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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Die Not der Ärzte

trauensverhältnis zwischen Arzt und Kranken bedenklich gestört ist. Dies ist durch
die Einschiebung einer dritten Partei, eben der Krankenkasse oder sonstigen
Versicherungsanstalt, geschehen, der die Aufbringung der Mittel sowohl für
die Bezahlung der Ärzte, als für die anderen Kassenleistungen und das
Krankengeld übertragen ist. Für sie ist nicht jenes Vertrauensverhältnis sondern
die finanzielle Seite der maßgebende Gesichtspunkt. -- Daß das Verhältnis
zwischen Arzt und Kranken auf Vertrauen beruht, bedarf keiner Ausführung:
hinzuzusetzen ist nur, daß auch der Arzt' zum Kranken Vertrauen haben muß,
d. h. die Zuversicht, daß der Kranke nicht lügt und dadurch die Sicherheit der
Diagnose beeinträchtigt; auch darf der Kranke mit der Konsultation keine Neben¬
zwecke, z. B. finanzielle, verbinden.

Für den Versicherten ist die Krankheit aber oft eine Erwerbsgelegenheit
geworden; er wünscht sie möglichst auszunutzen, fängt daher an zu übertreiben
und zu lügen. Hieraus entstehen die alle Jersicherungszweige immer mehr mit
Arbeit und Kosten betastenden Betrügereien, denen der Beamtenorganismus mit
seinen Formeln wehrlos gegenübersteht, gegen die auch die Ärzte nicht genügend
gerüstet sind, und zwar nicht zum wenigsten deshalb, weil ihr Vertrauens¬
verhältnis zum Kranken gerade von dem Staat, der ihr Gutachten verlangt,
gestört ist. Der Kranke sieht im Arzte nur den Kontrolleur. Durch dies alles ist
ohne Zweifel die Stellung der Ärzte zu einer fortwährend wachsenden Anzahl
ihrer Kranken bedenklich verschlechtert, darüber können die guten Erfolge auf
medizinischem Gebiete nicht hinwegtäuschen. Diese Verschlechterung ist hervor¬
gerufen ohne ihr Zutun, ohne ihre Verschuldung, durch den Staat, der, ohne
sie zu hören, über sie verfügt hat. Eine letzte unerfreuliche Folge ist noch die
Beanspruchung ärztlicher Hilfe, die den Versicherten ja nichts kostet, bei gering¬
fügigen Erkrankungen, nach denen sonst kein Hahn krähen würde.

Auch den Ärzten sind diese Folgen der neuen Gesetze erst nach längerer
Erfahrung und namentlich unter den: Druck der zunehmenden Ausdehnung der
Versicherungen zum Bewußtsein gekommen. Früher wurden von jungen Ärzten
die Stellen der Kassenärzte als Beginn der Praxis trotz des geringen Honorars
gesucht, um später mit zunehmender Klientel wieder aufgegeben zu werden.
Das hat sich jetzt gründlich geändert. Jetzt muß die Mehrzahl der Ärzte die
Kassenpraxis bis ins späte Alter beibehalten und mancher ist in der Hauptsache
auf sie angewiesen; davon sind auch Spezialisten nicht immer ausgenommen. --
Selbstverständlich haben sie sich gegen diese Verschlechterung nach Kräften zu
wehren versucht. So erhob sich, und zwar schon vor der Gründung des L. W. V.,
der Ruf nach der sog. freien Arztwahl. Diese Forderung hat allgemach den
Rang eines Schlagwortes angenommen und verlangt eine Erklärung, weil von
der gegnerischen Seite ein bedenklicher Mißbrauch damit getrieben wird. Unter
freier Arztwahl verstehen die Ärzte, daß der Kranke die Wahl frei hat unter
den Ärzten, die sich den von der Kasse bekannt gemachten Bedingungen unter¬
werfen. Davon haben sowohl die Kranken wie die Ärzte Vorteil. Die Kranken


