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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Beruht die heutige Landflucht auf biologischen
Ursachen? von Dr. mea. to. Hanauer

urch die Fortschritte der Neurologie, der Serologie und der
Rassenbiologie hat man sich heute daran gewöhnt, gewisse Probleme
des gesellschaftlichen und öffentlichen Lebens, die man früher als
rein soziale Erscheinungen angesehen hat, von biologischen Gesichts¬
punkten zu betrachten. Es sei hier daran erinnert, daß heute,
nachdem viele Jahre verstrichen sind, seitdem Lombroso sein Buch "Das Weib
als Verbrecherin und Prostituierte" hat erscheinen lassen, der Streit noch immer
hin und her wogt, ob die Prostitution ein soziales oder anthropologisches
Phänomen ist.

Neuerdings sucht nun der bekannte Rassenhygieniker Albert Reibmayr die
so überaus wichtige und so viel erörterte Frage der Landflucht, die bisher
unstreitig als soziale Massenerscheimmg gegolten hat, auf biologische Prinzipien
zurückzuführen. Seine Ausführungen im Archiv für Nassen- und Gesellschafts¬
biologie (1911 S. 349) gipfeln in dem Satze, daß die Durchseuchung unserer
heutigen Landbevölkerung mit Tuberkulose, Syphilis und Alkohol und den dadurch
verursachten körperlichen und geistigen Folgen die wesentlichste Ursache wäre,
welche den Bevölkerungsstrom vom Lande zur Stadt so außerordentlich anschwellen
läßt und das Mißverhältnis zwischen Stadt und Land zeitigt. Während
w früheren Zeiten gut dafür gesorgt war, daß die heutigen gefährlichsten
Kulturkrankheiten Tuberkulose und Syphilis die Landbevölkerung nicht durch¬
seuchten und diese daher in ihrer Majorität konstitutionell gesund blieb, und
auch der Alkoholismus früher keine sehr schädigende Rolle spielte, hat sich dieses
alles seit der Zeit, als durch die Eisenbahnen der allgemeine Verkehr zwischen
Stadt und Land außerordentlich zunahm, besonders aber durch die Einführung
der allgemeinen Wehrpflicht, total verändert. Der nun einsetzende stärkere Verkehr
Zwischen Stadt- und Landbevölkerung hat aber auch stets einen stärkeren Bluts-
verlehr, wenn auch meist auf illegitimem Wege, zur Folge. Der Bauer hat nun
beste Gelegenheit, sich mit dem tuberkulösen und syphilitischen Gift zu infizieren.
Dazu kommt noch, daß die Fortschritte der Medizin und die strengen hygienischen


Grenzboten II 1912 47


Beruht die heutige Landflucht auf biologischen
Ursachen? von Dr. mea. to. Hanauer

urch die Fortschritte der Neurologie, der Serologie und der
Rassenbiologie hat man sich heute daran gewöhnt, gewisse Probleme
des gesellschaftlichen und öffentlichen Lebens, die man früher als
rein soziale Erscheinungen angesehen hat, von biologischen Gesichts¬
punkten zu betrachten. Es sei hier daran erinnert, daß heute,
nachdem viele Jahre verstrichen sind, seitdem Lombroso sein Buch „Das Weib
als Verbrecherin und Prostituierte" hat erscheinen lassen, der Streit noch immer
hin und her wogt, ob die Prostitution ein soziales oder anthropologisches
Phänomen ist.

