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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Stilfrageii der Schule

gearbeitet", erst in zweiter Linie kommt die Täuschung. "Bohrt" jemand beim
Extemporale ab, so hat er nicht betrügen wollen, sondern zur Unzeit und an
der falschen Stelle Hilfe gesucht. Die Beurteilung dieser konventionellen Schul¬
lügen ist eine reine Stilfrage. Wir sind uns fast alle einig, daß das Mogeln
Schulunsitte ist, bekämpfen es natürlich, wie andere Unsitten, aber verdammen
den Schüler nicht bis in Grund und Boden. Der Schulstil will es aber, daß
der Eintrag ins Klassenbuch oder die Bemerkung auf dem Zeugnis lautet:
"Wegen Täuschungsversuchs mit Arrest bestraft." Hätten wir ein gangbares
Wort oder gebrauchten wir die Pennälerworte: "abbohren" und ähnliche, so würde
hier der Stil einen viel richtigeren Begriff unserer Auffassung geben. "Betrug"
und "Täuschung" sind Ausdrücke, die etwas Ehrenrühriges haben, die darf man
Kindern gegenüber nicht anwenden, wenn man sie nicht zu dem doppelten Ehr¬
begriff treiben will, der eben zum nicht geringen Teil durch unsere Schuld unter
den Schülern herrscht. Man muß die Schüler von ihren Ehrbegriffen aus zu
packen versuchen und deswegen möglichst auch in ihren, Stil bleiben. Über¬
triebene Ausdrücke stumpfen das Ehrgefühl ab; allzu weit getriebene Unter¬
suchungen führen nur zu größerem Raffinement und dann zu wirklichem über¬
legten Betrug. Ein echter heimtückischer Betrug kann freilich nicht scharf genug
geahndet werden.

Welche unheimliche Welt von Lüge bringt die Beaufsichtigung der Schüler
außerhalb des Schullebens mit sich, hauptsächlich das unselige Kneipoerbotl
Wenn die Schule das Kneipen verbietet, so muß sie den abgefaßten Schüler
notwendigerweise schwenken, wenigstens nach einer Warnung; das können
wir aber nicht durchführen und daraus entsteht eine heillose Unsicherheit in der
Anwendung der Strafmittel. Durch Arreststrafen läßt sich kein Junge vom
Kneipen abhalte". Die ganze Spionage und das Verhören der Jungens, die
sich gegenseitig nicht verraten wollen, ist etwas so Entwürdigendes für unsern
Verkehrsstil, daß man schon deswegen alle Kneipverbote aufheben sollte. Hier
greift die Schullüge über in das Elternhaus. Hat sich der Schüler in der
Schule festgelogen, und das geschieht meistens um der mitkneipenden Kameraden
willen, so muß er zu Hause weiter lügen, wenn die Schule dort Unterstützung
sucht. Man glaubt gar nicht, wie wir uns durch die Fürsorge für die Schüler
in ihrem Privatleben entwürdigen müssen. Wir werden von Pensionsvätern
und Müttern aufs schamloseste übers Ohr gehauen und hinterm Rücken aus¬
gelacht. Dr. Quitte hat in seiner Flugschrift "Schuldisziplin und Elternhaus"
sehr treffende Bemerkungen gemacht, die darauf hinauslaufen, daß die Schule
das Privatleben der Einheimischen nicht zu kontrollieren hat, keinesfalls in die
Rechte der Eltern eingreifen darf. Daher muß sie es auch dem Elternhaus
überlassen, die Pflicht der Überwachung allein auszuüben. So lange es in
Deutschland nicht für unanständig gilt, angetrunken oder verkatert in Gesellschaft
oder ins Geschäft zu kommen, wird am Kneipleben der Schüler wenig zu bessern
sein. Durch Schulstrafen und scharfe Überwachung erringen wir nur Schein-


Stilfrageii der Schule

gearbeitet", erst in zweiter Linie kommt die Täuschung. „Bohrt" jemand beim
Extemporale ab, so hat er nicht betrügen wollen, sondern zur Unzeit und an
der falschen Stelle Hilfe gesucht. Die Beurteilung dieser konventionellen Schul¬
lügen ist eine reine Stilfrage. Wir sind uns fast alle einig, daß das Mogeln
Schulunsitte ist, bekämpfen es natürlich, wie andere Unsitten, aber verdammen
den Schüler nicht bis in Grund und Boden. Der Schulstil will es aber, daß
der Eintrag ins Klassenbuch oder die Bemerkung auf dem Zeugnis lautet:
„Wegen Täuschungsversuchs mit Arrest bestraft." Hätten wir ein gangbares
Wort oder gebrauchten wir die Pennälerworte: „abbohren" und ähnliche, so würde
hier der Stil einen viel richtigeren Begriff unserer Auffassung geben. „Betrug"
und „Täuschung" sind Ausdrücke, die etwas Ehrenrühriges haben, die darf man
Kindern gegenüber nicht anwenden, wenn man sie nicht zu dem doppelten Ehr¬
begriff treiben will, der eben zum nicht geringen Teil durch unsere Schuld unter
den Schülern herrscht. Man muß die Schüler von ihren Ehrbegriffen aus zu
packen versuchen und deswegen möglichst auch in ihren, Stil bleiben. Über¬
triebene Ausdrücke stumpfen das Ehrgefühl ab; allzu weit getriebene Unter¬
suchungen führen nur zu größerem Raffinement und dann zu wirklichem über¬
legten Betrug. Ein echter heimtückischer Betrug kann freilich nicht scharf genug
geahndet werden.

