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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Beruht die heutige Landflucht auf biologischen Ursachen?

wurde und hier die Bevölkerung infizierte. Man denke doch daran, wie das
Landvolk gerade durch die Viehzucht stets Gelegenheit hatte, die Tuberkulose
durch kranke Tiere und ihre Produkte zu akquirieren! Es läßt sich aller¬
dings nachweisen, daß in manchen ländlichen Distrikten die Tuberkulose neuerdings
gegenüber früheren Zeiten mit großer Vehemenz auftrat, da wurde sie aber nicht
durch die Stadtbevölkerung, vielmehr durch die sich ansässig machende Industrie
verpflanzt, wofür gewisse badische Distrikte mit starker Tabakindustrie ein
Beispiel bieten.

Von einer zunehmenden Verseuchung des Landes mit Tuberkulose kann man
aber schon deswegen nicht sprechen, weil diese Krankheit doch erwiesenermaßen,
wie in der Stadt so auch auf dem Lande, in ständigen Rückgange begriffen ist.
So betrug die Sterblichkeit an Schwindsucht in zehn deutschen Städten 1892
259.2, 1904 dagegen nur 204. Diese Abnahme läßt sich z. B. in Preußen
auch in den vorwiegend Landwirtschaft treibenden Regierungsbezirken von Jahr
zu Jahr verfolgen.

Die zunehmende Durchseuchung des Landes mit Syphilis läßt sich mit
steigendem Verkehre, wenn nicht zahlenmäßig erweisen, so doch plausibel machen,
weil die Syphilis eine in erster Linie städtische Krankheit ist. Hier mag man
Reibmayr recht geben, wenn er der allgemeinen Wehrpflicht verhängnisvolle
Folgen beimißt, wie denn überhaupt der zunehmende fluktuierende Verkehr
zwischen Stadt und Land der Verbreitung der Geschlechtskrankheiten auf die
Landbevölkerung zweifellos sehr günstig ist.

Anderer Ansicht sind wir aber wieder bezüglich des Alkoholismus. Der
Annahme Reibmayrs, als ob der Alkohol auf dem Lande erst in neuerer Zeit
seine deletären Wirkungen geltend mache, steht hier die Tatsache entgegen, daß
die Trunksucht bereits in früheren Jahrhunderten in einem Maße verbreitet
war, daß sie der Gegenwart nichts nachzugeben hat. Dieses Faktum könnten
wohl die Gegner der Mäßigkeitsbewegung als Argument für sich benutzen,
indem sie darauf hinweisen, daß, wenn der Alkohol wirklich die mörderische
Wirkung auf die Volkskonstitution ausübte, wie sie ihm zugeschrieben wird, die
Menschheit schon längst ausgestorben sein müßte. Allerdings wurden frührer
wehr die leichteren alkoholischen Getränke, Wein, Bier und Obstwein, weniger
Schnaps konsumiert.

Als Argument für die zunehmende Verschlechterung der Gesundheit der
Landbevölkerung führt Reibmayr auch die Abnahme der Militärtauglichkeit auf
dem Lande ins Feld. Der Begriff Militärtauglichkeit ist aber auch von äußer¬
lichen, nicht in den Rekruten liegenden Momenten abhängig, so etwa von den
im Laufe der Zeit eingetretenen Änderungen in den Aushebungsvorschriften,
von dem subjektiven Ermessen der untersuchenden Ärzte, von der Zahl der zur
Auswahl stehenden Leute und schließlich von dem aufzubringenden Bedarf an
Rekruten. Daß alle diese Momente bei der Abfertigung der Rekruten ein
erhebliches Wort mitsprechen müssen, ergibt sich auch daraus, daß in gleicher


Beruht die heutige Landflucht auf biologischen Ursachen?

wurde und hier die Bevölkerung infizierte. Man denke doch daran, wie das
Landvolk gerade durch die Viehzucht stets Gelegenheit hatte, die Tuberkulose
durch kranke Tiere und ihre Produkte zu akquirieren! Es läßt sich aller¬
dings nachweisen, daß in manchen ländlichen Distrikten die Tuberkulose neuerdings
gegenüber früheren Zeiten mit großer Vehemenz auftrat, da wurde sie aber nicht
durch die Stadtbevölkerung, vielmehr durch die sich ansässig machende Industrie
verpflanzt, wofür gewisse badische Distrikte mit starker Tabakindustrie ein
Beispiel bieten.

Von einer zunehmenden Verseuchung des Landes mit Tuberkulose kann man
aber schon deswegen nicht sprechen, weil diese Krankheit doch erwiesenermaßen,
wie in der Stadt so auch auf dem Lande, in ständigen Rückgange begriffen ist.
So betrug die Sterblichkeit an Schwindsucht in zehn deutschen Städten 1892
259.2, 1904 dagegen nur 204. Diese Abnahme läßt sich z. B. in Preußen
auch in den vorwiegend Landwirtschaft treibenden Regierungsbezirken von Jahr
zu Jahr verfolgen.

Die zunehmende Durchseuchung des Landes mit Syphilis läßt sich mit
steigendem Verkehre, wenn nicht zahlenmäßig erweisen, so doch plausibel machen,
weil die Syphilis eine in erster Linie städtische Krankheit ist. Hier mag man
Reibmayr recht geben, wenn er der allgemeinen Wehrpflicht verhängnisvolle
Folgen beimißt, wie denn überhaupt der zunehmende fluktuierende Verkehr
zwischen Stadt und Land der Verbreitung der Geschlechtskrankheiten auf die
Landbevölkerung zweifellos sehr günstig ist.

