Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.Beruht die heutige Landflucht auf biologischen Ursachen? Weise wie auf dem Lande auch die "Tauglichkeit" der Stadtbewohner Aber lassen wir einmal die historische Genesis beiseite, prüfen wir einmal Das Land zeichnet sich gegenüber der Stadt durch größere Fruchtbarkeit Von einer Verseuchung des Landvolkes und von einer derart schlechten Man sollte glauben, die wirklichen Gründe für die Landflucht lägen so Beruht die heutige Landflucht auf biologischen Ursachen? Weise wie auf dem Lande auch die „Tauglichkeit" der Stadtbewohner Aber lassen wir einmal die historische Genesis beiseite, prüfen wir einmal Das Land zeichnet sich gegenüber der Stadt durch größere Fruchtbarkeit Von einer Verseuchung des Landvolkes und von einer derart schlechten Man sollte glauben, die wirklichen Gründe für die Landflucht lägen so <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0380" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/321463"/> <fw type="header" place="top"> Beruht die heutige Landflucht auf biologischen Ursachen?</fw><lb/> <p xml:id="ID_1607" prev="#ID_1606"> Weise wie auf dem Lande auch die „Tauglichkeit" der Stadtbewohner<lb/> abgenommen hat.</p><lb/> <p xml:id="ID_1608"> Aber lassen wir einmal die historische Genesis beiseite, prüfen wir einmal<lb/> die Frage, ob denn die Konstitution der Landbevölkerung in der Gegenwart<lb/> tatsächlich eine so schlechte ist, daß sie nicht mehr imstande ist, die schweren land¬<lb/> wirtschaftlichen Arbeiten zu verrichten, so daß die leichtere, ihren Körperkräften<lb/> angemessene städtische Arbeit sie in ihren Bann locken muß. Da es ein absolutes<lb/> Maß für die Konstitution nicht gibt, so wollen wir einmal die Konstitution des<lb/> Landbewohners mit der des Städters vergleichen unter Namhaftmachung der<lb/> Faktoren, an welchen die Konstitution gemessen werden kann.</p><lb/> <p xml:id="ID_1609"> Das Land zeichnet sich gegenüber der Stadt durch größere Fruchtbarkeit<lb/> aus, sowie durch eine größere Militärtauglichkeit, ferner durch eine bedeutend<lb/> geringere Sterblichkeit an Tuberkulose, wenigstens beim männlichen Geschlecht.<lb/> Wie wenig verbreitet die Geschlechtskrankheiten auf dem Lande im Vergleich zur<lb/> Stadt sind, ergibt die preußische Statistik, denn im Regierungsbezirk Köln wurden<lb/> an übertragbaren Geschlechtskrankheiten in den Krankenhäusern behandelt auf<lb/> 1000 Einwohner 63, in Köln 33, in Wickede 28, dagegen in Altenstein 0,94,<lb/> in Höxter 0.84, in Sigmaringen 0,58.</p><lb/> <p xml:id="ID_1610"> Von einer Verseuchung des Landvolkes und von einer derart schlechten<lb/> Konstitution, daß sie nicht mehr den üblichen landwirtschaftlichen Arbeiten<lb/> gewachsen wäre, kann man daher wahrlich nicht sprechen. Analog müßten Tuber¬<lb/> kulose, Syphilis und Alkohol, die ja auch auf die Stadtbevölkerung einwirken,<lb/> und zwar in noch viel stärkerem Maße, auch deren Arbeitskraft soweit gelähmt<lb/> haben, daß auch sie die nicht immer leichte industrielle Arbeit nicht mehr<lb/> bewältigen könnte. Davon ist aber bis jetzt keine Rede gewesen. Gewiß ist<lb/> ja die landwirtschaftliche Arbeit im allgemeinen schwerer, dagegen ist sie keine<lb/> solch kontinuierliche wie die städtische Fabrikarbeit, sie hat dabei noch gegen<lb/> letztere in gesundheitlicher Hinsicht den Vorzug, daß sie im Freien ausgeübt wird.</p><lb/> <p xml:id="ID_1611" next="#ID_1612"> Man sollte glauben, die wirklichen Gründe für die Landflucht lägen so<lb/> klar zutage, daß man nach geheim wirkenden gar nicht erst zu suchen braucht.<lb/> Es sind die bekannten sozialen Gründe: die Gebundenheit der Landarbeiter, die<lb/> Einschränkungen seiner persönlichen Freiheit, vielfach schlechte Ernährungs- und<lb/> Wohnungsverhältnisse, ungenügende Entlohnung. Natürlich trägt die schwere<lb/> Arbeit auch ihr Teil dazu bei, um dem Arbeiter das Landleben zu verleiden, aber<lb/> nicht an und für sich, sondern im Hinblick ans das ungenügende Äquivalent, das<lb/> ihm dafür geboten wird. Wenn demgegenüber die Vorzüge des städtischen<lb/> Lebens mit seiner Ungebundenheit und Freiheit ihn locken, so ist es mehr wie<lb/> begreiflich, daß er diesen Lockungen, auch wenn sie als trügerisch sich erweisen,<lb/> nicht widerstehen kann. Wenn nur der Umstand, daß seine Kräfte der land¬<lb/> wirtschaftlichen Arbeit nicht mehr gewachsen sind, den Landarbeiter verlockte,<lb/> dem Lande den Rücken zu kehren, dann müßte man fragen, warum nun<lb/> gerade der unselbständige Arbeiter von der Landflucht ergriffen wird, warum</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0380]
Beruht die heutige Landflucht auf biologischen Ursachen?
