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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Stilfrage" der Schule

macht man uns zu Verkleidungskünstlern oder Panmusikern, die mit Füßen,
Armen, Händen, Kopf und Mund zu gleicher Zeit eine fürchterliche Musik machen.
Soll der begeisterte Historiker zugleich Religion, Französisch und Latein, der
Chemiker Deutsch, Rechnen und Englisch, der Germanist Griechisch, Botanik
und Erdkunde unterrichten, so wird seine Persönlichkeit in Stücke zerhackt. Unter
diesen Verhältnissen wird sich allzuleicht ein Arbeitsstil herausbilden, der so die
Mitte zwischen dem Denkvermögen der Primaner und Sextaner hält.

Es lassen sich hier zur Verminderung der Verkleidungskünstelei zwei Wege
einschlagen. Der eine Weg wird mit gutem Erfolg in Holland beschritten:
ein Lehrer gibt in den fünf Klassen, aus denen dort die Oberrealschulen
bestehen (etwa Untertertia bis Unterprima) allein den ganzen Unterricht in einem
bestimmten Fache. So ist die Konzentration des Interesses durch das Fach
geboten, und fünf aufeinanderfolgende Klaffen erfordern nicht zu viel Umdenkungs-
arbeit. Der andere Weg, der übrigens bei uns von aufmerksamen Schul¬
leitungen nach Möglichkeit verfolgt wird, ist der, den Lehrer in vielen Fächern
und möglichst wenig Klassen unterrichten zu lassen. Dieser Weg ist deshalb zu
empfehlen, weil es für den Unterricht besser ist, wenn zusammengehörige Fächer,
wie Deutsch und Geschichte, Französisch und Englisch, Mathematik und Physik
in einer Hand liegen, und weil es für eine persönliche Gestaltung des Ver¬
hältnisses der Lehrer zu den Schülern leichter ist, wenn der Lehrer die Schüler
genau kennen lernt. Das holländische System ist für den Lehrer bedeutend
bequemer, aber wie ich aus siebenjähriger Erfahrung weiß, auf die Dauer sehr
langweilig. Das deutsche System oder vielmehr die schwankende Praxis unserer
Schulen stellt auch bei weisester Rücksichtsnahme noch zu hohe Anforderungen.




Ist es also wahr, daß der Arbeitsstil der Lehrer und Schüler zu keiner
rechten Entfaltung kommen kann, so ist es natürlich, daß beide Teile, die, jeder
über seine Kraft, gegeneinander anarbeiten, keinen Gefallen aneinander finden.
Ein Beruf mit steten Hemmnissen freier Betätigung ist für die, die an der
Freiheit der Forschung geleckt haben, ein beständiger Verzicht auf einen Teil
der persönlichen Ausbildung. Daher die große Anzahl resignierender Kollegen,
die geringe Anzahl derer, die mit Heller Freude bei der Arbeit sind. Daher
der Verdrossenheitsstil im Verkehr mit den Schülern, der empörte Stil, den
viele Kollegen bei der Beurteilung der Schulvergehen an sich haben, die
"gelbe Bitterkeitsweis" und der "unliebliche Jch-doIde°keine-Wäderräde-Ton",
der immer noch nicht ausgestorben ist. Man brauchte den täglichen "Hawjungs-
arger" nicht so ernst zu nehmen und sollte immer daran denken, daß
es, solange Verkehrsformen bestehen, konventionelle Lügen gibt. Schüler-
wogeleien sind ein trauriges Zeichen für den Arbeitsstil der bei uns herrscht,
liber keineswegs kennzeichnend für die moralische Beschaffenheit des einzelnen.
Wenn jemand seine Hausarbeit abschreibt, so hat er hauptsächlich "unselbständig


Grenzboten II 1912 43
Stilfrage» der Schule

macht man uns zu Verkleidungskünstlern oder Panmusikern, die mit Füßen,
Armen, Händen, Kopf und Mund zu gleicher Zeit eine fürchterliche Musik machen.
Soll der begeisterte Historiker zugleich Religion, Französisch und Latein, der
Chemiker Deutsch, Rechnen und Englisch, der Germanist Griechisch, Botanik
und Erdkunde unterrichten, so wird seine Persönlichkeit in Stücke zerhackt. Unter
diesen Verhältnissen wird sich allzuleicht ein Arbeitsstil herausbilden, der so die
Mitte zwischen dem Denkvermögen der Primaner und Sextaner hält.

Es lassen sich hier zur Verminderung der Verkleidungskünstelei zwei Wege
einschlagen. Der eine Weg wird mit gutem Erfolg in Holland beschritten:
ein Lehrer gibt in den fünf Klassen, aus denen dort die Oberrealschulen
bestehen (etwa Untertertia bis Unterprima) allein den ganzen Unterricht in einem
bestimmten Fache. So ist die Konzentration des Interesses durch das Fach
geboten, und fünf aufeinanderfolgende Klaffen erfordern nicht zu viel Umdenkungs-
arbeit. Der andere Weg, der übrigens bei uns von aufmerksamen Schul¬
leitungen nach Möglichkeit verfolgt wird, ist der, den Lehrer in vielen Fächern
und möglichst wenig Klassen unterrichten zu lassen. Dieser Weg ist deshalb zu
empfehlen, weil es für den Unterricht besser ist, wenn zusammengehörige Fächer,
wie Deutsch und Geschichte, Französisch und Englisch, Mathematik und Physik
in einer Hand liegen, und weil es für eine persönliche Gestaltung des Ver¬
hältnisses der Lehrer zu den Schülern leichter ist, wenn der Lehrer die Schüler
genau kennen lernt. Das holländische System ist für den Lehrer bedeutend
bequemer, aber wie ich aus siebenjähriger Erfahrung weiß, auf die Dauer sehr
langweilig. Das deutsche System oder vielmehr die schwankende Praxis unserer
Schulen stellt auch bei weisester Rücksichtsnahme noch zu hohe Anforderungen.




