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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Der Ivieseilzcmn

Und da begann sie bitterlich zu weinen und -- erwachte.

Nun saß sie heißerschreckt auf ihrem Lager, und die Helle ihres zarten
Busens, die der kühle Mond liebkoste, ging stürmisch auf und nieder wie in
Fiebergluten.

Wo fand sie nun Erlösung für die Süße und die Sünde ihres Traums?

Und da begann die Sehnsucht gellend aus dem Dunkel ihrer Einsamkeit
emporzuschreien, nach ihm. dem Einen, Großen, Gütigen, der ihr allein Befreiung
und Erfüllung bringen konnte.

Und, ihrer wahnerhitzten Sinne nicht mehr mächtig, erhob sich nun Felicitas
in aller Stille vom Lager und begann in fiebernder Eile sich dürftig anzukleiden.

Dann huschte sie auf den Zehenspitzen hinaus, an des Vaters Stube vorbei
und die Treppe hinab, die diesmal kaum ein leises Knarren vernehmen ließ,
als wäre sie mit ihr verschwiegen im Bunde. Felicitas schob gelinde den
hölzernen Riegel vom Tor, und da stand sie auch schon zitternd auf der ein¬
samen Gasse, die der schiefe Mond nur dürftig erhellte.

Und nun begann sie, das Dunkel der Häuser entlang, in Scham und Scheu
und doch wie unwiderstehlich gerufen, den alten Weg ihres törichten Wahns
zu eilen, durch nichts behütet als durch ihre Sehnsucht. Sie glitt wie ein
flüchtiger Schatten dahin, noch völlig umsponnen von den zärtlichen Fiebern
ihres Traums. Eine Wolke hatte den Mond verdeckt und jagte mit fahlem
Gedunkel von Gasse zu Gasse. Schon war Felicitas dem Hause des Meisters
nicht mehr fern, da sah sie durch die Leere eines Seitengäßchens ein flimmerndes
Licht auf sich zukommen. Verängstigt blieb sie stehen und spähte dem Schein
entgegen. Sie wußte nicht vor noch zurück. Sie war, da nun Gefahr zu drohen
schien, mit einem Schlage wieder zur grausamen Wirklichkeit erwacht, und ihr
nächtlicher Weg erschien ihr verwegen und töricht zugleich. Sie sah eine dunkle
Gestalt, die ein Laternchen trug. Es war ein Mann von hohem stattlichen
Wuchs. Und sogleich vermochte sie zu erkennen, der nächtliche Wanderer sei
keineswegs wie ein Strolch oder Gassenschleicher gekleidet. In der nächsten
Sekunde ward ihr das pochende Herz wie von eiserner Faust zusammengepreßt,
denn jener stand vor ihr, den sie im Traum zu suchen ausgezogen war.

Da sank Felicitas mit wehem Seufzer an der Mauer nieder; schon aber
hatte sie Dürers Arm umfaßt, und so lag sie nun, das Haupt in scheuer Ver¬
wirrung gesenkt, reglos an seiner Brust.

"Felicitas", raunte ihr Dürer tieferschrocken zu, "was tut Ihr zu dieser
späten Stunde?"

Da sagte sie, das Haupt noch tiefer bergend: "Ich wollt' zu Euch!"

"Du törichtes .Kind," flüsterte Dürer erregt und vorwurfsvoll, "Du weißt
nit. was du tust!"

Felicitas erwiderte nichts. Ihr Atem aber ging so bang und ungestüm,
daß dem Meister plötzlich nebst aller Verwirrung die qualvolle Sorge beschlich.
das wunderliche Wesen sei an Leib und Seele gleicherweise erkrankt. Und ein


Grenzboten II 1912 42
Der Ivieseilzcmn

Und da begann sie bitterlich zu weinen und — erwachte.

Nun saß sie heißerschreckt auf ihrem Lager, und die Helle ihres zarten
Busens, die der kühle Mond liebkoste, ging stürmisch auf und nieder wie in
Fiebergluten.

Wo fand sie nun Erlösung für die Süße und die Sünde ihres Traums?

Und da begann die Sehnsucht gellend aus dem Dunkel ihrer Einsamkeit
emporzuschreien, nach ihm. dem Einen, Großen, Gütigen, der ihr allein Befreiung
und Erfüllung bringen konnte.

Und, ihrer wahnerhitzten Sinne nicht mehr mächtig, erhob sich nun Felicitas
in aller Stille vom Lager und begann in fiebernder Eile sich dürftig anzukleiden.

Dann huschte sie auf den Zehenspitzen hinaus, an des Vaters Stube vorbei
und die Treppe hinab, die diesmal kaum ein leises Knarren vernehmen ließ,
als wäre sie mit ihr verschwiegen im Bunde. Felicitas schob gelinde den
hölzernen Riegel vom Tor, und da stand sie auch schon zitternd auf der ein¬
samen Gasse, die der schiefe Mond nur dürftig erhellte.

