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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Stilfmgen der schule

selbst unter einer Horde unsauberer Buben saß, die Tische, Bänke, Wände und
Lehrer mit Tinte bespritzten, Butterbrotreste auf die Diele warfen und im Verein
mit den Lehrern den Fußboden als Spucknapf benutzten. Die allgemeine Ver¬
feinerung der Sitten hat sich, nach meinen Erfahrungen, in der Schule über¬
raschend schnell geltend gemacht. Kunstwarts- und Dürerbundsideen haben in
schnellem Siegesfluge in die Schulen aller Gattungen ihren Einzug gehalten.
Die Kultur des Sinnes wird angelegentlichst gepflegt. Anschauungsbilder sind
auf eine viel höhere Stufe zur künstlerischen Vollendung gehoben; es ist dabei
nur die Gefahr, daß angeflogene und angelesene Urteile über Kunst und Künstler
ausgesprochen werden, weil die Popularisierung ästhetischer Urteile einen bequemen
Wort- und Phrasenschatz in den Mund gibt. Mir will es oft scheinen, als ob
all diese äußerlichen Blüten ahnungsvolle Zeichen inneren Niedergangs wären,
den wir durch kräftigen Eingriff -- neuen Inhalt in neue Schläuche -- hindern
müssen. Wird die Kunst noch ernst und heilig genommen, wenn ihre Bewertung
gelehrt wird! Kunsterziehung wo kein Hunger ist stillt kein Bedürfnis. Und
nach meiner Ansicht ist das Bedürfnis noch nicht genügend geweckt. Ich glaube,
daß man ruhiger abwarten müßte, was von den gesäeten Körnern aufgeht.
Ein einziger tiefer Eindruck ist mehr wert, als die Steigerung der gesamten
sinnlichen Kultur. Aber, wenn jene Bestrebungen vielleicht etwas ungeduldig
an der Verfeinerung des äußeren Sinnes arbeiten, so haben sie doch mit großem
Erfolg viel Geschmackloses der Lächerlichkeit preisgegeben und auch im sehnl¬
icher unmöglich gemacht.

Schulstil ist vor allem Arbeitsstil, für Schüler und Lehrer. Und ein frucht¬
barer Arbeitsstil wird durch die heutige Schule sür beide Teile fast unmöglich.
Wir wissen es alle aus unserer eigenen Jugendzeit, wie ein Tag, ein Abend
stiller Versenkung jählings weite Türen öffnet in eine Welt, deren Dasein man
bisher nicht ahnte. Ein Gefühl, wie Goethe es beschreibt, als er Shakespeare
kennen lernte, durchzitterte uns, wir waren wie Blindgeborene, denen plötzlich
das Augenlicht geschenkt wird. Wie durch Zauberschlag werden große Zusammen¬
hänge offenbar, und auf die gesamte Erkenntnis ergießt sich ein Lichtstrahl,
strömt eine befruchtende Flut -- "die Existenz wird um ein Bedeutendes erweitert".

Derartige seelische Erlebnisse muß der Jüngling haben: er muß tagelang,
wochenlang zehren dürfen von dem gewaltigen Eindruck, der ihn erschüttert hat,
er muß Zeit und Ruhe haben das Erlebnis zu verarbeiten. Eine Vertiefung
in die neue Welt -- deren Eroberung ich mir ebensogut auf physikalischem,
wie philosophischem und literarischeni Gebiete denken kann -- wird den Jüng¬
ling seinen Arbeitsstil, d. h. die Auseinandersetzung seiner Eigenart mit dem
Lern- und Erkenntnisstoff finden lassen; er sucht selbständig seine Erlebnisse
zu verbinden und geht von der einen großen Bereicherung Schritt vor Schritt
an die Bearbeitung des ganzen Stoffes, der an ihn herangetragen wird. Von
einem festen Interessenkreis erobert man sich nach und nach die ganze An¬
schauungswelt.


