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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Stilfragen der Schule

erfolge, und daher sollten wir die entwürdigende Tätigkeit ganz einstellen; sie
trägt nur dazu bei, den unaufrichtigen Verkehrsstil zwischen Lehrer- und Schüler¬
welt zu fördern. Das Mittel der Überredung wird besser wirken, wenn das
Kneipen nicht durch die Schulordnung verboten ist. Die Hauptsache ist die
Aufklärung über die Gefahr des Alkohols, Anleitung zu Wanderfahrten und
Sport, für deren Teilnehmer der Alkoholgenuß durch eigene Verabredung
eingeschränkt oder verpönt ist.

Allen erwähnten und noch nicht angedeuteten Übelständen abzuhelfen, wird
nicht mit einer Schulreform möglich sein. Die Schulreform muß beständig am
Werke bleiben. Es müssen geradezu Versuchsstationen eingerichtet werden. Die
freien Schulgemeinden, die sich unter großen Opfern mutig neue Wege suchen,
müssen in Lehrerkreisen größere Beachtung finden; Beurlaubungen an eine solche
Versuchsstation, Berufung bewährter freier Reformer an Staats- und Gemeinde¬
schulen, staatliche Versuchsstationen müssen uns helfen neue Wege zu finden.

Es ist hier nicht der Ort, einen ausführlichen neuen Lehrplan zu ent¬
werfen. Es sind schon sehr gute Vorschläge gemacht worden. Zunächst handelt
es sich darum, neue Mittelpunkte des Interesses zu finden. Wie sich das
humanistische Gymnasium in seiner alten rassigen Einheitlichkeit um Homer,
Sophokles, Horaz, Cicero, Tacitus konzentrierte, so muß die moderne Schule
sich um das Nibelungenlied, Luther, Friedrich den Großen, Goethe und
Bismarck drehen. Als neuer Faktor kommen die Naturwissenschaften hinzu.
Die logische Sprachschulung, die man früher am Lateinischen gewann, muß durch
die Muttersprache gebracht werden. Fremde Sprachen müssen konsequent nach
direkter Methode unterrichtet werden, und den ausgesprochenen Zweck: sie ohne
Wörterbuch zu verstehen, darf man nie aus dem Auge verlieren. Auf münd¬
liche Beherrschung darf gar kein Wert gelegt werden, wohl auf gute Aus¬
sprache und Verständnis des Gesprochenen. Jeder weiß, daß man im Auslande
eine fremde Sprache in vier Wochen erlernt, und wer im Inland mit Aus¬
ländern verkehrt, hat Deutsch zu sprechen. Es kommt mehr darauf an,
Shakespeare lesen zu können, als einer englischen Dame über die Ungezogenheit,
in Teutschland englisch zu sprechen, hinwegzuhelfen.

Hätten wir für unsere Schule wieder größere Gesichtspunkte gefunden, so
müßten wir von den Ausgleichsbestimmungen noch viel mehr Gebrauch machen.
Wer in den sprachlich-historischen Fächern keine genügenden Leistungen erzielen
kann, muß sich durch gute Leistungen in den mathematisch-naturwissenschaftlichen
Fächern herausreißen können, und umgekehrt. Ein Mindestmatz des Fleißes muß
überall verlangt werden; das versteht sich von selbst.

Die Einheitsschule, die von den einen als Ausbund pädagogischer Utopien,
von den andern als selbstverständliche Forderung eines sozialempfindenden
Volkes -- und zwar mit vollstem Recht -- hingestellt wird, muß vom Stand¬
punkt des Schulstils wenigstens soweit durchgeführt werden, daß die höhere
Schule erst mit Untertertia beginnt. Dann haben wir uns nicht zugleich in


Stilfragen der Schule

erfolge, und daher sollten wir die entwürdigende Tätigkeit ganz einstellen; sie
trägt nur dazu bei, den unaufrichtigen Verkehrsstil zwischen Lehrer- und Schüler¬
welt zu fördern. Das Mittel der Überredung wird besser wirken, wenn das
Kneipen nicht durch die Schulordnung verboten ist. Die Hauptsache ist die
Aufklärung über die Gefahr des Alkohols, Anleitung zu Wanderfahrten und
Sport, für deren Teilnehmer der Alkoholgenuß durch eigene Verabredung
eingeschränkt oder verpönt ist.

Allen erwähnten und noch nicht angedeuteten Übelständen abzuhelfen, wird
nicht mit einer Schulreform möglich sein. Die Schulreform muß beständig am
Werke bleiben. Es müssen geradezu Versuchsstationen eingerichtet werden. Die
freien Schulgemeinden, die sich unter großen Opfern mutig neue Wege suchen,
müssen in Lehrerkreisen größere Beachtung finden; Beurlaubungen an eine solche
Versuchsstation, Berufung bewährter freier Reformer an Staats- und Gemeinde¬
schulen, staatliche Versuchsstationen müssen uns helfen neue Wege zu finden.

