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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Englands Achillesferse

nur ein geringer Teil des Preisunterschiedes zufallen und der würde wettgemacht
durch die Preissteigerung aller Lebensbedürfnisse. Der Hauptnutzen würde nur
den Grundherren in die Tasche fließen, die zweifellos die Gelegenheit benutzen
würden, die Pachter, die in der Zeit des Freihandels gesunken sind, soweit wie
möglich wieder auf die frühere Höhe zu bringen. Der lautlose Landarbeiter
dagegen würde um nichts gebessert sein und sich wahrscheinlich wieder in der
Lage befinden, die er in der Zeit der hohen Schutzzölle in der ersten Hälfte
des vergangenen Jahrhunderts genügend ausgekostet hat. Noch heute sind die
hungrigen Vierziger sprichwörtlich.

Durch die Steigerung der Grundrente zugunsten der Großgrundbesitzer ließe
sich der Schutzzoll nicht rechtfertigen. Doch mehr als das ist kaum zu erwarten,
solange nicht das herrschende Lautsystem in seinen wesentlichen Zügen geändert
ist. Der Bauer ist immer das Stiefkind des britischen Staates gewesen. Schon
am Ausgang des Mittelalters wurde das Bauernlegen in: großen betrieben, um
Weideflächen für die Wolle abwerfende Schafzucht zu gewinnen, so daß Thomas
Morus mit Recht sagen konnte, die von Natur sanften Schafe verschlängen die
Menschen. An stattlichen Landsitzen mit den berühmten englischen Parks ist kein
Mangel, aber der freie Bauer, der auf dem eigenen, ererbten Landgute sitzt,
der Ueoman, der uns bei Chaucer und in den Balladen von Robim Hood
entgegentritt, der bei Crecy und Agincourt den Kern des englischen Heeres
bildete, ist kaum noch vorhanden. Er ist im Laufe der Jahrhunderte zermürbt
und sein Land ist vom Großgrundbesitz aufgesogen worden. An seiner Stelle
gibt es nur noch Pächter und Tagelöhner, und auch deren Zahl wird stetig
geringer. Denn was sollen die Landarbeiter noch länger auf einem Boden, an
dem sie keinen Anteil haben, der ihnen gegen kargen Lohn und schwere, nicht
einmal gesicherte Arbeit nichts zu bieten vermag?

Nur wenigen erst ist die furchtbare Gefahr zum Bewußtsein gekommen, die
dem britischen Volkskörper aus dieser Entfremdung von der Erde droht. Der
beste, gesundeste Teil des Volkes geht durch Auswanderung verloren. 1907 belief
sich die Zahl der Auswanderer auf 393000, 1908, wo die deutsche Aus¬
wanderung auf weniger als 20000 fiel, gingen noch 263000 hinaus. Die
Schwächlinge bleiben natürlich zurück und drücken den Stand der Volksgesundheit
herab.

Nun ist es gar nicht zu bezweifeln, daß das Rückgrat eines Volkes in
seiner Landbevölkerung liegt. Aus der Berührung mit der Erde muß es wie
Antaios in der griechischen Sage immer wieder neue Kraft schöpfen, und ein
Volk, das den Zusammenhang mit der Erde verliert, ist dem Untergang verfallen.
In Großbritannien steht die Landwirtschaft zwar technisch auf hoher Stufe, wo sie
eingehend betrieben wird. Ein reicher Ertrag wird aus dem Boden geholt und in der
Viehzucht ist in England noch viel zu lernen. Aber der Fehler ist, daß bloß ein
kleiner Teil des Bodens wirklich genutzt wird und deshalb nur ein geringer
Teil, nur ein Sechstel des Bedarfs, im Lande erzeugt wird. Nun ist jedoch


Englands Achillesferse

nur ein geringer Teil des Preisunterschiedes zufallen und der würde wettgemacht
durch die Preissteigerung aller Lebensbedürfnisse. Der Hauptnutzen würde nur
den Grundherren in die Tasche fließen, die zweifellos die Gelegenheit benutzen
würden, die Pachter, die in der Zeit des Freihandels gesunken sind, soweit wie
möglich wieder auf die frühere Höhe zu bringen. Der lautlose Landarbeiter
dagegen würde um nichts gebessert sein und sich wahrscheinlich wieder in der
Lage befinden, die er in der Zeit der hohen Schutzzölle in der ersten Hälfte
des vergangenen Jahrhunderts genügend ausgekostet hat. Noch heute sind die
hungrigen Vierziger sprichwörtlich.

Durch die Steigerung der Grundrente zugunsten der Großgrundbesitzer ließe
sich der Schutzzoll nicht rechtfertigen. Doch mehr als das ist kaum zu erwarten,
solange nicht das herrschende Lautsystem in seinen wesentlichen Zügen geändert
ist. Der Bauer ist immer das Stiefkind des britischen Staates gewesen. Schon
am Ausgang des Mittelalters wurde das Bauernlegen in: großen betrieben, um
Weideflächen für die Wolle abwerfende Schafzucht zu gewinnen, so daß Thomas
Morus mit Recht sagen konnte, die von Natur sanften Schafe verschlängen die
Menschen. An stattlichen Landsitzen mit den berühmten englischen Parks ist kein
Mangel, aber der freie Bauer, der auf dem eigenen, ererbten Landgute sitzt,
der Ueoman, der uns bei Chaucer und in den Balladen von Robim Hood
entgegentritt, der bei Crecy und Agincourt den Kern des englischen Heeres
bildete, ist kaum noch vorhanden. Er ist im Laufe der Jahrhunderte zermürbt
und sein Land ist vom Großgrundbesitz aufgesogen worden. An seiner Stelle
gibt es nur noch Pächter und Tagelöhner, und auch deren Zahl wird stetig
geringer. Denn was sollen die Landarbeiter noch länger auf einem Boden, an
dem sie keinen Anteil haben, der ihnen gegen kargen Lohn und schwere, nicht
einmal gesicherte Arbeit nichts zu bieten vermag?

