Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Not der Ärzte

können unter einer größeren Zahl von Ärzten eine Wahl treffen als bei dem
System fixierter Kassenärzte; daß sie völlig frei auch internationale Autoritäten
und Spezialisten wählen könnten, wie von feiten der Kassen behauptet wird, trifft
nicht zu, denn solche Leute unterwerfen sich den Bedingungen nicht. Der Kranke
hat mithin die Möglichkeit, unter den gewöhnlichen Ärzten seinen Vertrauens¬
mann 'zu wählen; damit ist wenigstens ein Teil des richtigen Verhältnisses
wieder hergestellt. Der Arzt anderseits ist nicht mehr auf die Anstellung durch
den Kassenvorstand angewiesen; sind die Bedingungen einmal festgestellt, so
genügt für den Arzt die Erklärung der Annahme. Diese Regelung kommt
natürlich nur da zu Raum, wo eine größere Zahl von Ärzten wohnt; auf dem
platten Lande, wo nur vereinzelte Ärzte leben, ist kein Platz für sie. In der
Schweiz ist die freie Arztwahl im Februar 1912 durch Volksabstimmung ein¬
geführt. In Österreich und in England bereiten sich die Ärzte vor, die
durch die sozialen Gesetze bedingten Schädigungen mittelst Zusammenschlusses
abzuwehren. Es zeigen sich bei sozialer Überspannung überall dieselben Folgen.

Es leuchtet ein, daß unter dem System der fixierten Kassenärzte die Freizügigkeit
stark beschränkt ist. Denn der angehende Arzt findet wegen der großen
Ausdehnung der Kassen, die noch gesteigert werden wird, bei jenem System
nirgends freies Feld, alle Kassenpraxis vielmehr in festen Händen. Also muß
der Anfänger entweder Mittel haben, um warten zu können, oder er ist auf
Protektion, Nepotismus usw. angewiesen, d. h. er ist in der Hand der Vor¬
stände. Bei freier Arztwahl hingegen kann er sich den Platz zur Nieder¬
lassung wählen. Damit ist der eigentliche Grund der Feindschaft der
Kafsenvorstände gegen die freie Arztwahl aufgedeckt: sie nimmt ihnen die Herr¬
schaft aus der Hand über die Ärzte, die nicht mehr von ihnen angestellt
werden. Fixierte Kassenärzte sind in der Hand der Vorstände, sind ihre Beamten.
Fast alle Kassen sträubten sich daher aufs äußerste gegen die neue Forderung.
Es wurden zwei Behauptungen dagegen aufgestellt: die Kosten sollten zu stark
wachsen und die Selbstverwaltung sollte an die Ärzte übergehen. Letzteres würde
nur dann richtig sein, wenn die Verwaltung sich auf den ärztlichen Dienst
beschränkte; außer diesem umfaßt sie aber noch viele andere wichtige Dinge, auf
welche die Ärzte keinen Einfluß haben. Gegen eine bedenkliche Steigerung der
Kosten wurden von den Ärzten selbst Vorsichtsmaßregeln vorgeschlagen und auch
mit Erfolg durchgeführt, vor allem Kontrollkommissionen, unter Beteiligung der
Kassen. Diese haben eine erhebliche Steigerung der Kosten verhütet. Es gibt
daher schon jetzt große Bezirke, wo die freie Arztwahl zur Zufriedenheit aller
Parteien arbeitet. Die Vorteile, auch für die Versicherten, liegen auf der Hand,
aber die Versicherten sind heute mundtot und die Kassenrendanten wirtschaften
allein. Unter den nicht sozialdemokratischen Arbeitern fängt es jedoch an zu tagen.
So sagt der Gewerkverein, Zentralorgan des Verbandes deutscher Gewerk¬
vereine (Februar und März 1911): "Daß die organisierte freie Arztwahl die
Selbstverwaltung der Krankenkassen beeinträchtige, ist eine agitatorische Phrase.