Weise wie auf dem Lande auch die „Tauglichkeit" der Stadtbewohner
abgenommen hat.
Aber lassen wir einmal die historische Genesis beiseite, prüfen wir einmal
die Frage, ob denn die Konstitution der Landbevölkerung in der Gegenwart
tatsächlich eine so schlechte ist, daß sie nicht mehr imstande ist, die schweren land¬
wirtschaftlichen Arbeiten zu verrichten, so daß die leichtere, ihren Körperkräften
angemessene städtische Arbeit sie in ihren Bann locken muß. Da es ein absolutes
Maß für die Konstitution nicht gibt, so wollen wir einmal die Konstitution des
Landbewohners mit der des Städters vergleichen unter Namhaftmachung der
Faktoren, an welchen die Konstitution gemessen werden kann.
Das Land zeichnet sich gegenüber der Stadt durch größere Fruchtbarkeit
aus, sowie durch eine größere Militärtauglichkeit, ferner durch eine bedeutend
geringere Sterblichkeit an Tuberkulose, wenigstens beim männlichen Geschlecht.
Wie wenig verbreitet die Geschlechtskrankheiten auf dem Lande im Vergleich zur
Stadt sind, ergibt die preußische Statistik, denn im Regierungsbezirk Köln wurden
an übertragbaren Geschlechtskrankheiten in den Krankenhäusern behandelt auf
1000 Einwohner 63, in Köln 33, in Wickede 28, dagegen in Altenstein 0,94,
in Höxter 0.84, in Sigmaringen 0,58.
Von einer Verseuchung des Landvolkes und von einer derart schlechten
Konstitution, daß sie nicht mehr den üblichen landwirtschaftlichen Arbeiten
gewachsen wäre, kann man daher wahrlich nicht sprechen. Analog müßten Tuber¬
kulose, Syphilis und Alkohol, die ja auch auf die Stadtbevölkerung einwirken,
und zwar in noch viel stärkerem Maße, auch deren Arbeitskraft soweit gelähmt
haben, daß auch sie die nicht immer leichte industrielle Arbeit nicht mehr
bewältigen könnte. Davon ist aber bis jetzt keine Rede gewesen. Gewiß ist
ja die landwirtschaftliche Arbeit im allgemeinen schwerer, dagegen ist sie keine
solch kontinuierliche wie die städtische Fabrikarbeit, sie hat dabei noch gegen
letztere in gesundheitlicher Hinsicht den Vorzug, daß sie im Freien ausgeübt wird.
Man sollte glauben, die wirklichen Gründe für die Landflucht lägen so
klar zutage, daß man nach geheim wirkenden gar nicht erst zu suchen braucht.
Es sind die bekannten sozialen Gründe: die Gebundenheit der Landarbeiter, die
Einschränkungen seiner persönlichen Freiheit, vielfach schlechte Ernährungs- und
Wohnungsverhältnisse, ungenügende Entlohnung. Natürlich trägt die schwere
Arbeit auch ihr Teil dazu bei, um dem Arbeiter das Landleben zu verleiden, aber
nicht an und für sich, sondern im Hinblick ans das ungenügende Äquivalent, das
ihm dafür geboten wird. Wenn demgegenüber die Vorzüge des städtischen
Lebens mit seiner Ungebundenheit und Freiheit ihn locken, so ist es mehr wie
begreiflich, daß er diesen Lockungen, auch wenn sie als trügerisch sich erweisen,
nicht widerstehen kann. Wenn nur der Umstand, daß seine Kräfte der land¬
wirtschaftlichen Arbeit nicht mehr gewachsen sind, den Landarbeiter verlockte,
dem Lande den Rücken zu kehren, dann müßte man fragen, warum nun
gerade der unselbständige Arbeiter von der Landflucht ergriffen wird, warum
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