Neuerdings sucht nun der bekannte Rassenhygieniker Albert Reibmayr die
so überaus wichtige und so viel erörterte Frage der Landflucht, die bisher
unstreitig als soziale Massenerscheimmg gegolten hat, auf biologische Prinzipien
zurückzuführen. Seine Ausführungen im Archiv für Nassen- und Gesellschafts¬
biologie (1911 S. 349) gipfeln in dem Satze, daß die Durchseuchung unserer
heutigen Landbevölkerung mit Tuberkulose, Syphilis und Alkohol und den dadurch
verursachten körperlichen und geistigen Folgen die wesentlichste Ursache wäre,
welche den Bevölkerungsstrom vom Lande zur Stadt so außerordentlich anschwellen
läßt und das Mißverhältnis zwischen Stadt und Land zeitigt. Während
w früheren Zeiten gut dafür gesorgt war, daß die heutigen gefährlichsten
Kulturkrankheiten Tuberkulose und Syphilis die Landbevölkerung nicht durch¬
seuchten und diese daher in ihrer Majorität konstitutionell gesund blieb, und
auch der Alkoholismus früher keine sehr schädigende Rolle spielte, hat sich dieses
alles seit der Zeit, als durch die Eisenbahnen der allgemeine Verkehr zwischen
Stadt und Land außerordentlich zunahm, besonders aber durch die Einführung
der allgemeinen Wehrpflicht, total verändert. Der nun einsetzende stärkere Verkehr
Zwischen Stadt- und Landbevölkerung hat aber auch stets einen stärkeren Bluts-
verlehr, wenn auch meist auf illegitimem Wege, zur Folge. Der Bauer hat nun
beste Gelegenheit, sich mit dem tuberkulösen und syphilitischen Gift zu infizieren.
Dazu kommt noch, daß die Fortschritte der Medizin und die strengen hygienischen


Grenzboten II 1912 47
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[0377] [Abbildung] Beruht die heutige Landflucht auf biologischen Ursachen? von Dr. mea. to. Hanauer urch die Fortschritte der Neurologie, der Serologie und der Rassenbiologie hat man sich heute daran gewöhnt, gewisse Probleme des gesellschaftlichen und öffentlichen Lebens, die man früher als rein soziale Erscheinungen angesehen hat, von biologischen Gesichts¬ punkten zu betrachten. Es sei hier daran erinnert, daß heute, nachdem viele Jahre verstrichen sind, seitdem Lombroso sein Buch „Das Weib als Verbrecherin und Prostituierte" hat erscheinen lassen, der Streit noch immer hin und her wogt, ob die Prostitution ein soziales oder anthropologisches Phänomen ist. Neuerdings sucht nun der bekannte Rassenhygieniker Albert Reibmayr die so überaus wichtige und so viel erörterte Frage der Landflucht, die bisher unstreitig als soziale Massenerscheimmg gegolten hat, auf biologische Prinzipien zurückzuführen. Seine Ausführungen im Archiv für Nassen- und Gesellschafts¬ biologie (1911 S. 349) gipfeln in dem Satze, daß die Durchseuchung unserer heutigen Landbevölkerung mit Tuberkulose, Syphilis und Alkohol und den dadurch verursachten körperlichen und geistigen Folgen die wesentlichste Ursache wäre, welche den Bevölkerungsstrom vom Lande zur Stadt so außerordentlich anschwellen läßt und das Mißverhältnis zwischen Stadt und Land zeitigt. Während w früheren Zeiten gut dafür gesorgt war, daß die heutigen gefährlichsten Kulturkrankheiten Tuberkulose und Syphilis die Landbevölkerung nicht durch¬ seuchten und diese daher in ihrer Majorität konstitutionell gesund blieb, und auch der Alkoholismus früher keine sehr schädigende Rolle spielte, hat sich dieses alles seit der Zeit, als durch die Eisenbahnen der allgemeine Verkehr zwischen Stadt und Land außerordentlich zunahm, besonders aber durch die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, total verändert. Der nun einsetzende stärkere Verkehr Zwischen Stadt- und Landbevölkerung hat aber auch stets einen stärkeren Bluts- verlehr, wenn auch meist auf illegitimem Wege, zur Folge. Der Bauer hat nun beste Gelegenheit, sich mit dem tuberkulösen und syphilitischen Gift zu infizieren. Dazu kommt noch, daß die Fortschritte der Medizin und die strengen hygienischen Grenzboten II 1912 47

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/377>, abgerufen am 01.07.2024.