Die Not der Ärzte

können unter einer größeren Zahl von Ärzten eine Wahl treffen als bei dem
System fixierter Kassenärzte; daß sie völlig frei auch internationale Autoritäten
und Spezialisten wählen könnten, wie von feiten der Kassen behauptet wird, trifft
nicht zu, denn solche Leute unterwerfen sich den Bedingungen nicht. Der Kranke
hat mithin die Möglichkeit, unter den gewöhnlichen Ärzten seinen Vertrauens¬
mann 'zu wählen; damit ist wenigstens ein Teil des richtigen Verhältnisses
wieder hergestellt. Der Arzt anderseits ist nicht mehr auf die Anstellung durch
den Kassenvorstand angewiesen; sind die Bedingungen einmal festgestellt, so
genügt für den Arzt die Erklärung der Annahme. Diese Regelung kommt
natürlich nur da zu Raum, wo eine größere Zahl von Ärzten wohnt; auf dem
platten Lande, wo nur vereinzelte Ärzte leben, ist kein Platz für sie. In der
Schweiz ist die freie Arztwahl im Februar 1912 durch Volksabstimmung ein¬
geführt. In Österreich und in England bereiten sich die Ärzte vor, die
durch die sozialen Gesetze bedingten Schädigungen mittelst Zusammenschlusses
abzuwehren. Es zeigen sich bei sozialer Überspannung überall dieselben Folgen.

Es leuchtet ein, daß unter dem System der fixierten Kassenärzte die Freizügigkeit
stark beschränkt ist. Denn der angehende Arzt findet wegen der großen
Ausdehnung der Kassen, die noch gesteigert werden wird, bei jenem System
nirgends freies Feld, alle Kassenpraxis vielmehr in festen Händen. Also muß
der Anfänger entweder Mittel haben, um warten zu können, oder er ist auf
Protektion, Nepotismus usw. angewiesen, d. h. er ist in der Hand der Vor¬
stände. Bei freier Arztwahl hingegen kann er sich den Platz zur Nieder¬
lassung wählen. Damit ist der eigentliche Grund der Feindschaft der
Kafsenvorstände gegen die freie Arztwahl aufgedeckt: sie nimmt ihnen die Herr¬
schaft aus der Hand über die Ärzte, die nicht mehr von ihnen angestellt
werden. Fixierte Kassenärzte sind in der Hand der Vorstände, sind ihre Beamten.
Fast alle Kassen sträubten sich daher aufs äußerste gegen die neue Forderung.
Es wurden zwei Behauptungen dagegen aufgestellt: die Kosten sollten zu stark
wachsen und die Selbstverwaltung sollte an die Ärzte übergehen. Letzteres würde
nur dann richtig sein, wenn die Verwaltung sich auf den ärztlichen Dienst
beschränkte; außer diesem umfaßt sie aber noch viele andere wichtige Dinge, auf
welche die Ärzte keinen Einfluß haben. Gegen eine bedenkliche Steigerung der
Kosten wurden von den Ärzten selbst Vorsichtsmaßregeln vorgeschlagen und auch
mit Erfolg durchgeführt, vor allem Kontrollkommissionen, unter Beteiligung der
Kassen. Diese haben eine erhebliche Steigerung der Kosten verhütet. Es gibt
daher schon jetzt große Bezirke, wo die freie Arztwahl zur Zufriedenheit aller
Parteien arbeitet. Die Vorteile, auch für die Versicherten, liegen auf der Hand,
aber die Versicherten sind heute mundtot und die Kassenrendanten wirtschaften
allein. Unter den nicht sozialdemokratischen Arbeitern fängt es jedoch an zu tagen.