Und nun begann sie, das Dunkel der Häuser entlang, in Scham und Scheu
und doch wie unwiderstehlich gerufen, den alten Weg ihres törichten Wahns
zu eilen, durch nichts behütet als durch ihre Sehnsucht. Sie glitt wie ein
flüchtiger Schatten dahin, noch völlig umsponnen von den zärtlichen Fiebern
ihres Traums. Eine Wolke hatte den Mond verdeckt und jagte mit fahlem
Gedunkel von Gasse zu Gasse. Schon war Felicitas dem Hause des Meisters
nicht mehr fern, da sah sie durch die Leere eines Seitengäßchens ein flimmerndes
Licht auf sich zukommen. Verängstigt blieb sie stehen und spähte dem Schein
entgegen. Sie wußte nicht vor noch zurück. Sie war, da nun Gefahr zu drohen
schien, mit einem Schlage wieder zur grausamen Wirklichkeit erwacht, und ihr
nächtlicher Weg erschien ihr verwegen und töricht zugleich. Sie sah eine dunkle
Gestalt, die ein Laternchen trug. Es war ein Mann von hohem stattlichen
Wuchs. Und sogleich vermochte sie zu erkennen, der nächtliche Wanderer sei
keineswegs wie ein Strolch oder Gassenschleicher gekleidet. In der nächsten
Sekunde ward ihr das pochende Herz wie von eiserner Faust zusammengepreßt,
denn jener stand vor ihr, den sie im Traum zu suchen ausgezogen war.

Da sank Felicitas mit wehem Seufzer an der Mauer nieder; schon aber
hatte sie Dürers Arm umfaßt, und so lag sie nun, das Haupt in scheuer Ver¬
wirrung gesenkt, reglos an seiner Brust.

„Felicitas", raunte ihr Dürer tieferschrocken zu, „was tut Ihr zu dieser
späten Stunde?"

Da sagte sie, das Haupt noch tiefer bergend: „Ich wollt' zu Euch!"

„Du törichtes .Kind," flüsterte Dürer erregt und vorwurfsvoll, „Du weißt
nit. was du tust!"

Felicitas erwiderte nichts. Ihr Atem aber ging so bang und ungestüm,
daß dem Meister plötzlich nebst aller Verwirrung die qualvolle Sorge beschlich.
das wunderliche Wesen sei an Leib und Seele gleicherweise erkrankt. Und ein


Grenzboten II 1912 42
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[0341] Der Ivieseilzcmn Und da begann sie bitterlich zu weinen und — erwachte. Nun saß sie heißerschreckt auf ihrem Lager, und die Helle ihres zarten Busens, die der kühle Mond liebkoste, ging stürmisch auf und nieder wie in Fiebergluten. Wo fand sie nun Erlösung für die Süße und die Sünde ihres Traums? Und da begann die Sehnsucht gellend aus dem Dunkel ihrer Einsamkeit emporzuschreien, nach ihm. dem Einen, Großen, Gütigen, der ihr allein Befreiung und Erfüllung bringen konnte. Und, ihrer wahnerhitzten Sinne nicht mehr mächtig, erhob sich nun Felicitas in aller Stille vom Lager und begann in fiebernder Eile sich dürftig anzukleiden. Dann huschte sie auf den Zehenspitzen hinaus, an des Vaters Stube vorbei und die Treppe hinab, die diesmal kaum ein leises Knarren vernehmen ließ, als wäre sie mit ihr verschwiegen im Bunde. Felicitas schob gelinde den hölzernen Riegel vom Tor, und da stand sie auch schon zitternd auf der ein¬ samen Gasse, die der schiefe Mond nur dürftig erhellte. Und nun begann sie, das Dunkel der Häuser entlang, in Scham und Scheu und doch wie unwiderstehlich gerufen, den alten Weg ihres törichten Wahns zu eilen, durch nichts behütet als durch ihre Sehnsucht. Sie glitt wie ein flüchtiger Schatten dahin, noch völlig umsponnen von den zärtlichen Fiebern ihres Traums. Eine Wolke hatte den Mond verdeckt und jagte mit fahlem Gedunkel von Gasse zu Gasse. Schon war Felicitas dem Hause des Meisters nicht mehr fern, da sah sie durch die Leere eines Seitengäßchens ein flimmerndes Licht auf sich zukommen. Verängstigt blieb sie stehen und spähte dem Schein entgegen. Sie wußte nicht vor noch zurück. Sie war, da nun Gefahr zu drohen schien, mit einem Schlage wieder zur grausamen Wirklichkeit erwacht, und ihr nächtlicher Weg erschien ihr verwegen und töricht zugleich. Sie sah eine dunkle Gestalt, die ein Laternchen trug. Es war ein Mann von hohem stattlichen Wuchs. Und sogleich vermochte sie zu erkennen, der nächtliche Wanderer sei keineswegs wie ein Strolch oder Gassenschleicher gekleidet. In der nächsten Sekunde ward ihr das pochende Herz wie von eiserner Faust zusammengepreßt, denn jener stand vor ihr, den sie im Traum zu suchen ausgezogen war. Da sank Felicitas mit wehem Seufzer an der Mauer nieder; schon aber hatte sie Dürers Arm umfaßt, und so lag sie nun, das Haupt in scheuer Ver¬ wirrung gesenkt, reglos an seiner Brust. „Felicitas", raunte ihr Dürer tieferschrocken zu, „was tut Ihr zu dieser späten Stunde?" Da sagte sie, das Haupt noch tiefer bergend: „Ich wollt' zu Euch!" „Du törichtes .Kind," flüsterte Dürer erregt und vorwurfsvoll, „Du weißt nit. was du tust!" Felicitas erwiderte nichts. Ihr Atem aber ging so bang und ungestüm, daß dem Meister plötzlich nebst aller Verwirrung die qualvolle Sorge beschlich. das wunderliche Wesen sei an Leib und Seele gleicherweise erkrankt. Und ein Grenzboten II 1912 42

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/341>, abgerufen am 29.06.2024.