Nur wenigen erst ist die furchtbare Gefahr zum Bewußtsein gekommen, die
dem britischen Volkskörper aus dieser Entfremdung von der Erde droht. Der
beste, gesundeste Teil des Volkes geht durch Auswanderung verloren. 1907 belief
sich die Zahl der Auswanderer auf 393000, 1908, wo die deutsche Aus¬
wanderung auf weniger als 20000 fiel, gingen noch 263000 hinaus. Die
Schwächlinge bleiben natürlich zurück und drücken den Stand der Volksgesundheit
herab.

Nun ist es gar nicht zu bezweifeln, daß das Rückgrat eines Volkes in
seiner Landbevölkerung liegt. Aus der Berührung mit der Erde muß es wie
Antaios in der griechischen Sage immer wieder neue Kraft schöpfen, und ein
Volk, das den Zusammenhang mit der Erde verliert, ist dem Untergang verfallen.
In Großbritannien steht die Landwirtschaft zwar technisch auf hoher Stufe, wo sie
eingehend betrieben wird. Ein reicher Ertrag wird aus dem Boden geholt und in der
Viehzucht ist in England noch viel zu lernen. Aber der Fehler ist, daß bloß ein
kleiner Teil des Bodens wirklich genutzt wird und deshalb nur ein geringer
Teil, nur ein Sechstel des Bedarfs, im Lande erzeugt wird. Nun ist jedoch


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[0324] Englands Achillesferse nur ein geringer Teil des Preisunterschiedes zufallen und der würde wettgemacht durch die Preissteigerung aller Lebensbedürfnisse. Der Hauptnutzen würde nur den Grundherren in die Tasche fließen, die zweifellos die Gelegenheit benutzen würden, die Pachter, die in der Zeit des Freihandels gesunken sind, soweit wie möglich wieder auf die frühere Höhe zu bringen. Der lautlose Landarbeiter dagegen würde um nichts gebessert sein und sich wahrscheinlich wieder in der Lage befinden, die er in der Zeit der hohen Schutzzölle in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts genügend ausgekostet hat. Noch heute sind die hungrigen Vierziger sprichwörtlich. Durch die Steigerung der Grundrente zugunsten der Großgrundbesitzer ließe sich der Schutzzoll nicht rechtfertigen. Doch mehr als das ist kaum zu erwarten, solange nicht das herrschende Lautsystem in seinen wesentlichen Zügen geändert ist. Der Bauer ist immer das Stiefkind des britischen Staates gewesen. Schon am Ausgang des Mittelalters wurde das Bauernlegen in: großen betrieben, um Weideflächen für die Wolle abwerfende Schafzucht zu gewinnen, so daß Thomas Morus mit Recht sagen konnte, die von Natur sanften Schafe verschlängen die Menschen. An stattlichen Landsitzen mit den berühmten englischen Parks ist kein Mangel, aber der freie Bauer, der auf dem eigenen, ererbten Landgute sitzt, der Ueoman, der uns bei Chaucer und in den Balladen von Robim Hood entgegentritt, der bei Crecy und Agincourt den Kern des englischen Heeres bildete, ist kaum noch vorhanden. Er ist im Laufe der Jahrhunderte zermürbt und sein Land ist vom Großgrundbesitz aufgesogen worden. An seiner Stelle gibt es nur noch Pächter und Tagelöhner, und auch deren Zahl wird stetig geringer. Denn was sollen die Landarbeiter noch länger auf einem Boden, an dem sie keinen Anteil haben, der ihnen gegen kargen Lohn und schwere, nicht einmal gesicherte Arbeit nichts zu bieten vermag? Nur wenigen erst ist die furchtbare Gefahr zum Bewußtsein gekommen, die dem britischen Volkskörper aus dieser Entfremdung von der Erde droht. Der beste, gesundeste Teil des Volkes geht durch Auswanderung verloren. 1907 belief sich die Zahl der Auswanderer auf 393000, 1908, wo die deutsche Aus¬ wanderung auf weniger als 20000 fiel, gingen noch 263000 hinaus. Die Schwächlinge bleiben natürlich zurück und drücken den Stand der Volksgesundheit herab. Nun ist es gar nicht zu bezweifeln, daß das Rückgrat eines Volkes in seiner Landbevölkerung liegt. Aus der Berührung mit der Erde muß es wie Antaios in der griechischen Sage immer wieder neue Kraft schöpfen, und ein Volk, das den Zusammenhang mit der Erde verliert, ist dem Untergang verfallen. In Großbritannien steht die Landwirtschaft zwar technisch auf hoher Stufe, wo sie eingehend betrieben wird. Ein reicher Ertrag wird aus dem Boden geholt und in der Viehzucht ist in England noch viel zu lernen. Aber der Fehler ist, daß bloß ein kleiner Teil des Bodens wirklich genutzt wird und deshalb nur ein geringer Teil, nur ein Sechstel des Bedarfs, im Lande erzeugt wird. Nun ist jedoch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/324>, abgerufen am 25.08.2024.