So sagt der Gewerkverein, Zentralorgan des Verbandes deutscher Gewerk¬
vereine (Februar und März 1911): „Daß die organisierte freie Arztwahl die
Selbstverwaltung der Krankenkassen beeinträchtige, ist eine agitatorische Phrase.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0387" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/321470"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Not der Ärzte</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1631" prev="#ID_1630"> können unter einer größeren Zahl von Ärzten eine Wahl treffen als bei dem<lb/>
System fixierter Kassenärzte; daß sie völlig frei auch internationale Autoritäten<lb/>
und Spezialisten wählen könnten, wie von feiten der Kassen behauptet wird, trifft<lb/>
nicht zu, denn solche Leute unterwerfen sich den Bedingungen nicht. Der Kranke<lb/>
hat mithin die Möglichkeit, unter den gewöhnlichen Ärzten seinen Vertrauens¬<lb/>
mann 'zu wählen; damit ist wenigstens ein Teil des richtigen Verhältnisses<lb/>
wieder hergestellt. Der Arzt anderseits ist nicht mehr auf die Anstellung durch<lb/>
den Kassenvorstand angewiesen; sind die Bedingungen einmal festgestellt, so<lb/>
genügt für den Arzt die Erklärung der Annahme. Diese Regelung kommt<lb/>
natürlich nur da zu Raum, wo eine größere Zahl von Ärzten wohnt; auf dem<lb/>
platten Lande, wo nur vereinzelte Ärzte leben, ist kein Platz für sie. In der<lb/>
Schweiz ist die freie Arztwahl im Februar 1912 durch Volksabstimmung ein¬<lb/>
geführt. In Österreich und in England bereiten sich die Ärzte vor, die<lb/>
durch die sozialen Gesetze bedingten Schädigungen mittelst Zusammenschlusses<lb/>
abzuwehren. Es zeigen sich bei sozialer Überspannung überall dieselben Folgen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1632" next="#ID_1633"> Es leuchtet ein, daß unter dem System der fixierten Kassenärzte die Freizügigkeit<lb/>
stark beschränkt ist. Denn der angehende Arzt findet wegen der großen<lb/>
Ausdehnung der Kassen, die noch gesteigert werden wird, bei jenem System<lb/>
nirgends freies Feld, alle Kassenpraxis vielmehr in festen Händen. Also muß<lb/>
der Anfänger entweder Mittel haben, um warten zu können, oder er ist auf<lb/>
Protektion, Nepotismus usw. angewiesen, d. h. er ist in der Hand der Vor¬<lb/>
stände. Bei freier Arztwahl hingegen kann er sich den Platz zur Nieder¬<lb/>
lassung wählen. Damit ist der eigentliche Grund der Feindschaft der<lb/>
Kafsenvorstände gegen die freie Arztwahl aufgedeckt: sie nimmt ihnen die Herr¬<lb/>
schaft aus der Hand über die Ärzte, die nicht mehr von ihnen angestellt<lb/>
werden. Fixierte Kassenärzte sind in der Hand der Vorstände, sind ihre Beamten.<lb/>
Fast alle Kassen sträubten sich daher aufs äußerste gegen die neue Forderung.<lb/>
Es wurden zwei Behauptungen dagegen aufgestellt: die Kosten sollten zu stark<lb/>
wachsen und die Selbstverwaltung sollte an die Ärzte übergehen. Letzteres würde<lb/>
nur dann richtig sein, wenn die Verwaltung sich auf den ärztlichen Dienst<lb/>
beschränkte; außer diesem umfaßt sie aber noch viele andere wichtige Dinge, auf<lb/>
welche die Ärzte keinen Einfluß haben. Gegen eine bedenkliche Steigerung der<lb/>
Kosten wurden von den Ärzten selbst Vorsichtsmaßregeln vorgeschlagen und auch<lb/>
mit Erfolg durchgeführt, vor allem Kontrollkommissionen, unter Beteiligung der<lb/>
Kassen. Diese haben eine erhebliche Steigerung der Kosten verhütet. Es gibt<lb/>
daher schon jetzt große Bezirke, wo die freie Arztwahl zur Zufriedenheit aller<lb/>
Parteien arbeitet. Die Vorteile, auch für die Versicherten, liegen auf der Hand,<lb/>
aber die Versicherten sind heute mundtot und die Kassenrendanten wirtschaften<lb/>
allein. Unter den nicht sozialdemokratischen Arbeitern fängt es jedoch an zu tagen.<lb/>
