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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Beruht die heutige Landflucht auf biologischen Ursachen?

Maßregeln die scharfe Auslese der schwächlichen Kinder hemmen und heute viele
Schwächliche ins heiratsfähige Alter kommen lassen, die früher der natürlichen
Ausmerzung verfielen.

Die wichtigste biologische Folge der Durchseuchung ist aber die, daß die
Nachkommen solcher belasteten Familien einen viel schwereren Kampf mit der
Natur und dadurch ums Dasein zu kämpfen haben, als dies bei Nachkommen
ganz gesunder Familien der Fall ist. Die Individuen aus solchen belasteten
Familien werden ihrer ererbten schwächeren Konstitution wegen zu der harten,
schweren Arbeit, wie sie die Landwirtschaft zeitweise wenigstens verlangt, viel
untauglicher und dadurch leichter körperlich geschädigt. Kein Beruf verträgt
aber das Kranksein, und besonders das chronische, schlechter als der land¬
wirtschaftliche. So kommt es, daß, wenn zu solchen ungünstigen biologischen
Verhältnissen auch noch wirtschaftliche Schwierigkeiten hinzutreten, die körperlich
und wirtschaftlich Schwächeren der Versuchung verfallen dahin zu ziehen, wo
die Arbeit eine leichtere ist. Je mehr die Durchseuchung der Landbevölkerung
zunimmt, desto stärker wächst der Bevölkerungsstrom in die Städte und nimmt
selbst unter günstigen wirtschaftlichen Verhältnissen eine Form an, die wir heute
Landflucht nennen. Den Nachweis für die stärkere Durchseuchung der Land¬
bevölkerung entnimmt Reibmayr den Berichten der staatlichen Gesundheitsämter
und den Forschungen einzelner Ärzte, ferner sei er, nach Reibmayr, gegeben
durch die Feststellung der wachsenden Untauglichkeit der Landbevölkerung bei der
Aushebung, die hauptsächlich mit der Verbreitung des phthisischen Habitus
zusammenhängt.

Diese neue Theorie Reibmayrs hat gewiß sehr viel Bestechendes für sich,
aber sie ruht, wie wir jetzt nachweisen wollen, sowohl in ihren Voraussetzungen
wie in ihren Schlußfolgerungen auf recht schwachen Füßen.

Reibmayr geht davon aus, daß erst mit den? Allgemeinerwerden der
Eisenbahnen und der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht die Konstitutions¬
verschlechterung der Landbevölkerung begonnen habe; damals habe die Durch¬
seuchung mit Tuberkulose und Syphilis Platz gegriffen und auch der Alkoholismus
habe erst seit den letzten Dezennien eine viel gefährlichere Form angenommen.
Derartige Behauptungen können aber nur bestehen, wenn sie durch zahlenmäßige
Unterlagen bekräftigt werden. Es müßte einwandsfrei durch die Statistik fest¬
gestellt werden, daß die Sterblichkeit der Landbevölkerung an Tuberkulose und
Syphilis vor etwa fünfzig bis sechzig Jahren sehr gering gewesen ist und dem¬
gegenüber in der Gegenwart sehr zugenommen hat. Auf derartige Zahlen
konnte sich Reibmayr nicht stützen und meines Wissens existieren auch keine solche,
abgesehen vielleicht für einzelne kleine Orte.

Was speziell die Tuberkulose anlangt, so spricht auch kein innerer Grund
dasür, daß dieselbe heute auf dem Lande verbreiteter ist wie in früheren Zeiten,
am allerwenigsten dürfte die Annahme gerechtfertigt sein, als ob die Tuberkulose
als primär städtische Krankheit erst von der Stadt auf das Land verpflanzt


Beruht die heutige Landflucht auf biologischen Ursachen?

Maßregeln die scharfe Auslese der schwächlichen Kinder hemmen und heute viele
Schwächliche ins heiratsfähige Alter kommen lassen, die früher der natürlichen
Ausmerzung verfielen.

Die wichtigste biologische Folge der Durchseuchung ist aber die, daß die
Nachkommen solcher belasteten Familien einen viel schwereren Kampf mit der
Natur und dadurch ums Dasein zu kämpfen haben, als dies bei Nachkommen
ganz gesunder Familien der Fall ist. Die Individuen aus solchen belasteten
Familien werden ihrer ererbten schwächeren Konstitution wegen zu der harten,
schweren Arbeit, wie sie die Landwirtschaft zeitweise wenigstens verlangt, viel
untauglicher und dadurch leichter körperlich geschädigt. Kein Beruf verträgt
aber das Kranksein, und besonders das chronische, schlechter als der land¬
wirtschaftliche. So kommt es, daß, wenn zu solchen ungünstigen biologischen
Verhältnissen auch noch wirtschaftliche Schwierigkeiten hinzutreten, die körperlich
und wirtschaftlich Schwächeren der Versuchung verfallen dahin zu ziehen, wo
die Arbeit eine leichtere ist. Je mehr die Durchseuchung der Landbevölkerung
zunimmt, desto stärker wächst der Bevölkerungsstrom in die Städte und nimmt
selbst unter günstigen wirtschaftlichen Verhältnissen eine Form an, die wir heute
Landflucht nennen. Den Nachweis für die stärkere Durchseuchung der Land¬
bevölkerung entnimmt Reibmayr den Berichten der staatlichen Gesundheitsämter
und den Forschungen einzelner Ärzte, ferner sei er, nach Reibmayr, gegeben
durch die Feststellung der wachsenden Untauglichkeit der Landbevölkerung bei der
Aushebung, die hauptsächlich mit der Verbreitung des phthisischen Habitus
zusammenhängt.

