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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Die Not der Ärzte

rheinisch-westfälischer Betriebskrankenkassen, Sitz Essen a. d. Ruhr, Leiter Dr. Hall¬
bach, und der Verband deutscher Ortskrankenkassen genannt sein mögen, in dem
Herr Fräßdorf in Dresden eine Hauptrolle spielt. Diese starken Körper drängten
nun mit Macht zur Gegenwehr. Sie versuchten, eine Vereinigung unter den
fixierten Kassenärzten in entgegengesetzter Richtung zu veranlassen, hatten damit
aber nur minimalen Erfolg.

In den Entwurf der R. V. O., der 1910 vorgelegt wurde, wurden in
dem Abschnitt, der von dem Verhältnis der Ärzte zu den Versicherungsträgern
handelt, nicht weniger als fünfundzwanzig Paragraphen eingefügt, welche be¬
zweckten, die jetzt einigen Ärzte in zwei Lager zu trennen und durch diese Zer¬
splitterung der geplanten Behördenorganisation zu unterwerfen. Zu dem Zweck sollte
u. a. die Anrufung der ärztlichen Ehrengerichte in Versicherungssachen verboten
werden. Diese Instanzen haben auch ehrenwörtliche Verpflichtungen zu kon¬
trollieren. Durch diese gerade suchte der L. W. V. bei nachgesuchter Hilfe in
Streitfällen zu wirken. Dieses Mittel sollte nun den Ärzten durch eine Bestimmung
des Entwurfs genommen werden. Aber es hat sich auch bei dieser Gelegenheit
gezeigt, wie schwer es ist, in die ärztliche Praxis mit Gesetzen eingreifen zu
wollen. Bei Beratung dieser langen und komplizierten Paragraphen wurde
weitgehende Unkenntnis der bestehenden Verhältnissen entdeckt. Der Entwurf
ignorierte viele die Beteiligten befriedigende Kontrakte, welche durch die geplante
Neuerung gefährdet, ja zerstört worden wären. Am Ende der langen Beratungen
wußte Staatssekretär Delbrück die Unbrauchbarst des Abschnittes zugestehen.
Nach manchen weiteren Versuchen hat dann die Kommisston eine Fassung
genehmigt, die von allen Vorschriften nichts übrig läßt, als die eines in
leben Einzelfall zu vereinbarenden schriftlichen Kontrakts zwischen den Ärzten
und den Verstchcrungsträgern; nur für den Fall gänzlichen Versagens der Ärzte
ist eine Bestimmung über den Ersatz eingefügt, die den Charakter der Notverord¬
nung an der Stirn trägt und nach Ansicht von Kennern schwere Gefahren für
Kassen wie Kranke befürchten läßt. Dabei muß gesagt werden, daß die Ärzte
nie gedroht haben, Kranken ihre Hilfe zu verweigern; sie machen nur einen
Unterschied zwischen Kranken und Krankenkassen, und halten beides für grund¬
verschiedene Dinge. -- Gar sehr muß ferner auffallen, mit welch' verschiedenem
Maße die R. V. O. mißt. Auch die Verhältnisse der Apotheker zu den Kassen
sind darin geordnet. Das geschieht in einem einzigen, kurzen und klaren
Paragraphen (375), der den Apothekern alles das gibt, was den Ärzten ent¬
zogen werden soll, nämlich die freie Wahl durch den Kranken. Die Kassen
sind damit nicht zufrieden.

