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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Erzählung und erzählende Dichtung

es ewig ruhen möchte; "ach wär ich nur, ach hätt' oder könnt' ich nur" --
so streckt die Lyrik ohnmächtig ihre schwachen Arme in die ungreifbare Zukunft,-
"potz Donner -- ich will", saust die Faust des Tragikers auf die steinerne
Tischplatte nieder, wobei nicht diese den Schaden zu nehmen pflegt.

Wir nennen unsere Zeit gern gegenwartsfreudig, tatenlustig. Mag fein.
Allein, hat man je mehr Erinnerung verzehrt als heute. Roman und Novelle
reichen nicht aus, Briefe, Tagebücher, alles muß herhalten, um dem Ver¬
gangenheitsdurst, der Erinnerungssehnsucht unserer Tage zu genügen und die
größte und älteste Gattung der Erinnerungskunst, das Epos, das Helden¬
gedicht, das Jahrzehnte hindurch von der offiziellen Ästhetik und Literatur¬
geschichte in Acht und Bann getan, als tote Gattung gekennzeichnet wurde,
gewinnt an Boden und Anziehungskraft.

Psychologisch unterscheiden wir zwei Arten der Erinnerung: die tatsächliche
und die imaginäre. Die tatsächliche beruht auf der Wiederbelebung ver¬
gangener, selbsterfahrener Erlebnisse, die imaginäre auf jener eigentüm¬
lichen Fähigkeit unserer Seele, das Gesamterleben der Menschheit, der Welt in
die eigene Vergangenheit hineinzufühlen und als Erinnerung wieder hervor¬
zuholen. Die erzählende Dichtung ist besonders dieser Art Erinnerung stark
verpflichtet. Die französischen Psychologen nennen sie das voeu" und
Goethe empfand sie: "Ach, Du warst in abgelebten Zeiten meine Schwester
oder meine Frau". Die erzählende Dichtung, eine erstgeborene Tochter der
Erinnerung, trägt die Züge ihrer Abstammung auf der Stirn. Vor allem:
eine wirklich realistische Erzählung gibt es, kann es so wenig geben wie eine
solche Erinnerung. Man hat den Versuch gemacht, einen Vorgang von
mehreren unbedingt glaubwürdigen Männern beobachten und erzählen zu lassen.
Die Berichte widersprachen sich auf der ganzen Linie. Ich meine, dieses
Versuchs hat es auch gar nicht bedurft. Die Erzählung kann nicht anders,
als sich zu den Begebenheiten in eine gewisse Entfernung, in eine Perspektive
stellen. Jede Perspektive aber fälscht notgedrungenerweise die mathematischen,
die abstrakten, wirklichen oder wahren Größenverhältnisse des Gegenstandes.
Die Perspektive schiebt das Näherstehende auseinander, rückt das Fernerstehende
zusammen, kürzt und verlängert und ist nur von einem einzigen Punkt gesehen
wahr. Der Erzähler wählt seinen Perspektiven Punkt, seine "Erinnerungsferne",
ebenso frei wie der Zeichner, er kann sich zu den Ereignissen des ersten Trium¬
virats in eine geringere Erinnerungsferne stellen, als zum Untergang der Titanic.
Nicht von der Prosa oder Versform, nicht von der Länge oder Kürze wird
dann die Kunstart selner Schöpfung innerhalb der erzählenden Gattung abhängen,
sondern einzig allein von der geringeren oder größeren Erinnerungsferne, die
wir von nun all einfach "Ferne" nennen wollen, wird es bestimmt, ob er
einen Bericht, eine Novelle, einen Roman oder ein Epos hervorbringt.

Herodot, der Klassiker des schlichten Berichtes, stellt sich in jene Ferne zu
den Begebenheiten, aus welcher die Einzelheiten noch einzeln wirken, ohne sich


Erzählung und erzählende Dichtung

es ewig ruhen möchte; „ach wär ich nur, ach hätt' oder könnt' ich nur" —
so streckt die Lyrik ohnmächtig ihre schwachen Arme in die ungreifbare Zukunft,-
„potz Donner — ich will", saust die Faust des Tragikers auf die steinerne
Tischplatte nieder, wobei nicht diese den Schaden zu nehmen pflegt.

Wir nennen unsere Zeit gern gegenwartsfreudig, tatenlustig. Mag fein.
Allein, hat man je mehr Erinnerung verzehrt als heute. Roman und Novelle
reichen nicht aus, Briefe, Tagebücher, alles muß herhalten, um dem Ver¬
gangenheitsdurst, der Erinnerungssehnsucht unserer Tage zu genügen und die
größte und älteste Gattung der Erinnerungskunst, das Epos, das Helden¬
gedicht, das Jahrzehnte hindurch von der offiziellen Ästhetik und Literatur¬
geschichte in Acht und Bann getan, als tote Gattung gekennzeichnet wurde,
gewinnt an Boden und Anziehungskraft.