Die Not der Ärzte

trauensverhältnis zwischen Arzt und Kranken bedenklich gestört ist. Dies ist durch
die Einschiebung einer dritten Partei, eben der Krankenkasse oder sonstigen
Versicherungsanstalt, geschehen, der die Aufbringung der Mittel sowohl für
die Bezahlung der Ärzte, als für die anderen Kassenleistungen und das
Krankengeld übertragen ist. Für sie ist nicht jenes Vertrauensverhältnis sondern
die finanzielle Seite der maßgebende Gesichtspunkt. — Daß das Verhältnis
zwischen Arzt und Kranken auf Vertrauen beruht, bedarf keiner Ausführung:
hinzuzusetzen ist nur, daß auch der Arzt' zum Kranken Vertrauen haben muß,
d. h. die Zuversicht, daß der Kranke nicht lügt und dadurch die Sicherheit der
Diagnose beeinträchtigt; auch darf der Kranke mit der Konsultation keine Neben¬
zwecke, z. B. finanzielle, verbinden.

Für den Versicherten ist die Krankheit aber oft eine Erwerbsgelegenheit
geworden; er wünscht sie möglichst auszunutzen, fängt daher an zu übertreiben
und zu lügen. Hieraus entstehen die alle Jersicherungszweige immer mehr mit
Arbeit und Kosten betastenden Betrügereien, denen der Beamtenorganismus mit
seinen Formeln wehrlos gegenübersteht, gegen die auch die Ärzte nicht genügend
gerüstet sind, und zwar nicht zum wenigsten deshalb, weil ihr Vertrauens¬
verhältnis zum Kranken gerade von dem Staat, der ihr Gutachten verlangt,
gestört ist. Der Kranke sieht im Arzte nur den Kontrolleur. Durch dies alles ist
ohne Zweifel die Stellung der Ärzte zu einer fortwährend wachsenden Anzahl
ihrer Kranken bedenklich verschlechtert, darüber können die guten Erfolge auf
medizinischem Gebiete nicht hinwegtäuschen. Diese Verschlechterung ist hervor¬
gerufen ohne ihr Zutun, ohne ihre Verschuldung, durch den Staat, der, ohne
sie zu hören, über sie verfügt hat. Eine letzte unerfreuliche Folge ist noch die
Beanspruchung ärztlicher Hilfe, die den Versicherten ja nichts kostet, bei gering¬
fügigen Erkrankungen, nach denen sonst kein Hahn krähen würde.

Auch den Ärzten sind diese Folgen der neuen Gesetze erst nach längerer
Erfahrung und namentlich unter den: Druck der zunehmenden Ausdehnung der
Versicherungen zum Bewußtsein gekommen. Früher wurden von jungen Ärzten
die Stellen der Kassenärzte als Beginn der Praxis trotz des geringen Honorars
gesucht, um später mit zunehmender Klientel wieder aufgegeben zu werden.
Das hat sich jetzt gründlich geändert. Jetzt muß die Mehrzahl der Ärzte die
Kassenpraxis bis ins späte Alter beibehalten und mancher ist in der Hauptsache
auf sie angewiesen; davon sind auch Spezialisten nicht immer ausgenommen. —
Selbstverständlich haben sie sich gegen diese Verschlechterung nach Kräften zu
wehren versucht. So erhob sich, und zwar schon vor der Gründung des L. W. V.,
der Ruf nach der sog. freien Arztwahl. Diese Forderung hat allgemach den
Rang eines Schlagwortes angenommen und verlangt eine Erklärung, weil von
der gegnerischen Seite ein bedenklicher Mißbrauch damit getrieben wird. Unter
freier Arztwahl verstehen die Ärzte, daß der Kranke die Wahl frei hat unter
den Ärzten, die sich den von der Kasse bekannt gemachten Bedingungen unter¬
werfen. Davon haben sowohl die Kranken wie die Ärzte Vorteil. Die Kranken