Ende 1911 ist nun die neue R. V. O. verabschiedet und wird binnen kurzem ins
Leben treten. Die zahlreichen Reibungsflächen zwischen den sozialen Instituten
und den Ärzten bleiben bestehen. Die Ärzte werden dementsprechend ihre Orga¬
nisation noch befestigen, sie werden sich nicht widerstandslos den Kassengewal.
ligen unterwerfen, deren Machtbewußtsein durch den Beistand der Beamtenschaft


Die Not der Ärzte

rheinisch-westfälischer Betriebskrankenkassen, Sitz Essen a. d. Ruhr, Leiter Dr. Hall¬
bach, und der Verband deutscher Ortskrankenkassen genannt sein mögen, in dem
Herr Fräßdorf in Dresden eine Hauptrolle spielt. Diese starken Körper drängten
nun mit Macht zur Gegenwehr. Sie versuchten, eine Vereinigung unter den
fixierten Kassenärzten in entgegengesetzter Richtung zu veranlassen, hatten damit
aber nur minimalen Erfolg.

In den Entwurf der R. V. O., der 1910 vorgelegt wurde, wurden in
dem Abschnitt, der von dem Verhältnis der Ärzte zu den Versicherungsträgern
handelt, nicht weniger als fünfundzwanzig Paragraphen eingefügt, welche be¬
zweckten, die jetzt einigen Ärzte in zwei Lager zu trennen und durch diese Zer¬
splitterung der geplanten Behördenorganisation zu unterwerfen. Zu dem Zweck sollte
u. a. die Anrufung der ärztlichen Ehrengerichte in Versicherungssachen verboten
werden. Diese Instanzen haben auch ehrenwörtliche Verpflichtungen zu kon¬
trollieren. Durch diese gerade suchte der L. W. V. bei nachgesuchter Hilfe in
Streitfällen zu wirken. Dieses Mittel sollte nun den Ärzten durch eine Bestimmung
des Entwurfs genommen werden. Aber es hat sich auch bei dieser Gelegenheit
gezeigt, wie schwer es ist, in die ärztliche Praxis mit Gesetzen eingreifen zu
wollen. Bei Beratung dieser langen und komplizierten Paragraphen wurde
weitgehende Unkenntnis der bestehenden Verhältnissen entdeckt. Der Entwurf
ignorierte viele die Beteiligten befriedigende Kontrakte, welche durch die geplante
Neuerung gefährdet, ja zerstört worden wären. Am Ende der langen Beratungen
wußte Staatssekretär Delbrück die Unbrauchbarst des Abschnittes zugestehen.
Nach manchen weiteren Versuchen hat dann die Kommisston eine Fassung
genehmigt, die von allen Vorschriften nichts übrig läßt, als die eines in
leben Einzelfall zu vereinbarenden schriftlichen Kontrakts zwischen den Ärzten
und den Verstchcrungsträgern; nur für den Fall gänzlichen Versagens der Ärzte
ist eine Bestimmung über den Ersatz eingefügt, die den Charakter der Notverord¬
nung an der Stirn trägt und nach Ansicht von Kennern schwere Gefahren für
Kassen wie Kranke befürchten läßt. Dabei muß gesagt werden, daß die Ärzte
nie gedroht haben, Kranken ihre Hilfe zu verweigern; sie machen nur einen
Unterschied zwischen Kranken und Krankenkassen, und halten beides für grund¬
verschiedene Dinge. — Gar sehr muß ferner auffallen, mit welch' verschiedenem
Maße die R. V. O. mißt. Auch die Verhältnisse der Apotheker zu den Kassen
sind darin geordnet. Das geschieht in einem einzigen, kurzen und klaren
Paragraphen (375), der den Apothekern alles das gibt, was den Ärzten ent¬
zogen werden soll, nämlich die freie Wahl durch den Kranken. Die Kassen
sind damit nicht zufrieden.