Anderer Ansicht sind wir aber wieder bezüglich des Alkoholismus. Der
Annahme Reibmayrs, als ob der Alkohol auf dem Lande erst in neuerer Zeit
seine deletären Wirkungen geltend mache, steht hier die Tatsache entgegen, daß
die Trunksucht bereits in früheren Jahrhunderten in einem Maße verbreitet
war, daß sie der Gegenwart nichts nachzugeben hat. Dieses Faktum könnten
wohl die Gegner der Mäßigkeitsbewegung als Argument für sich benutzen,
indem sie darauf hinweisen, daß, wenn der Alkohol wirklich die mörderische
Wirkung auf die Volkskonstitution ausübte, wie sie ihm zugeschrieben wird, die
Menschheit schon längst ausgestorben sein müßte. Allerdings wurden frührer
wehr die leichteren alkoholischen Getränke, Wein, Bier und Obstwein, weniger
Schnaps konsumiert.

Als Argument für die zunehmende Verschlechterung der Gesundheit der
Landbevölkerung führt Reibmayr auch die Abnahme der Militärtauglichkeit auf
dem Lande ins Feld. Der Begriff Militärtauglichkeit ist aber auch von äußer¬
lichen, nicht in den Rekruten liegenden Momenten abhängig, so etwa von den
im Laufe der Zeit eingetretenen Änderungen in den Aushebungsvorschriften,
von dem subjektiven Ermessen der untersuchenden Ärzte, von der Zahl der zur
Auswahl stehenden Leute und schließlich von dem aufzubringenden Bedarf an
Rekruten. Daß alle diese Momente bei der Abfertigung der Rekruten ein
erhebliches Wort mitsprechen müssen, ergibt sich auch daraus, daß in gleicher


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[0379] Beruht die heutige Landflucht auf biologischen Ursachen? wurde und hier die Bevölkerung infizierte. Man denke doch daran, wie das Landvolk gerade durch die Viehzucht stets Gelegenheit hatte, die Tuberkulose durch kranke Tiere und ihre Produkte zu akquirieren! Es läßt sich aller¬ dings nachweisen, daß in manchen ländlichen Distrikten die Tuberkulose neuerdings gegenüber früheren Zeiten mit großer Vehemenz auftrat, da wurde sie aber nicht durch die Stadtbevölkerung, vielmehr durch die sich ansässig machende Industrie verpflanzt, wofür gewisse badische Distrikte mit starker Tabakindustrie ein Beispiel bieten. Von einer zunehmenden Verseuchung des Landes mit Tuberkulose kann man aber schon deswegen nicht sprechen, weil diese Krankheit doch erwiesenermaßen, wie in der Stadt so auch auf dem Lande, in ständigen Rückgange begriffen ist. So betrug die Sterblichkeit an Schwindsucht in zehn deutschen Städten 1892 259.2, 1904 dagegen nur 204. Diese Abnahme läßt sich z. B. in Preußen auch in den vorwiegend Landwirtschaft treibenden Regierungsbezirken von Jahr zu Jahr verfolgen. Die zunehmende Durchseuchung des Landes mit Syphilis läßt sich mit steigendem Verkehre, wenn nicht zahlenmäßig erweisen, so doch plausibel machen, weil die Syphilis eine in erster Linie städtische Krankheit ist. Hier mag man Reibmayr recht geben, wenn er der allgemeinen Wehrpflicht verhängnisvolle Folgen beimißt, wie denn überhaupt der zunehmende fluktuierende Verkehr zwischen Stadt und Land der Verbreitung der Geschlechtskrankheiten auf die Landbevölkerung zweifellos sehr günstig ist. Anderer Ansicht sind wir aber wieder bezüglich des Alkoholismus. Der Annahme Reibmayrs, als ob der Alkohol auf dem Lande erst in neuerer Zeit seine deletären Wirkungen geltend mache, steht hier die Tatsache entgegen, daß die Trunksucht bereits in früheren Jahrhunderten in einem Maße verbreitet war, daß sie der Gegenwart nichts nachzugeben hat. Dieses Faktum könnten wohl die Gegner der Mäßigkeitsbewegung als Argument für sich benutzen, indem sie darauf hinweisen, daß, wenn der Alkohol wirklich die mörderische Wirkung auf die Volkskonstitution ausübte, wie sie ihm zugeschrieben wird, die Menschheit schon längst ausgestorben sein müßte. Allerdings wurden frührer wehr die leichteren alkoholischen Getränke, Wein, Bier und Obstwein, weniger Schnaps konsumiert. Als Argument für die zunehmende Verschlechterung der Gesundheit der Landbevölkerung führt Reibmayr auch die Abnahme der Militärtauglichkeit auf dem Lande ins Feld. Der Begriff Militärtauglichkeit ist aber auch von äußer¬ lichen, nicht in den Rekruten liegenden Momenten abhängig, so etwa von den im Laufe der Zeit eingetretenen Änderungen in den Aushebungsvorschriften, von dem subjektiven Ermessen der untersuchenden Ärzte, von der Zahl der zur Auswahl stehenden Leute und schließlich von dem aufzubringenden Bedarf an Rekruten. Daß alle diese Momente bei der Abfertigung der Rekruten ein erhebliches Wort mitsprechen müssen, ergibt sich auch daraus, daß in gleicher

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/379>, abgerufen am 26.06.2024.