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[0386] Die Not der Ärzte trauensverhältnis zwischen Arzt und Kranken bedenklich gestört ist. Dies ist durch die Einschiebung einer dritten Partei, eben der Krankenkasse oder sonstigen Versicherungsanstalt, geschehen, der die Aufbringung der Mittel sowohl für die Bezahlung der Ärzte, als für die anderen Kassenleistungen und das Krankengeld übertragen ist. Für sie ist nicht jenes Vertrauensverhältnis sondern die finanzielle Seite der maßgebende Gesichtspunkt. — Daß das Verhältnis zwischen Arzt und Kranken auf Vertrauen beruht, bedarf keiner Ausführung: hinzuzusetzen ist nur, daß auch der Arzt' zum Kranken Vertrauen haben muß, d. h. die Zuversicht, daß der Kranke nicht lügt und dadurch die Sicherheit der Diagnose beeinträchtigt; auch darf der Kranke mit der Konsultation keine Neben¬ zwecke, z. B. finanzielle, verbinden. Für den Versicherten ist die Krankheit aber oft eine Erwerbsgelegenheit geworden; er wünscht sie möglichst auszunutzen, fängt daher an zu übertreiben und zu lügen. Hieraus entstehen die alle Jersicherungszweige immer mehr mit Arbeit und Kosten betastenden Betrügereien, denen der Beamtenorganismus mit seinen Formeln wehrlos gegenübersteht, gegen die auch die Ärzte nicht genügend gerüstet sind, und zwar nicht zum wenigsten deshalb, weil ihr Vertrauens¬ verhältnis zum Kranken gerade von dem Staat, der ihr Gutachten verlangt, gestört ist. Der Kranke sieht im Arzte nur den Kontrolleur. Durch dies alles ist ohne Zweifel die Stellung der Ärzte zu einer fortwährend wachsenden Anzahl ihrer Kranken bedenklich verschlechtert, darüber können die guten Erfolge auf medizinischem Gebiete nicht hinwegtäuschen. Diese Verschlechterung ist hervor¬ gerufen ohne ihr Zutun, ohne ihre Verschuldung, durch den Staat, der, ohne sie zu hören, über sie verfügt hat. Eine letzte unerfreuliche Folge ist noch die Beanspruchung ärztlicher Hilfe, die den Versicherten ja nichts kostet, bei gering¬ fügigen Erkrankungen, nach denen sonst kein Hahn krähen würde. Auch den Ärzten sind diese Folgen der neuen Gesetze erst nach längerer Erfahrung und namentlich unter den: Druck der zunehmenden Ausdehnung der Versicherungen zum Bewußtsein gekommen. Früher wurden von jungen Ärzten die Stellen der Kassenärzte als Beginn der Praxis trotz des geringen Honorars gesucht, um später mit zunehmender Klientel wieder aufgegeben zu werden. Das hat sich jetzt gründlich geändert. Jetzt muß die Mehrzahl der Ärzte die Kassenpraxis bis ins späte Alter beibehalten und mancher ist in der Hauptsache auf sie angewiesen; davon sind auch Spezialisten nicht immer ausgenommen. — Selbstverständlich haben sie sich gegen diese Verschlechterung nach Kräften zu wehren versucht. So erhob sich, und zwar schon vor der Gründung des L. W. V., der Ruf nach der sog. freien Arztwahl. Diese Forderung hat allgemach den Rang eines Schlagwortes angenommen und verlangt eine Erklärung, weil von der gegnerischen Seite ein bedenklicher Mißbrauch damit getrieben wird. Unter freier Arztwahl verstehen die Ärzte, daß der Kranke die Wahl frei hat unter den Ärzten, die sich den von der Kasse bekannt gemachten Bedingungen unter¬ werfen. Davon haben sowohl die Kranken wie die Ärzte Vorteil. Die Kranken

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/386>, abgerufen am 03.07.2024.