Stilfmgen der schule

selbst unter einer Horde unsauberer Buben saß, die Tische, Bänke, Wände und
Lehrer mit Tinte bespritzten, Butterbrotreste auf die Diele warfen und im Verein
mit den Lehrern den Fußboden als Spucknapf benutzten. Die allgemeine Ver¬
feinerung der Sitten hat sich, nach meinen Erfahrungen, in der Schule über¬
raschend schnell geltend gemacht. Kunstwarts- und Dürerbundsideen haben in
schnellem Siegesfluge in die Schulen aller Gattungen ihren Einzug gehalten.
Die Kultur des Sinnes wird angelegentlichst gepflegt. Anschauungsbilder sind
auf eine viel höhere Stufe zur künstlerischen Vollendung gehoben; es ist dabei
nur die Gefahr, daß angeflogene und angelesene Urteile über Kunst und Künstler
ausgesprochen werden, weil die Popularisierung ästhetischer Urteile einen bequemen
Wort- und Phrasenschatz in den Mund gibt. Mir will es oft scheinen, als ob
all diese äußerlichen Blüten ahnungsvolle Zeichen inneren Niedergangs wären,
den wir durch kräftigen Eingriff — neuen Inhalt in neue Schläuche — hindern
müssen. Wird die Kunst noch ernst und heilig genommen, wenn ihre Bewertung
gelehrt wird! Kunsterziehung wo kein Hunger ist stillt kein Bedürfnis. Und
nach meiner Ansicht ist das Bedürfnis noch nicht genügend geweckt. Ich glaube,
daß man ruhiger abwarten müßte, was von den gesäeten Körnern aufgeht.
Ein einziger tiefer Eindruck ist mehr wert, als die Steigerung der gesamten
sinnlichen Kultur. Aber, wenn jene Bestrebungen vielleicht etwas ungeduldig
an der Verfeinerung des äußeren Sinnes arbeiten, so haben sie doch mit großem
Erfolg viel Geschmackloses der Lächerlichkeit preisgegeben und auch im sehnl¬
icher unmöglich gemacht.

Schulstil ist vor allem Arbeitsstil, für Schüler und Lehrer. Und ein frucht¬
barer Arbeitsstil wird durch die heutige Schule sür beide Teile fast unmöglich.
Wir wissen es alle aus unserer eigenen Jugendzeit, wie ein Tag, ein Abend
stiller Versenkung jählings weite Türen öffnet in eine Welt, deren Dasein man
bisher nicht ahnte. Ein Gefühl, wie Goethe es beschreibt, als er Shakespeare
kennen lernte, durchzitterte uns, wir waren wie Blindgeborene, denen plötzlich
das Augenlicht geschenkt wird. Wie durch Zauberschlag werden große Zusammen¬
hänge offenbar, und auf die gesamte Erkenntnis ergießt sich ein Lichtstrahl,
strömt eine befruchtende Flut — „die Existenz wird um ein Bedeutendes erweitert".

Derartige seelische Erlebnisse muß der Jüngling haben: er muß tagelang,
wochenlang zehren dürfen von dem gewaltigen Eindruck, der ihn erschüttert hat,
er muß Zeit und Ruhe haben das Erlebnis zu verarbeiten. Eine Vertiefung
in die neue Welt — deren Eroberung ich mir ebensogut auf physikalischem,
wie philosophischem und literarischeni Gebiete denken kann — wird den Jüng¬
ling seinen Arbeitsstil, d. h. die Auseinandersetzung seiner Eigenart mit dem
Lern- und Erkenntnisstoff finden lassen; er sucht selbständig seine Erlebnisse
zu verbinden und geht von der einen großen Bereicherung Schritt vor Schritt
an die Bearbeitung des ganzen Stoffes, der an ihn herangetragen wird. Von
einem festen Interessenkreis erobert man sich nach und nach die ganze An¬
schauungswelt.


