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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Der Wiesenzaun

heftiges Mitleid, das nun in seinem Herzen aufbrach, überflutete und erstickte
alles, was etwa noch darin an dunklen Stimmen sich regen wollte. Er löste
sich den Mantel von den Schultern und hüllte die Fröstelnde darein.

"Felicitas," sagte er zärtlich und legte schützend den Arm um sie, "nun
mußt du heim. Ich will dich führen!"

Da ging sie schweigend neben ihm, wie ein zagendes Kind, das seinem
Führer willenlos vertraut. Er aber hielt ihre zarte Schulter gelinde umfaßt,
und so schritten die beiden nun im Schein des Lämpchens den Weg zurück,
den Felicitas eine Weile früher im Fieber ihres Traumes gewandelt war. Es
war nun wieder ein Traum für sie, der schönste, der wunderbarste von allen,
die sie je geträumt -- an der Seite des Meisters, von seinem Arm umschlungen,
geschlossenen Auges dahinzuschreiten, ihre Schritte den seinen getreulich ver¬
mählend, als wäre es für alle Zeit.

Zwei trunkene Knechte, die wohl aus einer verspäteten Schenke kommen
mochten, torkelten mit wüster Hohnrede an ihnen vorüber.

Sie merkten es kaum.

In des Meisters Seele aber, indes er so mit dem schönen Kinde die Nacht
durchschritt, war in einsamster Tiefe ein sturmgewaltiges Ringen erwacht, das
war geringer nicht an leidgeprüfter Größe und letzter Berufung an alles selig
Menschliche als die donnernden Posaunen aus den flammenden Wundern der
Apokalypse.

Es war eine Stimme, die dröhnte in ihm: Du hast nach Schönheit gebürstet
von Anbeginn, und all dein Sehnen hat zu jeder Zeit nach tiefstem Erkennen
des heiligsten menschlichen Maßes geschrien. Begehrst du nicht die Schönheit
der Felicitas?"

Da gellte eine andere Stimme wild und hart empor:

"Begehre nicht des Leibes Schöne, da ihre Seele dir so wenig ist!"

Und eine andere höhnte, grimm und streng: "Sag, liebst du die Felicitas?"

Da sagte der Meister, hoch und frei: "Sie steht meinem Herzen nicht
näher als alles, was schön ist auf Erden."

Im selben Augenblick aber fühlte er seinen Nacken wild umschlungen von
den Armen der Felicitas, er sah ihr Antlitz heiß zu sich erhoben, als suchten
ihre Lippen bang nach den seinen. Da brach es jählings glühend über ihm
zusammen, verlöscht war all sein Stolz und all sein Trotz und alle Besinnung
-- er neigte sich dem süßen Antlitz zu und küßte die warmen, werbenden
Lippen und küßte sie wieder und immer wieder.

Felicitas aber zuckte mit einemmal erschreckt aus seinen Armen empor und
horchte besorgt die Gasse hinab.

"Das ist des Vaters Stimme! Des Vaters Stimme!" schrie sie in hell-
ausbrechendem Entsetzen.

Sie riß sich aus des Meisters Armen und stürzte ihrem Hause zu.


Der Wiesenzaun

heftiges Mitleid, das nun in seinem Herzen aufbrach, überflutete und erstickte
alles, was etwa noch darin an dunklen Stimmen sich regen wollte. Er löste
sich den Mantel von den Schultern und hüllte die Fröstelnde darein.

„Felicitas," sagte er zärtlich und legte schützend den Arm um sie, „nun
mußt du heim. Ich will dich führen!"

Da ging sie schweigend neben ihm, wie ein zagendes Kind, das seinem
Führer willenlos vertraut. Er aber hielt ihre zarte Schulter gelinde umfaßt,
und so schritten die beiden nun im Schein des Lämpchens den Weg zurück,
den Felicitas eine Weile früher im Fieber ihres Traumes gewandelt war. Es
war nun wieder ein Traum für sie, der schönste, der wunderbarste von allen,
die sie je geträumt — an der Seite des Meisters, von seinem Arm umschlungen,
geschlossenen Auges dahinzuschreiten, ihre Schritte den seinen getreulich ver¬
mählend, als wäre es für alle Zeit.

Zwei trunkene Knechte, die wohl aus einer verspäteten Schenke kommen
mochten, torkelten mit wüster Hohnrede an ihnen vorüber.

Sie merkten es kaum.

In des Meisters Seele aber, indes er so mit dem schönen Kinde die Nacht
durchschritt, war in einsamster Tiefe ein sturmgewaltiges Ringen erwacht, das
war geringer nicht an leidgeprüfter Größe und letzter Berufung an alles selig
Menschliche als die donnernden Posaunen aus den flammenden Wundern der
Apokalypse.