Psychologisch unterscheiden wir zwei Arten der Erinnerung: die tatsächliche
und die imaginäre. Die tatsächliche beruht auf der Wiederbelebung ver¬
gangener, selbsterfahrener Erlebnisse, die imaginäre auf jener eigentüm¬
lichen Fähigkeit unserer Seele, das Gesamterleben der Menschheit, der Welt in
die eigene Vergangenheit hineinzufühlen und als Erinnerung wieder hervor¬
zuholen. Die erzählende Dichtung ist besonders dieser Art Erinnerung stark
verpflichtet. Die französischen Psychologen nennen sie das voeu" und
Goethe empfand sie: „Ach, Du warst in abgelebten Zeiten meine Schwester
oder meine Frau". Die erzählende Dichtung, eine erstgeborene Tochter der
Erinnerung, trägt die Züge ihrer Abstammung auf der Stirn. Vor allem:
eine wirklich realistische Erzählung gibt es, kann es so wenig geben wie eine
solche Erinnerung. Man hat den Versuch gemacht, einen Vorgang von
mehreren unbedingt glaubwürdigen Männern beobachten und erzählen zu lassen.
Die Berichte widersprachen sich auf der ganzen Linie. Ich meine, dieses
Versuchs hat es auch gar nicht bedurft. Die Erzählung kann nicht anders,
als sich zu den Begebenheiten in eine gewisse Entfernung, in eine Perspektive
stellen. Jede Perspektive aber fälscht notgedrungenerweise die mathematischen,
die abstrakten, wirklichen oder wahren Größenverhältnisse des Gegenstandes.
Die Perspektive schiebt das Näherstehende auseinander, rückt das Fernerstehende
zusammen, kürzt und verlängert und ist nur von einem einzigen Punkt gesehen
wahr. Der Erzähler wählt seinen Perspektiven Punkt, seine „Erinnerungsferne",
ebenso frei wie der Zeichner, er kann sich zu den Ereignissen des ersten Trium¬
virats in eine geringere Erinnerungsferne stellen, als zum Untergang der Titanic.
Nicht von der Prosa oder Versform, nicht von der Länge oder Kürze wird
dann die Kunstart selner Schöpfung innerhalb der erzählenden Gattung abhängen,
sondern einzig allein von der geringeren oder größeren Erinnerungsferne, die
wir von nun all einfach „Ferne" nennen wollen, wird es bestimmt, ob er
einen Bericht, eine Novelle, einen Roman oder ein Epos hervorbringt.

Herodot, der Klassiker des schlichten Berichtes, stellt sich in jene Ferne zu
den Begebenheiten, aus welcher die Einzelheiten noch einzeln wirken, ohne sich


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[0299] Erzählung und erzählende Dichtung es ewig ruhen möchte; „ach wär ich nur, ach hätt' oder könnt' ich nur" — so streckt die Lyrik ohnmächtig ihre schwachen Arme in die ungreifbare Zukunft,- „potz Donner — ich will", saust die Faust des Tragikers auf die steinerne Tischplatte nieder, wobei nicht diese den Schaden zu nehmen pflegt. Wir nennen unsere Zeit gern gegenwartsfreudig, tatenlustig. Mag fein. Allein, hat man je mehr Erinnerung verzehrt als heute. Roman und Novelle reichen nicht aus, Briefe, Tagebücher, alles muß herhalten, um dem Ver¬ gangenheitsdurst, der Erinnerungssehnsucht unserer Tage zu genügen und die größte und älteste Gattung der Erinnerungskunst, das Epos, das Helden¬ gedicht, das Jahrzehnte hindurch von der offiziellen Ästhetik und Literatur¬ geschichte in Acht und Bann getan, als tote Gattung gekennzeichnet wurde, gewinnt an Boden und Anziehungskraft. Psychologisch unterscheiden wir zwei Arten der Erinnerung: die tatsächliche und die imaginäre. Die tatsächliche beruht auf der Wiederbelebung ver¬ gangener, selbsterfahrener Erlebnisse, die imaginäre auf jener eigentüm¬ lichen Fähigkeit unserer Seele, das Gesamterleben der Menschheit, der Welt in die eigene Vergangenheit hineinzufühlen und als Erinnerung wieder hervor¬ zuholen. Die erzählende Dichtung ist besonders dieser Art Erinnerung stark verpflichtet. Die französischen Psychologen nennen sie das voeu" und Goethe empfand sie: „Ach, Du warst in abgelebten Zeiten meine Schwester oder meine Frau". Die erzählende Dichtung, eine erstgeborene Tochter der Erinnerung, trägt die Züge ihrer Abstammung auf der Stirn. Vor allem: eine wirklich realistische Erzählung gibt es, kann es so wenig geben wie eine solche Erinnerung. Man hat den Versuch gemacht, einen Vorgang von mehreren unbedingt glaubwürdigen Männern beobachten und erzählen zu lassen. Die Berichte widersprachen sich auf der ganzen Linie. Ich meine, dieses Versuchs hat es auch gar nicht bedurft. Die Erzählung kann nicht anders, als sich zu den Begebenheiten in eine gewisse Entfernung, in eine Perspektive stellen. Jede Perspektive aber fälscht notgedrungenerweise die mathematischen, die abstrakten, wirklichen oder wahren Größenverhältnisse des Gegenstandes. Die Perspektive schiebt das Näherstehende auseinander, rückt das Fernerstehende zusammen, kürzt und verlängert und ist nur von einem einzigen Punkt gesehen wahr. Der Erzähler wählt seinen Perspektiven Punkt, seine „Erinnerungsferne", ebenso frei wie der Zeichner, er kann sich zu den Ereignissen des ersten Trium¬ virats in eine geringere Erinnerungsferne stellen, als zum Untergang der Titanic. Nicht von der Prosa oder Versform, nicht von der Länge oder Kürze wird dann die Kunstart selner Schöpfung innerhalb der erzählenden Gattung abhängen, sondern einzig allein von der geringeren oder größeren Erinnerungsferne, die wir von nun all einfach „Ferne" nennen wollen, wird es bestimmt, ob er einen Bericht, eine Novelle, einen Roman oder ein Epos hervorbringt. Herodot, der Klassiker des schlichten Berichtes, stellt sich in jene Ferne zu den Begebenheiten, aus welcher die Einzelheiten noch einzeln wirken, ohne sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/299>, abgerufen am 03.07.2024.