So sagt der Gewerkverein, Zentralorgan des Verbandes deutscher Gewerk¬<lb/>
vereine (Februar und März 1911): &#x201E;Daß die organisierte freie Arztwahl die<lb/>
Selbstverwaltung der Krankenkassen beeinträchtige, ist eine agitatorische Phrase.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0387] Die Not der Ärzte können unter einer größeren Zahl von Ärzten eine Wahl treffen als bei dem System fixierter Kassenärzte; daß sie völlig frei auch internationale Autoritäten und Spezialisten wählen könnten, wie von feiten der Kassen behauptet wird, trifft nicht zu, denn solche Leute unterwerfen sich den Bedingungen nicht. Der Kranke hat mithin die Möglichkeit, unter den gewöhnlichen Ärzten seinen Vertrauens¬ mann 'zu wählen; damit ist wenigstens ein Teil des richtigen Verhältnisses wieder hergestellt. Der Arzt anderseits ist nicht mehr auf die Anstellung durch den Kassenvorstand angewiesen; sind die Bedingungen einmal festgestellt, so genügt für den Arzt die Erklärung der Annahme. Diese Regelung kommt natürlich nur da zu Raum, wo eine größere Zahl von Ärzten wohnt; auf dem platten Lande, wo nur vereinzelte Ärzte leben, ist kein Platz für sie. In der Schweiz ist die freie Arztwahl im Februar 1912 durch Volksabstimmung ein¬ geführt. In Österreich und in England bereiten sich die Ärzte vor, die durch die sozialen Gesetze bedingten Schädigungen mittelst Zusammenschlusses abzuwehren. Es zeigen sich bei sozialer Überspannung überall dieselben Folgen. Es leuchtet ein, daß unter dem System der fixierten Kassenärzte die Freizügigkeit stark beschränkt ist. Denn der angehende Arzt findet wegen der großen Ausdehnung der Kassen, die noch gesteigert werden wird, bei jenem System nirgends freies Feld, alle Kassenpraxis vielmehr in festen Händen. Also muß der Anfänger entweder Mittel haben, um warten zu können, oder er ist auf Protektion, Nepotismus usw. angewiesen, d. h. er ist in der Hand der Vor¬ stände. Bei freier Arztwahl hingegen kann er sich den Platz zur Nieder¬ lassung wählen. Damit ist der eigentliche Grund der Feindschaft der Kafsenvorstände gegen die freie Arztwahl aufgedeckt: sie nimmt ihnen die Herr¬ schaft aus der Hand über die Ärzte, die nicht mehr von ihnen angestellt werden. Fixierte Kassenärzte sind in der Hand der Vorstände, sind ihre Beamten. Fast alle Kassen sträubten sich daher aufs äußerste gegen die neue Forderung. Es wurden zwei Behauptungen dagegen aufgestellt: die Kosten sollten zu stark wachsen und die Selbstverwaltung sollte an die Ärzte übergehen. Letzteres würde nur dann richtig sein, wenn die Verwaltung sich auf den ärztlichen Dienst beschränkte; außer diesem umfaßt sie aber noch viele andere wichtige Dinge, auf welche die Ärzte keinen Einfluß haben. Gegen eine bedenkliche Steigerung der Kosten wurden von den Ärzten selbst Vorsichtsmaßregeln vorgeschlagen und auch mit Erfolg durchgeführt, vor allem Kontrollkommissionen, unter Beteiligung der Kassen. Diese haben eine erhebliche Steigerung der Kosten verhütet. Es gibt daher schon jetzt große Bezirke, wo die freie Arztwahl zur Zufriedenheit aller Parteien arbeitet. Die Vorteile, auch für die Versicherten, liegen auf der Hand, aber die Versicherten sind heute mundtot und die Kassenrendanten wirtschaften allein. Unter den nicht sozialdemokratischen Arbeitern fängt es jedoch an zu tagen. So sagt der Gewerkverein, Zentralorgan des Verbandes deutscher Gewerk¬ vereine (Februar und März 1911): „Daß die organisierte freie Arztwahl die Selbstverwaltung der Krankenkassen beeinträchtige, ist eine agitatorische Phrase.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/387
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/387>, abgerufen am 01.07.2024.