Es war eine Stimme, die dröhnte in ihm: Du hast nach Schönheit gebürstet
von Anbeginn, und all dein Sehnen hat zu jeder Zeit nach tiefstem Erkennen
des heiligsten menschlichen Maßes geschrien. Begehrst du nicht die Schönheit
der Felicitas?"

Da gellte eine andere Stimme wild und hart empor:

„Begehre nicht des Leibes Schöne, da ihre Seele dir so wenig ist!"

Und eine andere höhnte, grimm und streng: „Sag, liebst du die Felicitas?"

Da sagte der Meister, hoch und frei: „Sie steht meinem Herzen nicht
näher als alles, was schön ist auf Erden."

Im selben Augenblick aber fühlte er seinen Nacken wild umschlungen von
den Armen der Felicitas, er sah ihr Antlitz heiß zu sich erhoben, als suchten
ihre Lippen bang nach den seinen. Da brach es jählings glühend über ihm
zusammen, verlöscht war all sein Stolz und all sein Trotz und alle Besinnung
— er neigte sich dem süßen Antlitz zu und küßte die warmen, werbenden
Lippen und küßte sie wieder und immer wieder.

Felicitas aber zuckte mit einemmal erschreckt aus seinen Armen empor und
horchte besorgt die Gasse hinab.

„Das ist des Vaters Stimme! Des Vaters Stimme!" schrie sie in hell-
ausbrechendem Entsetzen.

Sie riß sich aus des Meisters Armen und stürzte ihrem Hause zu.


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[0342] Der Wiesenzaun heftiges Mitleid, das nun in seinem Herzen aufbrach, überflutete und erstickte alles, was etwa noch darin an dunklen Stimmen sich regen wollte. Er löste sich den Mantel von den Schultern und hüllte die Fröstelnde darein. „Felicitas," sagte er zärtlich und legte schützend den Arm um sie, „nun mußt du heim. Ich will dich führen!" Da ging sie schweigend neben ihm, wie ein zagendes Kind, das seinem Führer willenlos vertraut. Er aber hielt ihre zarte Schulter gelinde umfaßt, und so schritten die beiden nun im Schein des Lämpchens den Weg zurück, den Felicitas eine Weile früher im Fieber ihres Traumes gewandelt war. Es war nun wieder ein Traum für sie, der schönste, der wunderbarste von allen, die sie je geträumt — an der Seite des Meisters, von seinem Arm umschlungen, geschlossenen Auges dahinzuschreiten, ihre Schritte den seinen getreulich ver¬ mählend, als wäre es für alle Zeit. Zwei trunkene Knechte, die wohl aus einer verspäteten Schenke kommen mochten, torkelten mit wüster Hohnrede an ihnen vorüber. Sie merkten es kaum. In des Meisters Seele aber, indes er so mit dem schönen Kinde die Nacht durchschritt, war in einsamster Tiefe ein sturmgewaltiges Ringen erwacht, das war geringer nicht an leidgeprüfter Größe und letzter Berufung an alles selig Menschliche als die donnernden Posaunen aus den flammenden Wundern der Apokalypse. Es war eine Stimme, die dröhnte in ihm: Du hast nach Schönheit gebürstet von Anbeginn, und all dein Sehnen hat zu jeder Zeit nach tiefstem Erkennen des heiligsten menschlichen Maßes geschrien. Begehrst du nicht die Schönheit der Felicitas?" Da gellte eine andere Stimme wild und hart empor: „Begehre nicht des Leibes Schöne, da ihre Seele dir so wenig ist!" Und eine andere höhnte, grimm und streng: „Sag, liebst du die Felicitas?" Da sagte der Meister, hoch und frei: „Sie steht meinem Herzen nicht näher als alles, was schön ist auf Erden." Im selben Augenblick aber fühlte er seinen Nacken wild umschlungen von den Armen der Felicitas, er sah ihr Antlitz heiß zu sich erhoben, als suchten ihre Lippen bang nach den seinen. Da brach es jählings glühend über ihm zusammen, verlöscht war all sein Stolz und all sein Trotz und alle Besinnung — er neigte sich dem süßen Antlitz zu und küßte die warmen, werbenden Lippen und küßte sie wieder und immer wieder. Felicitas aber zuckte mit einemmal erschreckt aus seinen Armen empor und horchte besorgt die Gasse hinab. „Das ist des Vaters Stimme! Des Vaters Stimme!" schrie sie in hell- ausbrechendem Entsetzen. Sie riß sich aus des Meisters Armen und stürzte ihrem Hause zu.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/342>, abgerufen am 26.06.2024.