Welche unheimliche Welt von Lüge bringt die Beaufsichtigung der Schüler
außerhalb des Schullebens mit sich, hauptsächlich das unselige Kneipoerbotl
Wenn die Schule das Kneipen verbietet, so muß sie den abgefaßten Schüler
notwendigerweise schwenken, wenigstens nach einer Warnung; das können
wir aber nicht durchführen und daraus entsteht eine heillose Unsicherheit in der
Anwendung der Strafmittel. Durch Arreststrafen läßt sich kein Junge vom
Kneipen abhalte«. Die ganze Spionage und das Verhören der Jungens, die
sich gegenseitig nicht verraten wollen, ist etwas so Entwürdigendes für unsern
Verkehrsstil, daß man schon deswegen alle Kneipverbote aufheben sollte. Hier
greift die Schullüge über in das Elternhaus. Hat sich der Schüler in der
Schule festgelogen, und das geschieht meistens um der mitkneipenden Kameraden
willen, so muß er zu Hause weiter lügen, wenn die Schule dort Unterstützung
sucht. Man glaubt gar nicht, wie wir uns durch die Fürsorge für die Schüler
in ihrem Privatleben entwürdigen müssen. Wir werden von Pensionsvätern
und Müttern aufs schamloseste übers Ohr gehauen und hinterm Rücken aus¬
gelacht. Dr. Quitte hat in seiner Flugschrift „Schuldisziplin und Elternhaus"
sehr treffende Bemerkungen gemacht, die darauf hinauslaufen, daß die Schule
das Privatleben der Einheimischen nicht zu kontrollieren hat, keinesfalls in die
Rechte der Eltern eingreifen darf. Daher muß sie es auch dem Elternhaus
überlassen, die Pflicht der Überwachung allein auszuüben. So lange es in
Deutschland nicht für unanständig gilt, angetrunken oder verkatert in Gesellschaft
oder ins Geschäft zu kommen, wird am Kneipleben der Schüler wenig zu bessern
sein. Durch Schulstrafen und scharfe Überwachung erringen wir nur Schein-


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[0350] Stilfrageii der Schule gearbeitet", erst in zweiter Linie kommt die Täuschung. „Bohrt" jemand beim Extemporale ab, so hat er nicht betrügen wollen, sondern zur Unzeit und an der falschen Stelle Hilfe gesucht. Die Beurteilung dieser konventionellen Schul¬ lügen ist eine reine Stilfrage. Wir sind uns fast alle einig, daß das Mogeln Schulunsitte ist, bekämpfen es natürlich, wie andere Unsitten, aber verdammen den Schüler nicht bis in Grund und Boden. Der Schulstil will es aber, daß der Eintrag ins Klassenbuch oder die Bemerkung auf dem Zeugnis lautet: „Wegen Täuschungsversuchs mit Arrest bestraft." Hätten wir ein gangbares Wort oder gebrauchten wir die Pennälerworte: „abbohren" und ähnliche, so würde hier der Stil einen viel richtigeren Begriff unserer Auffassung geben. „Betrug" und „Täuschung" sind Ausdrücke, die etwas Ehrenrühriges haben, die darf man Kindern gegenüber nicht anwenden, wenn man sie nicht zu dem doppelten Ehr¬ begriff treiben will, der eben zum nicht geringen Teil durch unsere Schuld unter den Schülern herrscht. Man muß die Schüler von ihren Ehrbegriffen aus zu packen versuchen und deswegen möglichst auch in ihren, Stil bleiben. Über¬ triebene Ausdrücke stumpfen das Ehrgefühl ab; allzu weit getriebene Unter¬ suchungen führen nur zu größerem Raffinement und dann zu wirklichem über¬ legten Betrug. Ein echter heimtückischer Betrug kann freilich nicht scharf genug geahndet werden. Welche unheimliche Welt von Lüge bringt die Beaufsichtigung der Schüler außerhalb des Schullebens mit sich, hauptsächlich das unselige Kneipoerbotl Wenn die Schule das Kneipen verbietet, so muß sie den abgefaßten Schüler notwendigerweise schwenken, wenigstens nach einer Warnung; das können wir aber nicht durchführen und daraus entsteht eine heillose Unsicherheit in der Anwendung der Strafmittel. Durch Arreststrafen läßt sich kein Junge vom Kneipen abhalte«. Die ganze Spionage und das Verhören der Jungens, die sich gegenseitig nicht verraten wollen, ist etwas so Entwürdigendes für unsern Verkehrsstil, daß man schon deswegen alle Kneipverbote aufheben sollte. Hier greift die Schullüge über in das Elternhaus. Hat sich der Schüler in der Schule festgelogen, und das geschieht meistens um der mitkneipenden Kameraden willen, so muß er zu Hause weiter lügen, wenn die Schule dort Unterstützung sucht. Man glaubt gar nicht, wie wir uns durch die Fürsorge für die Schüler in ihrem Privatleben entwürdigen müssen. Wir werden von Pensionsvätern und Müttern aufs schamloseste übers Ohr gehauen und hinterm Rücken aus¬ gelacht. Dr. Quitte hat in seiner Flugschrift „Schuldisziplin und Elternhaus" sehr treffende Bemerkungen gemacht, die darauf hinauslaufen, daß die Schule das Privatleben der Einheimischen nicht zu kontrollieren hat, keinesfalls in die Rechte der Eltern eingreifen darf. Daher muß sie es auch dem Elternhaus überlassen, die Pflicht der Überwachung allein auszuüben. So lange es in Deutschland nicht für unanständig gilt, angetrunken oder verkatert in Gesellschaft oder ins Geschäft zu kommen, wird am Kneipleben der Schüler wenig zu bessern sein. Durch Schulstrafen und scharfe Überwachung erringen wir nur Schein-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/350>, abgerufen am 29.06.2024.