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[0346] Stilfmgen der schule selbst unter einer Horde unsauberer Buben saß, die Tische, Bänke, Wände und Lehrer mit Tinte bespritzten, Butterbrotreste auf die Diele warfen und im Verein mit den Lehrern den Fußboden als Spucknapf benutzten. Die allgemeine Ver¬ feinerung der Sitten hat sich, nach meinen Erfahrungen, in der Schule über¬ raschend schnell geltend gemacht. Kunstwarts- und Dürerbundsideen haben in schnellem Siegesfluge in die Schulen aller Gattungen ihren Einzug gehalten. Die Kultur des Sinnes wird angelegentlichst gepflegt. Anschauungsbilder sind auf eine viel höhere Stufe zur künstlerischen Vollendung gehoben; es ist dabei nur die Gefahr, daß angeflogene und angelesene Urteile über Kunst und Künstler ausgesprochen werden, weil die Popularisierung ästhetischer Urteile einen bequemen Wort- und Phrasenschatz in den Mund gibt. Mir will es oft scheinen, als ob all diese äußerlichen Blüten ahnungsvolle Zeichen inneren Niedergangs wären, den wir durch kräftigen Eingriff — neuen Inhalt in neue Schläuche — hindern müssen. Wird die Kunst noch ernst und heilig genommen, wenn ihre Bewertung gelehrt wird! Kunsterziehung wo kein Hunger ist stillt kein Bedürfnis. Und nach meiner Ansicht ist das Bedürfnis noch nicht genügend geweckt. Ich glaube, daß man ruhiger abwarten müßte, was von den gesäeten Körnern aufgeht. Ein einziger tiefer Eindruck ist mehr wert, als die Steigerung der gesamten sinnlichen Kultur. Aber, wenn jene Bestrebungen vielleicht etwas ungeduldig an der Verfeinerung des äußeren Sinnes arbeiten, so haben sie doch mit großem Erfolg viel Geschmackloses der Lächerlichkeit preisgegeben und auch im sehnl¬ icher unmöglich gemacht. Schulstil ist vor allem Arbeitsstil, für Schüler und Lehrer. Und ein frucht¬ barer Arbeitsstil wird durch die heutige Schule sür beide Teile fast unmöglich. Wir wissen es alle aus unserer eigenen Jugendzeit, wie ein Tag, ein Abend stiller Versenkung jählings weite Türen öffnet in eine Welt, deren Dasein man bisher nicht ahnte. Ein Gefühl, wie Goethe es beschreibt, als er Shakespeare kennen lernte, durchzitterte uns, wir waren wie Blindgeborene, denen plötzlich das Augenlicht geschenkt wird. Wie durch Zauberschlag werden große Zusammen¬ hänge offenbar, und auf die gesamte Erkenntnis ergießt sich ein Lichtstrahl, strömt eine befruchtende Flut — „die Existenz wird um ein Bedeutendes erweitert". Derartige seelische Erlebnisse muß der Jüngling haben: er muß tagelang, wochenlang zehren dürfen von dem gewaltigen Eindruck, der ihn erschüttert hat, er muß Zeit und Ruhe haben das Erlebnis zu verarbeiten. Eine Vertiefung in die neue Welt — deren Eroberung ich mir ebensogut auf physikalischem, wie philosophischem und literarischeni Gebiete denken kann — wird den Jüng¬ ling seinen Arbeitsstil, d. h. die Auseinandersetzung seiner Eigenart mit dem Lern- und Erkenntnisstoff finden lassen; er sucht selbständig seine Erlebnisse zu verbinden und geht von der einen großen Bereicherung Schritt vor Schritt an die Bearbeitung des ganzen Stoffes, der an ihn herangetragen wird. Von einem festen Interessenkreis erobert man sich nach und nach die ganze An¬ schauungswelt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/346>, abgerufen am 26.06.2024.