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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Stilfragen der Schule

Eine derartige Verarbeitung treibender Eindrücke war früher, auf rein
humanistischen Schulen, besser möglich als jetzt. Griechische und römische
Geschichte, Sprache und Literatur hingen für den Schüler so eng zusammen,
daß er von einem befruchtenden Erlebnis aus seine Fühlfäden auf das gesamte
Gebiet, auf alle Hauptfächer erstrecken konnte, die bei seiner Beurteilung in
Frage kamen. Mit einem einzigen persönlich erfaßten Begriff konnte man fast
das ganze sehnlicher meistern.

Heute scheint mir jene Vertiefung nahezu unmöglich gemacht. Der Schüler
hat sich durchschnittlich auf vier Fächer (oft auf fünf, ja sechs) vorzubereiten.
Ist es ihm, etwa bei der Vorbereitung auf eine Goethe- oder Shakespearestunde,
vergönnt gewesen, ein Stückchen offenen Himmel zu sehen, so wird ihm sehr
bald einfallen, daß er noch einige Paragraphen französische Grammatik zu pauken,
eine mathematische Hausarbeit einzuschreiben und einen Abschnitt römische Ge¬
schichte zu lernen hat. Gleichviel! Die Jugend ist leichtbeschwingt und soll auf
keinen Fall nur mit Kuchen großgezogen werden. Vielleicht findet der Schüler
nach Erledigung der Arbeiten, wenn sie ihn nicht den ganzen Abend gekostet
haben, die Stimmung wieder. Am Ende ist er auch energisch genug, künftig
seine Pflichtarbeiten zuerst zu erledigen und dann in die neuentdeckte Welt
hineinzutreiben. Aber, selbst wenn der beglückte Jüngling es fertig bringt,
unter den schwierigeren Verhältnissen von heute seine Liebhaberei nicht auf Kosten
seiner übrigen Schularbeiten zu betreiben, so nützt ihm bei der gleichmäßigen
Bewertung so vieler heterogener Fächer die Vertiefung in das eine Fach für
sein sehnlicher so gut wie gar nichts. Es ist nicht mehr möglich, die Haupt¬
masse des Schulstoffs von einer großen Anschauung aus zu erfassen. Jedes
Fach, durch einen anderen Lehrer vorgetragen, erfordert andere, eigene Auf¬
fassung, und die selbständige Arbeit wird entweder einschlafen oder neben der
Schule hergehen; sie kommt weder dem Schulbetriebe noch vorläufig dem Schiller
zugute. Nicht durch überbürdung -- denn bei aufmerksamer Verteilung von
seiten der Schule ist die tägliche Arbeit für Durchschnittsschüler zu leisten --
sondern durch Zersplitterung des Interesses werden die Kräfte lahmgelegt, bleiben
tatsächlich fruchtbare Begabungen zu lange brach liegen. An der Zerstücklung
leidet der Arbeitsstil unserer Schuljugend. Wir sehen so erstaunlich wenig
selbständige Arbeiten, die Abiturientenprüfungen sind wahre Martern für den
prüfenden Lehrer; trotz einer erstickenden Fülle von Einzelkenntnissen, die da
herausgefragt werden, hat man selten die Freude, ein paar zusammenhängende
Sätze zu hören, die auf eigene Verarbeitung schließen lassen. Unser Ziel ist
doch, den Grund zu allgemeiner Bildung zu legen, den Weg zu weisen, auf
dein man zu einem eigenen Arbeitsfeld und eigener Arbeitsweise kommt. Wir
verlangen aber zu vieles durcheinander, und die innere Verarbeitung und Ein-
schmelzung kommt darüber zu kurz. Es muß also Abhilfe geschaffen werden
und die ist nur durch eine ganz gründliche Schulreform möglich.




Stilfragen der Schule

Eine derartige Verarbeitung treibender Eindrücke war früher, auf rein
humanistischen Schulen, besser möglich als jetzt. Griechische und römische
Geschichte, Sprache und Literatur hingen für den Schüler so eng zusammen,
daß er von einem befruchtenden Erlebnis aus seine Fühlfäden auf das gesamte
Gebiet, auf alle Hauptfächer erstrecken konnte, die bei seiner Beurteilung in
Frage kamen. Mit einem einzigen persönlich erfaßten Begriff konnte man fast
das ganze sehnlicher meistern.