Ende 1911 ist nun die neue R. V. O. verabschiedet und wird binnen kurzem ins
Leben treten. Die zahlreichen Reibungsflächen zwischen den sozialen Instituten
und den Ärzten bleiben bestehen. Die Ärzte werden dementsprechend ihre Orga¬
nisation noch befestigen, sie werden sich nicht widerstandslos den Kassengewal.
ligen unterwerfen, deren Machtbewußtsein durch den Beistand der Beamtenschaft


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[0389] Die Not der Ärzte rheinisch-westfälischer Betriebskrankenkassen, Sitz Essen a. d. Ruhr, Leiter Dr. Hall¬ bach, und der Verband deutscher Ortskrankenkassen genannt sein mögen, in dem Herr Fräßdorf in Dresden eine Hauptrolle spielt. Diese starken Körper drängten nun mit Macht zur Gegenwehr. Sie versuchten, eine Vereinigung unter den fixierten Kassenärzten in entgegengesetzter Richtung zu veranlassen, hatten damit aber nur minimalen Erfolg. In den Entwurf der R. V. O., der 1910 vorgelegt wurde, wurden in dem Abschnitt, der von dem Verhältnis der Ärzte zu den Versicherungsträgern handelt, nicht weniger als fünfundzwanzig Paragraphen eingefügt, welche be¬ zweckten, die jetzt einigen Ärzte in zwei Lager zu trennen und durch diese Zer¬ splitterung der geplanten Behördenorganisation zu unterwerfen. Zu dem Zweck sollte u. a. die Anrufung der ärztlichen Ehrengerichte in Versicherungssachen verboten werden. Diese Instanzen haben auch ehrenwörtliche Verpflichtungen zu kon¬ trollieren. Durch diese gerade suchte der L. W. V. bei nachgesuchter Hilfe in Streitfällen zu wirken. Dieses Mittel sollte nun den Ärzten durch eine Bestimmung des Entwurfs genommen werden. Aber es hat sich auch bei dieser Gelegenheit gezeigt, wie schwer es ist, in die ärztliche Praxis mit Gesetzen eingreifen zu wollen. Bei Beratung dieser langen und komplizierten Paragraphen wurde weitgehende Unkenntnis der bestehenden Verhältnissen entdeckt. Der Entwurf ignorierte viele die Beteiligten befriedigende Kontrakte, welche durch die geplante Neuerung gefährdet, ja zerstört worden wären. Am Ende der langen Beratungen wußte Staatssekretär Delbrück die Unbrauchbarst des Abschnittes zugestehen. Nach manchen weiteren Versuchen hat dann die Kommisston eine Fassung genehmigt, die von allen Vorschriften nichts übrig läßt, als die eines in leben Einzelfall zu vereinbarenden schriftlichen Kontrakts zwischen den Ärzten und den Verstchcrungsträgern; nur für den Fall gänzlichen Versagens der Ärzte ist eine Bestimmung über den Ersatz eingefügt, die den Charakter der Notverord¬ nung an der Stirn trägt und nach Ansicht von Kennern schwere Gefahren für Kassen wie Kranke befürchten läßt. Dabei muß gesagt werden, daß die Ärzte nie gedroht haben, Kranken ihre Hilfe zu verweigern; sie machen nur einen Unterschied zwischen Kranken und Krankenkassen, und halten beides für grund¬ verschiedene Dinge. — Gar sehr muß ferner auffallen, mit welch' verschiedenem Maße die R. V. O. mißt. Auch die Verhältnisse der Apotheker zu den Kassen sind darin geordnet. Das geschieht in einem einzigen, kurzen und klaren Paragraphen (375), der den Apothekern alles das gibt, was den Ärzten ent¬ zogen werden soll, nämlich die freie Wahl durch den Kranken. Die Kassen sind damit nicht zufrieden. Ende 1911 ist nun die neue R. V. O. verabschiedet und wird binnen kurzem ins Leben treten. Die zahlreichen Reibungsflächen zwischen den sozialen Instituten und den Ärzten bleiben bestehen. Die Ärzte werden dementsprechend ihre Orga¬ nisation noch befestigen, sie werden sich nicht widerstandslos den Kassengewal. ligen unterwerfen, deren Machtbewußtsein durch den Beistand der Beamtenschaft

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/389>, abgerufen am 26.06.2024.