zufrieden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1634"> Die Schwierigkeiten der auf diesem Boden erwachsenen Kämpfe, in denen<lb/>
die vereinzelten Ärzte sehr oft den kürzeren zogen, führten dann, wie schon<lb/>
gesagt, nach langem Tasten dazu, dasselbe Mittel anzuwenden, das den Gegnern<lb/>
zum Siege verhalf, nämlich die Organisation. Es kam der von allen anderen<lb/>
Seiten verdächtigte L. W. V. zustande.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1635"> Durch den Einfluß des L. W. V. begannen nun bald die Streitigkeiten mit<lb/>
den Kassen ein anderes Aussehen anzunehmen. Das leichte Spiel einzelnen<lb/>
Ärzten gegenüber war aus, die Ärzte hielten ebenso zusammen wie die organi¬<lb/>
sierten Kassen, und nun kam es bald zu großen Kraftproben, bei denen die<lb/>
Kassen noch immer günstiger standen, weil es sich bei ihnen nicht um Berufs¬<lb/>
fragen, oder gar um die bürgerliche Existenz handelte wie bei den Ärzten.<lb/>
Diese Kämpfe, von denen die größeren auch in die Presse gelangten, sind beiden<lb/>
Teilen ohne Zweifel schädlich gewesen; aber aus dem Vorstehenden wird ersichtlich<lb/>
sein, daß die Ärzte durch die Lage der Dinge den gesamten ärztlichen Stand<lb/>
mit Recht gefährdet sahen. Daß sie sich dem nicht schweigend unterwerfen<lb/>
wollten, wird ihnen kein billig Denkender verargen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1636"> Darüber kann kein Zweifel sein: der L. W. V. war den sonstigen Beteiligten,<lb/>
die sich in den Versicherungen nach Wunsch eingerichtet hatten, herzlich un¬<lb/>
bequem. An Stelle eines durch Uneinigkeit und Konkurrenz zerrissenen Standes<lb/>
war eine neue, kräftige, einheitlich geleitete Organisation getreten und verlangte<lb/>
auch ihren Platz an der Sonne. Allgemeines Erstaunen, höchste moralische Ent¬<lb/>
rüstung, stilles, oft auch recht lautes Zedern über den frechen Spatz I Alle Beord-<lb/>
nungen, alle Berechnungen schienen zuschanden zu werden; eine neue, ärgerliche<lb/>
Arbeit stand bevor. Und doch war die Absicht des L. W. V. nur auf friedliche<lb/>
Arbeit gerichtet; wer seine Berechtigung anerkannte, fand ihn zu sachlicher Er¬<lb/>
ledigung bereit. Er machte keineswegs die freie Arztwahl zur conclitio sine ama<lb/>
non, sondern ließ alle alten Verhältnisse, soweit die Beteiligten zufrieden waren,<lb/>
unberührt und störte keinen Besitz. Wurde freilich der Frieden gebrochen, so<lb/>
stand er den Ärzten kräftig zur Seite und suchte dabei seine Organisation zur<lb/>
Geltung zu bringen, unter Umständen die freie Arztwahl durchzusetzen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1637" next="#ID_1638"> Das Verhältnis zu den Berufsgenossenschaften war im ganzen von Anfang<lb/>
an gut und blieb es. Mit den Invaliden- und Altersversicherungen sind einige<lb/>
kleinere Zwistigkeiten vorgekommen; von der bureaukratischen Leitung dieser sehr<lb/>
mächtigen Anstalten, welche den dringenden Wunsch haben, ihre Herrschaft auch<lb/>
über die anderen Versicherungszweige auszudehnen, geht schon eine starke Strö¬<lb/>
mung gegen die Ärzte aus. Der Hauptwiderstand wird von den Krankenkassen<lb/>
geleistet. Sie sind in einigen großen Verbänden vereinigt, von denen der Verband</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0388] Die Not der Ärzte Lediglich wenn man Selbstverwaltung und Willkür des Kassenvorstandes auf einen Nenner bringt, erhält die Phrase einen Schein von Recht." Und weiter: „Dagegen liegen viele Zeugnisse vor von Kassen, die die freie Arztwahl haben und nur gut damit fahren." Auch die große Leipziger Ortskrankenkasse, Vor¬ steher Pollender, ist damit zufrieden. Die Schwierigkeiten der auf diesem Boden erwachsenen Kämpfe, in denen die vereinzelten Ärzte sehr oft den kürzeren zogen, führten dann, wie schon gesagt, nach langem Tasten dazu, dasselbe Mittel anzuwenden, das den Gegnern zum Siege verhalf, nämlich die Organisation. Es kam der von allen anderen Seiten verdächtigte L. W. V. zustande. Durch den Einfluß des L. W. V. begannen nun bald die Streitigkeiten mit den Kassen ein anderes Aussehen anzunehmen. Das leichte Spiel einzelnen Ärzten gegenüber war aus, die Ärzte hielten ebenso zusammen wie die organi¬ sierten Kassen, und nun kam es bald zu großen Kraftproben, bei denen die Kassen noch immer günstiger standen, weil es sich bei ihnen nicht um Berufs¬ fragen, oder gar um die bürgerliche Existenz handelte wie bei den Ärzten. Diese Kämpfe, von denen die größeren auch in die Presse gelangten, sind beiden Teilen ohne Zweifel schädlich gewesen; aber aus dem Vorstehenden wird ersichtlich sein, daß die Ärzte durch die Lage der Dinge den gesamten ärztlichen Stand mit Recht gefährdet sahen. Daß sie sich dem nicht schweigend unterwerfen wollten, wird ihnen kein billig Denkender verargen. Darüber kann kein Zweifel sein: der L. W. V. war den sonstigen Beteiligten, die sich in den Versicherungen nach Wunsch eingerichtet hatten, herzlich un¬ bequem. An Stelle eines durch Uneinigkeit und Konkurrenz zerrissenen Standes war eine neue, kräftige, einheitlich geleitete Organisation getreten und verlangte auch ihren Platz an der Sonne. Allgemeines Erstaunen, höchste moralische Ent¬ rüstung, stilles, oft auch recht lautes Zedern über den frechen Spatz I Alle Beord- nungen, alle Berechnungen schienen zuschanden zu werden; eine neue, ärgerliche Arbeit stand bevor. Und doch war die Absicht des L. W. V. nur auf friedliche Arbeit gerichtet; wer seine Berechtigung anerkannte, fand ihn zu sachlicher Er¬ ledigung bereit. Er machte keineswegs die freie Arztwahl zur conclitio sine ama non, sondern ließ alle alten Verhältnisse, soweit die Beteiligten zufrieden waren, unberührt und störte keinen Besitz. Wurde freilich der Frieden gebrochen, so stand er den Ärzten kräftig zur Seite und suchte dabei seine Organisation zur Geltung zu bringen, unter Umständen die freie Arztwahl durchzusetzen. Das Verhältnis zu den Berufsgenossenschaften war im ganzen von Anfang an gut und blieb es. Mit den Invaliden- und Altersversicherungen sind einige kleinere Zwistigkeiten vorgekommen; von der bureaukratischen Leitung dieser sehr mächtigen Anstalten, welche den dringenden Wunsch haben, ihre Herrschaft auch über die anderen Versicherungszweige auszudehnen, geht schon eine starke Strö¬ mung gegen die Ärzte aus. Der Hauptwiderstand wird von den Krankenkassen geleistet. Sie sind in einigen großen Verbänden vereinigt, von denen der Verband

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/388
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/388>, abgerufen am 29.06.2024.