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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Stilfragen der Schule

Notwendig ist die Schulreform um so mehr, weil auch unser, der Lehrer,
Arbeitsstil unter derselben Zerstücklung leidet, wie der, der Schüler. Bei der
zunehmenden Spezialisierung der einzelnen Fächer wird es immer schwerer, die
drei Gebiete, die man mindestens beherrschen muß, zu verarbeiten. Aber an
drei Fächern haben wir in Zeiten der Überfüllung noch nicht genug. Sobald
die Nachfrage geringer ist als das Angebot, beginnt unter den Bewerbern die
verhaßte Fakultätenjagd. Altphilologen wird zur Bedingung ihrer Anstellung
eine Fakultas in Erdkunde, Mathematikern in Französisch oder Englisch gemacht
und ähnliches. Ich schlage eine beliebige Seite im Kunze-Kalender auf, treffe
die Professoren mit der Anciennität von 1883 und 1884. Fast alle besitzen
mehr als drei Lehrbefähigungen, viele fünf, einige sechs, einer sieben; als
Kuriosum erwähne ich die Zusammenstellung: Chemie, Mineralogie, Botanik,
Zoologie, Französisch, Religion! "Unser Wissen ist Stückwerk" übersetzt Luther,
aber das hatte er denn doch kaum vorausgeahnt!

Niemand wird heute mehr glauben, daß eine solche Fülle von Fakultäten
eine umfassende Bildung gewährleistet. Wir sind im Gegenteil sehr mißtrauisch
gegen die Fakultätenjagd geworden und bekennen fast durchweg, daß man an
drei Fakultäten überreichlich genug hat. In zwei nahe zusammengehörigen
Fächern kann man seine Persönlichkeit ausprägen. Man kann sich von dein
Fach, das man zu seinem Eigentum macht, den Stempel aufdrücken lassen.
Man muß mit seinem Fache zusammenwachsen, um darin guten Unterricht geben
zu können. Man muß aus der Fülle schöpfen können und nicht auf Schritt
und Tritt von Leitfäden und täglicher Vorbereitung abhängig sein. Zum
Einpauker genügt es,- daß man den Schülern immer um eine Lektion
voraus präpariert ist. Davon reden wir aber nicht. Die Schüler sollen von
den besten Lehrern in jedem Fache unterrichtet werden. Der heutige Zustand,
daß Oberlehrer und selbst Kandidaten in Fächern unterrichten, zu denen sie
weder Beruf noch Neigung haben, erstickt die Lehrbegeisterung im Keime oder
knickt sie in der Blüte und ist ein Hohn auf unsere Studien. Wozu haben
wir studiert, wenn wir in anderen Fächern beschäftigt werden oder wenn
andere den Unterricht ohne Studium leisten können! Es ist zu fordern: Über¬
ragende Ausbildung in zwei nahe zusammengehörigen Fächern und Unter¬
richt nur auf diesem Gebiet. Denn Wissen allein macht es bei uns nicht.
Die lebendige Erfassung der Hauptlinien, die überlegene Vereinfachung ist sür
uns ausschlaggebend.

Was unsern Arbeitsstil ebenso wie die Zerstücklung des stofflichen Interesses
gefährdet, ist die Notwendigkeit innerhalb eines Jahres in zu vielen verschiedenen
Klassen zu unterrichten. Das stellt harte Anforderungen an ein Umdenkungs-
vermögeu, das nicht jeder besitzt, das in raschen Jahren wohl angeht, wo die
Begeisterung noch über alle Schwierigkeiten mit vollen Schwingen hinweghilft.
Müssen wir in einem Jahre in fünf verschiedenen Klassen, darunter Sexta und
Prima oder Quinta und Obcrsekunda vier verschiedene Fächer unterrichten, so


Stilfragen der Schule

Notwendig ist die Schulreform um so mehr, weil auch unser, der Lehrer,
Arbeitsstil unter derselben Zerstücklung leidet, wie der, der Schüler. Bei der
zunehmenden Spezialisierung der einzelnen Fächer wird es immer schwerer, die
drei Gebiete, die man mindestens beherrschen muß, zu verarbeiten. Aber an
drei Fächern haben wir in Zeiten der Überfüllung noch nicht genug. Sobald
die Nachfrage geringer ist als das Angebot, beginnt unter den Bewerbern die
verhaßte Fakultätenjagd. Altphilologen wird zur Bedingung ihrer Anstellung
eine Fakultas in Erdkunde, Mathematikern in Französisch oder Englisch gemacht
und ähnliches. Ich schlage eine beliebige Seite im Kunze-Kalender auf, treffe
die Professoren mit der Anciennität von 1883 und 1884. Fast alle besitzen
mehr als drei Lehrbefähigungen, viele fünf, einige sechs, einer sieben; als
Kuriosum erwähne ich die Zusammenstellung: Chemie, Mineralogie, Botanik,
Zoologie, Französisch, Religion! „Unser Wissen ist Stückwerk" übersetzt Luther,
aber das hatte er denn doch kaum vorausgeahnt!