Es ist hier nicht der Ort, einen ausführlichen neuen Lehrplan zu ent¬
werfen. Es sind schon sehr gute Vorschläge gemacht worden. Zunächst handelt
es sich darum, neue Mittelpunkte des Interesses zu finden. Wie sich das
humanistische Gymnasium in seiner alten rassigen Einheitlichkeit um Homer,
Sophokles, Horaz, Cicero, Tacitus konzentrierte, so muß die moderne Schule
sich um das Nibelungenlied, Luther, Friedrich den Großen, Goethe und
Bismarck drehen. Als neuer Faktor kommen die Naturwissenschaften hinzu.
Die logische Sprachschulung, die man früher am Lateinischen gewann, muß durch
die Muttersprache gebracht werden. Fremde Sprachen müssen konsequent nach
direkter Methode unterrichtet werden, und den ausgesprochenen Zweck: sie ohne
Wörterbuch zu verstehen, darf man nie aus dem Auge verlieren. Auf münd¬
liche Beherrschung darf gar kein Wert gelegt werden, wohl auf gute Aus¬
sprache und Verständnis des Gesprochenen. Jeder weiß, daß man im Auslande
eine fremde Sprache in vier Wochen erlernt, und wer im Inland mit Aus¬
ländern verkehrt, hat Deutsch zu sprechen. Es kommt mehr darauf an,
Shakespeare lesen zu können, als einer englischen Dame über die Ungezogenheit,
in Teutschland englisch zu sprechen, hinwegzuhelfen.

Hätten wir für unsere Schule wieder größere Gesichtspunkte gefunden, so
müßten wir von den Ausgleichsbestimmungen noch viel mehr Gebrauch machen.
Wer in den sprachlich-historischen Fächern keine genügenden Leistungen erzielen
kann, muß sich durch gute Leistungen in den mathematisch-naturwissenschaftlichen
Fächern herausreißen können, und umgekehrt. Ein Mindestmatz des Fleißes muß
überall verlangt werden; das versteht sich von selbst.

Die Einheitsschule, die von den einen als Ausbund pädagogischer Utopien,
von den andern als selbstverständliche Forderung eines sozialempfindenden
Volkes — und zwar mit vollstem Recht — hingestellt wird, muß vom Stand¬
punkt des Schulstils wenigstens soweit durchgeführt werden, daß die höhere
Schule erst mit Untertertia beginnt. Dann haben wir uns nicht zugleich in


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[0351] Stilfragen der Schule erfolge, und daher sollten wir die entwürdigende Tätigkeit ganz einstellen; sie trägt nur dazu bei, den unaufrichtigen Verkehrsstil zwischen Lehrer- und Schüler¬ welt zu fördern. Das Mittel der Überredung wird besser wirken, wenn das Kneipen nicht durch die Schulordnung verboten ist. Die Hauptsache ist die Aufklärung über die Gefahr des Alkohols, Anleitung zu Wanderfahrten und Sport, für deren Teilnehmer der Alkoholgenuß durch eigene Verabredung eingeschränkt oder verpönt ist. Allen erwähnten und noch nicht angedeuteten Übelständen abzuhelfen, wird nicht mit einer Schulreform möglich sein. Die Schulreform muß beständig am Werke bleiben. Es müssen geradezu Versuchsstationen eingerichtet werden. Die freien Schulgemeinden, die sich unter großen Opfern mutig neue Wege suchen, müssen in Lehrerkreisen größere Beachtung finden; Beurlaubungen an eine solche Versuchsstation, Berufung bewährter freier Reformer an Staats- und Gemeinde¬ schulen, staatliche Versuchsstationen müssen uns helfen neue Wege zu finden. Es ist hier nicht der Ort, einen ausführlichen neuen Lehrplan zu ent¬ werfen. Es sind schon sehr gute Vorschläge gemacht worden. Zunächst handelt es sich darum, neue Mittelpunkte des Interesses zu finden. Wie sich das humanistische Gymnasium in seiner alten rassigen Einheitlichkeit um Homer, Sophokles, Horaz, Cicero, Tacitus konzentrierte, so muß die moderne Schule sich um das Nibelungenlied, Luther, Friedrich den Großen, Goethe und Bismarck drehen. Als neuer Faktor kommen die Naturwissenschaften hinzu. Die logische Sprachschulung, die man früher am Lateinischen gewann, muß durch die Muttersprache gebracht werden. Fremde Sprachen müssen konsequent nach direkter Methode unterrichtet werden, und den ausgesprochenen Zweck: sie ohne Wörterbuch zu verstehen, darf man nie aus dem Auge verlieren. Auf münd¬ liche Beherrschung darf gar kein Wert gelegt werden, wohl auf gute Aus¬ sprache und Verständnis des Gesprochenen. Jeder weiß, daß man im Auslande eine fremde Sprache in vier Wochen erlernt, und wer im Inland mit Aus¬ ländern verkehrt, hat Deutsch zu sprechen. Es kommt mehr darauf an, Shakespeare lesen zu können, als einer englischen Dame über die Ungezogenheit, in Teutschland englisch zu sprechen, hinwegzuhelfen. Hätten wir für unsere Schule wieder größere Gesichtspunkte gefunden, so müßten wir von den Ausgleichsbestimmungen noch viel mehr Gebrauch machen. Wer in den sprachlich-historischen Fächern keine genügenden Leistungen erzielen kann, muß sich durch gute Leistungen in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern herausreißen können, und umgekehrt. Ein Mindestmatz des Fleißes muß überall verlangt werden; das versteht sich von selbst. Die Einheitsschule, die von den einen als Ausbund pädagogischer Utopien, von den andern als selbstverständliche Forderung eines sozialempfindenden Volkes — und zwar mit vollstem Recht — hingestellt wird, muß vom Stand¬ punkt des Schulstils wenigstens soweit durchgeführt werden, daß die höhere Schule erst mit Untertertia beginnt. Dann haben wir uns nicht zugleich in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/351>, abgerufen am 26.06.2024.