Diese neue Theorie Reibmayrs hat gewiß sehr viel Bestechendes für sich,
aber sie ruht, wie wir jetzt nachweisen wollen, sowohl in ihren Voraussetzungen
wie in ihren Schlußfolgerungen auf recht schwachen Füßen.

Reibmayr geht davon aus, daß erst mit den? Allgemeinerwerden der
Eisenbahnen und der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht die Konstitutions¬
verschlechterung der Landbevölkerung begonnen habe; damals habe die Durch¬
seuchung mit Tuberkulose und Syphilis Platz gegriffen und auch der Alkoholismus
habe erst seit den letzten Dezennien eine viel gefährlichere Form angenommen.
Derartige Behauptungen können aber nur bestehen, wenn sie durch zahlenmäßige
Unterlagen bekräftigt werden. Es müßte einwandsfrei durch die Statistik fest¬
gestellt werden, daß die Sterblichkeit der Landbevölkerung an Tuberkulose und
Syphilis vor etwa fünfzig bis sechzig Jahren sehr gering gewesen ist und dem¬
gegenüber in der Gegenwart sehr zugenommen hat. Auf derartige Zahlen
konnte sich Reibmayr nicht stützen und meines Wissens existieren auch keine solche,
abgesehen vielleicht für einzelne kleine Orte.

Was speziell die Tuberkulose anlangt, so spricht auch kein innerer Grund
dasür, daß dieselbe heute auf dem Lande verbreiteter ist wie in früheren Zeiten,
am allerwenigsten dürfte die Annahme gerechtfertigt sein, als ob die Tuberkulose
als primär städtische Krankheit erst von der Stadt auf das Land verpflanzt


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[0378] Beruht die heutige Landflucht auf biologischen Ursachen? Maßregeln die scharfe Auslese der schwächlichen Kinder hemmen und heute viele Schwächliche ins heiratsfähige Alter kommen lassen, die früher der natürlichen Ausmerzung verfielen. Die wichtigste biologische Folge der Durchseuchung ist aber die, daß die Nachkommen solcher belasteten Familien einen viel schwereren Kampf mit der Natur und dadurch ums Dasein zu kämpfen haben, als dies bei Nachkommen ganz gesunder Familien der Fall ist. Die Individuen aus solchen belasteten Familien werden ihrer ererbten schwächeren Konstitution wegen zu der harten, schweren Arbeit, wie sie die Landwirtschaft zeitweise wenigstens verlangt, viel untauglicher und dadurch leichter körperlich geschädigt. Kein Beruf verträgt aber das Kranksein, und besonders das chronische, schlechter als der land¬ wirtschaftliche. So kommt es, daß, wenn zu solchen ungünstigen biologischen Verhältnissen auch noch wirtschaftliche Schwierigkeiten hinzutreten, die körperlich und wirtschaftlich Schwächeren der Versuchung verfallen dahin zu ziehen, wo die Arbeit eine leichtere ist. Je mehr die Durchseuchung der Landbevölkerung zunimmt, desto stärker wächst der Bevölkerungsstrom in die Städte und nimmt selbst unter günstigen wirtschaftlichen Verhältnissen eine Form an, die wir heute Landflucht nennen. Den Nachweis für die stärkere Durchseuchung der Land¬ bevölkerung entnimmt Reibmayr den Berichten der staatlichen Gesundheitsämter und den Forschungen einzelner Ärzte, ferner sei er, nach Reibmayr, gegeben durch die Feststellung der wachsenden Untauglichkeit der Landbevölkerung bei der Aushebung, die hauptsächlich mit der Verbreitung des phthisischen Habitus zusammenhängt. Diese neue Theorie Reibmayrs hat gewiß sehr viel Bestechendes für sich, aber sie ruht, wie wir jetzt nachweisen wollen, sowohl in ihren Voraussetzungen wie in ihren Schlußfolgerungen auf recht schwachen Füßen. Reibmayr geht davon aus, daß erst mit den? Allgemeinerwerden der Eisenbahnen und der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht die Konstitutions¬ verschlechterung der Landbevölkerung begonnen habe; damals habe die Durch¬ seuchung mit Tuberkulose und Syphilis Platz gegriffen und auch der Alkoholismus habe erst seit den letzten Dezennien eine viel gefährlichere Form angenommen. Derartige Behauptungen können aber nur bestehen, wenn sie durch zahlenmäßige Unterlagen bekräftigt werden. Es müßte einwandsfrei durch die Statistik fest¬ gestellt werden, daß die Sterblichkeit der Landbevölkerung an Tuberkulose und Syphilis vor etwa fünfzig bis sechzig Jahren sehr gering gewesen ist und dem¬ gegenüber in der Gegenwart sehr zugenommen hat. Auf derartige Zahlen konnte sich Reibmayr nicht stützen und meines Wissens existieren auch keine solche, abgesehen vielleicht für einzelne kleine Orte. Was speziell die Tuberkulose anlangt, so spricht auch kein innerer Grund dasür, daß dieselbe heute auf dem Lande verbreiteter ist wie in früheren Zeiten, am allerwenigsten dürfte die Annahme gerechtfertigt sein, als ob die Tuberkulose als primär städtische Krankheit erst von der Stadt auf das Land verpflanzt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/378>, abgerufen am 29.06.2024.