Ist es also wahr, daß der Arbeitsstil der Lehrer und Schüler zu keiner
rechten Entfaltung kommen kann, so ist es natürlich, daß beide Teile, die, jeder
über seine Kraft, gegeneinander anarbeiten, keinen Gefallen aneinander finden.
Ein Beruf mit steten Hemmnissen freier Betätigung ist für die, die an der
Freiheit der Forschung geleckt haben, ein beständiger Verzicht auf einen Teil
der persönlichen Ausbildung. Daher die große Anzahl resignierender Kollegen,
die geringe Anzahl derer, die mit Heller Freude bei der Arbeit sind. Daher
der Verdrossenheitsstil im Verkehr mit den Schülern, der empörte Stil, den
viele Kollegen bei der Beurteilung der Schulvergehen an sich haben, die
„gelbe Bitterkeitsweis" und der „unliebliche Jch-doIde°keine-Wäderräde-Ton",
der immer noch nicht ausgestorben ist. Man brauchte den täglichen „Hawjungs-
arger" nicht so ernst zu nehmen und sollte immer daran denken, daß
es, solange Verkehrsformen bestehen, konventionelle Lügen gibt. Schüler-
wogeleien sind ein trauriges Zeichen für den Arbeitsstil der bei uns herrscht,
liber keineswegs kennzeichnend für die moralische Beschaffenheit des einzelnen.
Wenn jemand seine Hausarbeit abschreibt, so hat er hauptsächlich „unselbständig


Grenzboten II 1912 43
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[0349] Stilfrage» der Schule macht man uns zu Verkleidungskünstlern oder Panmusikern, die mit Füßen, Armen, Händen, Kopf und Mund zu gleicher Zeit eine fürchterliche Musik machen. Soll der begeisterte Historiker zugleich Religion, Französisch und Latein, der Chemiker Deutsch, Rechnen und Englisch, der Germanist Griechisch, Botanik und Erdkunde unterrichten, so wird seine Persönlichkeit in Stücke zerhackt. Unter diesen Verhältnissen wird sich allzuleicht ein Arbeitsstil herausbilden, der so die Mitte zwischen dem Denkvermögen der Primaner und Sextaner hält. Es lassen sich hier zur Verminderung der Verkleidungskünstelei zwei Wege einschlagen. Der eine Weg wird mit gutem Erfolg in Holland beschritten: ein Lehrer gibt in den fünf Klassen, aus denen dort die Oberrealschulen bestehen (etwa Untertertia bis Unterprima) allein den ganzen Unterricht in einem bestimmten Fache. So ist die Konzentration des Interesses durch das Fach geboten, und fünf aufeinanderfolgende Klaffen erfordern nicht zu viel Umdenkungs- arbeit. Der andere Weg, der übrigens bei uns von aufmerksamen Schul¬ leitungen nach Möglichkeit verfolgt wird, ist der, den Lehrer in vielen Fächern und möglichst wenig Klassen unterrichten zu lassen. Dieser Weg ist deshalb zu empfehlen, weil es für den Unterricht besser ist, wenn zusammengehörige Fächer, wie Deutsch und Geschichte, Französisch und Englisch, Mathematik und Physik in einer Hand liegen, und weil es für eine persönliche Gestaltung des Ver¬ hältnisses der Lehrer zu den Schülern leichter ist, wenn der Lehrer die Schüler genau kennen lernt. Das holländische System ist für den Lehrer bedeutend bequemer, aber wie ich aus siebenjähriger Erfahrung weiß, auf die Dauer sehr langweilig. Das deutsche System oder vielmehr die schwankende Praxis unserer Schulen stellt auch bei weisester Rücksichtsnahme noch zu hohe Anforderungen. Ist es also wahr, daß der Arbeitsstil der Lehrer und Schüler zu keiner rechten Entfaltung kommen kann, so ist es natürlich, daß beide Teile, die, jeder über seine Kraft, gegeneinander anarbeiten, keinen Gefallen aneinander finden. Ein Beruf mit steten Hemmnissen freier Betätigung ist für die, die an der Freiheit der Forschung geleckt haben, ein beständiger Verzicht auf einen Teil der persönlichen Ausbildung. Daher die große Anzahl resignierender Kollegen, die geringe Anzahl derer, die mit Heller Freude bei der Arbeit sind. Daher der Verdrossenheitsstil im Verkehr mit den Schülern, der empörte Stil, den viele Kollegen bei der Beurteilung der Schulvergehen an sich haben, die „gelbe Bitterkeitsweis" und der „unliebliche Jch-doIde°keine-Wäderräde-Ton", der immer noch nicht ausgestorben ist. Man brauchte den täglichen „Hawjungs- arger" nicht so ernst zu nehmen und sollte immer daran denken, daß es, solange Verkehrsformen bestehen, konventionelle Lügen gibt. Schüler- wogeleien sind ein trauriges Zeichen für den Arbeitsstil der bei uns herrscht, liber keineswegs kennzeichnend für die moralische Beschaffenheit des einzelnen. Wenn jemand seine Hausarbeit abschreibt, so hat er hauptsächlich „unselbständig Grenzboten II 1912 43

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/349>, abgerufen am 01.07.2024.