Heute scheint mir jene Vertiefung nahezu unmöglich gemacht. Der Schüler
hat sich durchschnittlich auf vier Fächer (oft auf fünf, ja sechs) vorzubereiten.
Ist es ihm, etwa bei der Vorbereitung auf eine Goethe- oder Shakespearestunde,
vergönnt gewesen, ein Stückchen offenen Himmel zu sehen, so wird ihm sehr
bald einfallen, daß er noch einige Paragraphen französische Grammatik zu pauken,
eine mathematische Hausarbeit einzuschreiben und einen Abschnitt römische Ge¬
schichte zu lernen hat. Gleichviel! Die Jugend ist leichtbeschwingt und soll auf
keinen Fall nur mit Kuchen großgezogen werden. Vielleicht findet der Schüler
nach Erledigung der Arbeiten, wenn sie ihn nicht den ganzen Abend gekostet
haben, die Stimmung wieder. Am Ende ist er auch energisch genug, künftig
seine Pflichtarbeiten zuerst zu erledigen und dann in die neuentdeckte Welt
hineinzutreiben. Aber, selbst wenn der beglückte Jüngling es fertig bringt,
unter den schwierigeren Verhältnissen von heute seine Liebhaberei nicht auf Kosten
seiner übrigen Schularbeiten zu betreiben, so nützt ihm bei der gleichmäßigen
Bewertung so vieler heterogener Fächer die Vertiefung in das eine Fach für
sein sehnlicher so gut wie gar nichts. Es ist nicht mehr möglich, die Haupt¬
masse des Schulstoffs von einer großen Anschauung aus zu erfassen. Jedes
Fach, durch einen anderen Lehrer vorgetragen, erfordert andere, eigene Auf¬
fassung, und die selbständige Arbeit wird entweder einschlafen oder neben der
Schule hergehen; sie kommt weder dem Schulbetriebe noch vorläufig dem Schiller
zugute. Nicht durch überbürdung — denn bei aufmerksamer Verteilung von
seiten der Schule ist die tägliche Arbeit für Durchschnittsschüler zu leisten —
sondern durch Zersplitterung des Interesses werden die Kräfte lahmgelegt, bleiben
tatsächlich fruchtbare Begabungen zu lange brach liegen. An der Zerstücklung
leidet der Arbeitsstil unserer Schuljugend. Wir sehen so erstaunlich wenig
selbständige Arbeiten, die Abiturientenprüfungen sind wahre Martern für den
prüfenden Lehrer; trotz einer erstickenden Fülle von Einzelkenntnissen, die da
herausgefragt werden, hat man selten die Freude, ein paar zusammenhängende
Sätze zu hören, die auf eigene Verarbeitung schließen lassen. Unser Ziel ist
doch, den Grund zu allgemeiner Bildung zu legen, den Weg zu weisen, auf
dein man zu einem eigenen Arbeitsfeld und eigener Arbeitsweise kommt. Wir
verlangen aber zu vieles durcheinander, und die innere Verarbeitung und Ein-
schmelzung kommt darüber zu kurz. Es muß also Abhilfe geschaffen werden
und die ist nur durch eine ganz gründliche Schulreform möglich.




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[0347] Stilfragen der Schule Eine derartige Verarbeitung treibender Eindrücke war früher, auf rein humanistischen Schulen, besser möglich als jetzt. Griechische und römische Geschichte, Sprache und Literatur hingen für den Schüler so eng zusammen, daß er von einem befruchtenden Erlebnis aus seine Fühlfäden auf das gesamte Gebiet, auf alle Hauptfächer erstrecken konnte, die bei seiner Beurteilung in Frage kamen. Mit einem einzigen persönlich erfaßten Begriff konnte man fast das ganze sehnlicher meistern. Heute scheint mir jene Vertiefung nahezu unmöglich gemacht. Der Schüler hat sich durchschnittlich auf vier Fächer (oft auf fünf, ja sechs) vorzubereiten. Ist es ihm, etwa bei der Vorbereitung auf eine Goethe- oder Shakespearestunde, vergönnt gewesen, ein Stückchen offenen Himmel zu sehen, so wird ihm sehr bald einfallen, daß er noch einige Paragraphen französische Grammatik zu pauken, eine mathematische Hausarbeit einzuschreiben und einen Abschnitt römische Ge¬ schichte zu lernen hat. Gleichviel! Die Jugend ist leichtbeschwingt und soll auf keinen Fall nur mit Kuchen großgezogen werden. Vielleicht findet der Schüler nach Erledigung der Arbeiten, wenn sie ihn nicht den ganzen Abend gekostet haben, die Stimmung wieder. Am Ende ist er auch energisch genug, künftig seine Pflichtarbeiten zuerst zu erledigen und dann in die neuentdeckte Welt hineinzutreiben. Aber, selbst wenn der beglückte Jüngling es fertig bringt, unter den schwierigeren Verhältnissen von heute seine Liebhaberei nicht auf Kosten seiner übrigen Schularbeiten zu betreiben, so nützt ihm bei der gleichmäßigen Bewertung so vieler heterogener Fächer die Vertiefung in das eine Fach für sein sehnlicher so gut wie gar nichts. Es ist nicht mehr möglich, die Haupt¬ masse des Schulstoffs von einer großen Anschauung aus zu erfassen. Jedes Fach, durch einen anderen Lehrer vorgetragen, erfordert andere, eigene Auf¬ fassung, und die selbständige Arbeit wird entweder einschlafen oder neben der Schule hergehen; sie kommt weder dem Schulbetriebe noch vorläufig dem Schiller zugute. Nicht durch überbürdung — denn bei aufmerksamer Verteilung von seiten der Schule ist die tägliche Arbeit für Durchschnittsschüler zu leisten — sondern durch Zersplitterung des Interesses werden die Kräfte lahmgelegt, bleiben tatsächlich fruchtbare Begabungen zu lange brach liegen. An der Zerstücklung leidet der Arbeitsstil unserer Schuljugend. Wir sehen so erstaunlich wenig selbständige Arbeiten, die Abiturientenprüfungen sind wahre Martern für den prüfenden Lehrer; trotz einer erstickenden Fülle von Einzelkenntnissen, die da herausgefragt werden, hat man selten die Freude, ein paar zusammenhängende Sätze zu hören, die auf eigene Verarbeitung schließen lassen. Unser Ziel ist doch, den Grund zu allgemeiner Bildung zu legen, den Weg zu weisen, auf dein man zu einem eigenen Arbeitsfeld und eigener Arbeitsweise kommt. Wir verlangen aber zu vieles durcheinander, und die innere Verarbeitung und Ein- schmelzung kommt darüber zu kurz. Es muß also Abhilfe geschaffen werden und die ist nur durch eine ganz gründliche Schulreform möglich.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/347>, abgerufen am 28.09.2024.