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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Erzählung und erzählende Dichtung

in die große Linie eines Zusammenhanges hineinzufügen. Das Wichtige und
Unwichtige steht im gleichen Gewichtsverhältnis nebeneinander, jede Einzelheit
ist gleich hell oder gleich dunkel gehalten. Im Tonfall und Tonwerk äußert
sich etwa die Gebärde des Staunens genau fo durchschlagend wie ein darauf¬
folgender Entschluß oder selbst die Tat; eine einfache Mitteilung tritt in der
Kraft hinter einer energischen Zurede gar nicht zurück:

"Weil er nun von der Schönheit seiner Gemahlin über alle Maßen ein¬
genommen war und dieselbe sehr rühmte, sagte er nicht lange nach seiner Ver¬
mählung (denn Kandaules sollte unglücklich werden) zu diesem Gnges: ,Gyges,
du glaubst wohl nicht, was ich dir von der Schönheit meiner Gemahlin sage;
denn die Ohren sind ungläubiger als die Augen, mache doch, daß du sie nackend
zu sehen bekommst/ Guges erhob ein großes Geschrei und sagte: .Herr, was
ist das für eine tolle Rede'" usw.

Frieseuhaft, endlos in derselben Hälberhabenheit, folgen die Figuren auf¬
einander. Herodots Ferne ist eben groß genug, um seine Figuren in ihrer
ganzen Größe zu ermessen, um das Einzelne scharf zu sehen, jedoch zu klein,
um das Gefolge der Gestalten in eine einheitliche Linie einzustellen.

Bei gesteigerter Ferne der Erinnerung entsteht die nächstgrößte epische
Gattung, die Novelle, wesentlich dadurch, daß der noch einheitliche, undifferenzierte
Erzählungsstoff des Berichtes sich spaltet und das Doppelelement von Begebenheit
und Milieu oder Hintergrund erkennen läßt. Die Begebenheit steht im Vorder¬
grunde, verliert aber an Raum und Bedeutung je mehr die Novelle sich dem
Romane nähert. Normen eines klassischen Verhältnisses lassen sich darin nicht
aufstellen, sie wären auch zu nichts nütze. Immerhin dürfte etwa die fünfte
Erzählung des zweiten Tages im Dekameron als Anschauungsbeispiel dienen.

Die Erinnerungsferne Bocaccios ist entschieden bedeutend größer als
Herodots, denn sein Rahmen umfaßt die Gestalten seiner Erzählung nicht allein
in der zeitlichen Aufeinanderfolge, sondern auch als gleichzeitig anwesende
Mehrheit, ja, er hat das obere Drittel seiner Bildfläche für den landschaftlichen
Hintergrund bewahrt, wie die Maler der Renaissance. Es geht daher auf
denselben Raum ein unvergleichlich größeres Stück realer Welt, als bei
Herodot.

Der brave Andreuccio aus Perugia kommt zum Roßmarkt nach Neapel.
Eine gemeine Lockerdirne stellt ihm ihre übliche Falle und der Vogel geht aus
den Leim.

Weite Sphären sind hier erfaßt: Stadt und Land, das seßhafte und das
Bewegliche sind in eine Schnittfläche gestellt. Die Träger der Handlung, der
einfältige und doch abenteuerlustige Dörfler, die Dirne mit ihren abgeschmackten
Mären von ihrer vornehmen Abstammung, sind stets auf der Folie, auf dein
Hintergrund sichtbar: die zwingende Gegenwart, die verblüffende Sichtbarkeit
des schmutzigen, schlechtgebauten Stadtviertels, das häusliche Leben der Zuhälter,
die ganze Bevölkerung, die Armut und schlechtes Gewerbe in diesen Niederungen


Erzählung und erzählende Dichtung

in die große Linie eines Zusammenhanges hineinzufügen. Das Wichtige und
Unwichtige steht im gleichen Gewichtsverhältnis nebeneinander, jede Einzelheit
ist gleich hell oder gleich dunkel gehalten. Im Tonfall und Tonwerk äußert
sich etwa die Gebärde des Staunens genau fo durchschlagend wie ein darauf¬
folgender Entschluß oder selbst die Tat; eine einfache Mitteilung tritt in der
Kraft hinter einer energischen Zurede gar nicht zurück:

„Weil er nun von der Schönheit seiner Gemahlin über alle Maßen ein¬
genommen war und dieselbe sehr rühmte, sagte er nicht lange nach seiner Ver¬
mählung (denn Kandaules sollte unglücklich werden) zu diesem Gnges: ,Gyges,
du glaubst wohl nicht, was ich dir von der Schönheit meiner Gemahlin sage;
denn die Ohren sind ungläubiger als die Augen, mache doch, daß du sie nackend
zu sehen bekommst/ Guges erhob ein großes Geschrei und sagte: .Herr, was
ist das für eine tolle Rede'" usw.

Frieseuhaft, endlos in derselben Hälberhabenheit, folgen die Figuren auf¬
einander. Herodots Ferne ist eben groß genug, um seine Figuren in ihrer
ganzen Größe zu ermessen, um das Einzelne scharf zu sehen, jedoch zu klein,
um das Gefolge der Gestalten in eine einheitliche Linie einzustellen.

Bei gesteigerter Ferne der Erinnerung entsteht die nächstgrößte epische
Gattung, die Novelle, wesentlich dadurch, daß der noch einheitliche, undifferenzierte
Erzählungsstoff des Berichtes sich spaltet und das Doppelelement von Begebenheit
und Milieu oder Hintergrund erkennen läßt. Die Begebenheit steht im Vorder¬
grunde, verliert aber an Raum und Bedeutung je mehr die Novelle sich dem
Romane nähert. Normen eines klassischen Verhältnisses lassen sich darin nicht
aufstellen, sie wären auch zu nichts nütze. Immerhin dürfte etwa die fünfte
Erzählung des zweiten Tages im Dekameron als Anschauungsbeispiel dienen.

Die Erinnerungsferne Bocaccios ist entschieden bedeutend größer als
Herodots, denn sein Rahmen umfaßt die Gestalten seiner Erzählung nicht allein
in der zeitlichen Aufeinanderfolge, sondern auch als gleichzeitig anwesende
Mehrheit, ja, er hat das obere Drittel seiner Bildfläche für den landschaftlichen
Hintergrund bewahrt, wie die Maler der Renaissance. Es geht daher auf
denselben Raum ein unvergleichlich größeres Stück realer Welt, als bei
Herodot.

Der brave Andreuccio aus Perugia kommt zum Roßmarkt nach Neapel.
Eine gemeine Lockerdirne stellt ihm ihre übliche Falle und der Vogel geht aus
den Leim.

Weite Sphären sind hier erfaßt: Stadt und Land, das seßhafte und das
Bewegliche sind in eine Schnittfläche gestellt. Die Träger der Handlung, der
einfältige und doch abenteuerlustige Dörfler, die Dirne mit ihren abgeschmackten
Mären von ihrer vornehmen Abstammung, sind stets auf der Folie, auf dein
Hintergrund sichtbar: die zwingende Gegenwart, die verblüffende Sichtbarkeit
des schmutzigen, schlechtgebauten Stadtviertels, das häusliche Leben der Zuhälter,
die ganze Bevölkerung, die Armut und schlechtes Gewerbe in diesen Niederungen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/300>, abgerufen am 23.07.2024.