Niemand wird heute mehr glauben, daß eine solche Fülle von Fakultäten
eine umfassende Bildung gewährleistet. Wir sind im Gegenteil sehr mißtrauisch
gegen die Fakultätenjagd geworden und bekennen fast durchweg, daß man an
drei Fakultäten überreichlich genug hat. In zwei nahe zusammengehörigen
Fächern kann man seine Persönlichkeit ausprägen. Man kann sich von dein
Fach, das man zu seinem Eigentum macht, den Stempel aufdrücken lassen.
Man muß mit seinem Fache zusammenwachsen, um darin guten Unterricht geben
zu können. Man muß aus der Fülle schöpfen können und nicht auf Schritt
und Tritt von Leitfäden und täglicher Vorbereitung abhängig sein. Zum
Einpauker genügt es,- daß man den Schülern immer um eine Lektion
voraus präpariert ist. Davon reden wir aber nicht. Die Schüler sollen von
den besten Lehrern in jedem Fache unterrichtet werden. Der heutige Zustand,
daß Oberlehrer und selbst Kandidaten in Fächern unterrichten, zu denen sie
weder Beruf noch Neigung haben, erstickt die Lehrbegeisterung im Keime oder
knickt sie in der Blüte und ist ein Hohn auf unsere Studien. Wozu haben
wir studiert, wenn wir in anderen Fächern beschäftigt werden oder wenn
andere den Unterricht ohne Studium leisten können! Es ist zu fordern: Über¬
ragende Ausbildung in zwei nahe zusammengehörigen Fächern und Unter¬
richt nur auf diesem Gebiet. Denn Wissen allein macht es bei uns nicht.
Die lebendige Erfassung der Hauptlinien, die überlegene Vereinfachung ist sür
uns ausschlaggebend.

Was unsern Arbeitsstil ebenso wie die Zerstücklung des stofflichen Interesses
gefährdet, ist die Notwendigkeit innerhalb eines Jahres in zu vielen verschiedenen
Klassen zu unterrichten. Das stellt harte Anforderungen an ein Umdenkungs-
vermögeu, das nicht jeder besitzt, das in raschen Jahren wohl angeht, wo die
Begeisterung noch über alle Schwierigkeiten mit vollen Schwingen hinweghilft.
Müssen wir in einem Jahre in fünf verschiedenen Klassen, darunter Sexta und
Prima oder Quinta und Obcrsekunda vier verschiedene Fächer unterrichten, so


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[0348] Stilfragen der Schule Notwendig ist die Schulreform um so mehr, weil auch unser, der Lehrer, Arbeitsstil unter derselben Zerstücklung leidet, wie der, der Schüler. Bei der zunehmenden Spezialisierung der einzelnen Fächer wird es immer schwerer, die drei Gebiete, die man mindestens beherrschen muß, zu verarbeiten. Aber an drei Fächern haben wir in Zeiten der Überfüllung noch nicht genug. Sobald die Nachfrage geringer ist als das Angebot, beginnt unter den Bewerbern die verhaßte Fakultätenjagd. Altphilologen wird zur Bedingung ihrer Anstellung eine Fakultas in Erdkunde, Mathematikern in Französisch oder Englisch gemacht und ähnliches. Ich schlage eine beliebige Seite im Kunze-Kalender auf, treffe die Professoren mit der Anciennität von 1883 und 1884. Fast alle besitzen mehr als drei Lehrbefähigungen, viele fünf, einige sechs, einer sieben; als Kuriosum erwähne ich die Zusammenstellung: Chemie, Mineralogie, Botanik, Zoologie, Französisch, Religion! „Unser Wissen ist Stückwerk" übersetzt Luther, aber das hatte er denn doch kaum vorausgeahnt! Niemand wird heute mehr glauben, daß eine solche Fülle von Fakultäten eine umfassende Bildung gewährleistet. Wir sind im Gegenteil sehr mißtrauisch gegen die Fakultätenjagd geworden und bekennen fast durchweg, daß man an drei Fakultäten überreichlich genug hat. In zwei nahe zusammengehörigen Fächern kann man seine Persönlichkeit ausprägen. Man kann sich von dein Fach, das man zu seinem Eigentum macht, den Stempel aufdrücken lassen. Man muß mit seinem Fache zusammenwachsen, um darin guten Unterricht geben zu können. Man muß aus der Fülle schöpfen können und nicht auf Schritt und Tritt von Leitfäden und täglicher Vorbereitung abhängig sein. Zum Einpauker genügt es,- daß man den Schülern immer um eine Lektion voraus präpariert ist. Davon reden wir aber nicht. Die Schüler sollen von den besten Lehrern in jedem Fache unterrichtet werden. Der heutige Zustand, daß Oberlehrer und selbst Kandidaten in Fächern unterrichten, zu denen sie weder Beruf noch Neigung haben, erstickt die Lehrbegeisterung im Keime oder knickt sie in der Blüte und ist ein Hohn auf unsere Studien. Wozu haben wir studiert, wenn wir in anderen Fächern beschäftigt werden oder wenn andere den Unterricht ohne Studium leisten können! Es ist zu fordern: Über¬ ragende Ausbildung in zwei nahe zusammengehörigen Fächern und Unter¬ richt nur auf diesem Gebiet. Denn Wissen allein macht es bei uns nicht. Die lebendige Erfassung der Hauptlinien, die überlegene Vereinfachung ist sür uns ausschlaggebend. Was unsern Arbeitsstil ebenso wie die Zerstücklung des stofflichen Interesses gefährdet, ist die Notwendigkeit innerhalb eines Jahres in zu vielen verschiedenen Klassen zu unterrichten. Das stellt harte Anforderungen an ein Umdenkungs- vermögeu, das nicht jeder besitzt, das in raschen Jahren wohl angeht, wo die Begeisterung noch über alle Schwierigkeiten mit vollen Schwingen hinweghilft. Müssen wir in einem Jahre in fünf verschiedenen Klassen, darunter Sexta und Prima oder Quinta und Obcrsekunda vier verschiedene Fächer unterrichten, so

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/348>, abgerufen am 03.07.2024.