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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Erzählung und erMilcndc Dichtung

festhält, der jämmerliche Flitter, den die Dirne darüber hängt, das alles nimmt
einen bedeutenden Teil des gesamten Reizes für sich in Anspruch, während
Andreuccios Person und seine Begebenheiten mit dem Rest fürlieb nehmen
müssen.

Haben wir zwischen Bericht und Novelle einen grundsätzlichen Unterschied
aufstellen können, den zwischen primärer und differenzierter Masse, so ist zwischen
Novelle und Roman bloß ein quantitativer denkbar. So äußerlich zwar soll
er nicht gemeint sein, als könnte die Seitenzahl die Grenzen bestimmen, doch
wird sie durch die bloße Steigerung der Erinnerungsferne überschritten. Aus
der Ferne des Romanciers verschwindet die Begebenheit von der Oberfläche der
Erzählung, die ganze Fläche der Darstellung ist sozusagen vom Hintergrund,
vom Milieu, von der Landschaft in Anspruch genommen und die Begebenheit
tritt als unsichtbare Tragkraft in das Innere der Erzählung zurück, oder --
um den malerischen Vergleich zu Ende zu führen -- sie wird Staffage. Vom
"Wilhelm Meister" über den "Grünen Heinrich" zu den "Buddenbrooks" und
"Ricks Lyhne" oder Costers "Tyll Ulenspiegel" können wir diese Erinnerungs¬
ferne als typisch für den modernen Roman bezeichnen. Die Zeit, die soziale
Schicht, die Nation sollen in ihren verschiedenen Äußerungen festgehalten werden,
es geht immer aufs Gesamte, auf das Große, das über dem einzelnen steht,
aus dem der einzelne nur zeitweise heraustritt, um wieder in ihm zu ver¬
schwinden, wie die Heldengestalten in der lebendigen Brücke des "Grünen Heinrich".

Alle bisherigen Arten der epischen Gattung, Bericht, Novelle, Roman,
blieben mit ihrer Erinnerungsferne innerhalb der Grenze unserer realen
Anschauungskategorien: Zeit, Raum und Kausalität. Wächst jedoch die
Erinnerungsferne über diese Grenzen der uns umgebenden Naturmöglichkeiten
hinaus, stellt sich der Dichter allem irdischen Geschehen so ferne, daß ihm die
Gewalt von Raum, Zeit und Kausalität nicht mehr ersichtlich ist und er souverän
das ganze Erdensein, ja den Kosmos einheitlich und mit künstlerischer Freiheit zu
bewegen wagt, -- dann sind wir bei der Weltenerinnerung, beim Epos an¬
gelangt. Der Einzelne selbst, der etwa auftritt, ist nur ein Symbol für eine
ungeheure Vielheit, für die Nation, für die Menschheit, oder für die Idee.
Denn wenn Athens, des Zeus blauäugige Tochter, durch alle Himmel stürmt
und zum Schutze des Höheren, Besseren gegen das Geringere, niedrigere ihre
unbesiegbare Aigis erhebt, dann ist sie nicht Athena, sondern Griechenland, oder
das "Göttliche" oder die Notwendigkeit.




Grenzbuien II 1S12-Z7
Erzählung und erMilcndc Dichtung

festhält, der jämmerliche Flitter, den die Dirne darüber hängt, das alles nimmt
einen bedeutenden Teil des gesamten Reizes für sich in Anspruch, während
Andreuccios Person und seine Begebenheiten mit dem Rest fürlieb nehmen
müssen.

Haben wir zwischen Bericht und Novelle einen grundsätzlichen Unterschied
aufstellen können, den zwischen primärer und differenzierter Masse, so ist zwischen
Novelle und Roman bloß ein quantitativer denkbar. So äußerlich zwar soll
er nicht gemeint sein, als könnte die Seitenzahl die Grenzen bestimmen, doch
wird sie durch die bloße Steigerung der Erinnerungsferne überschritten. Aus
der Ferne des Romanciers verschwindet die Begebenheit von der Oberfläche der
Erzählung, die ganze Fläche der Darstellung ist sozusagen vom Hintergrund,
vom Milieu, von der Landschaft in Anspruch genommen und die Begebenheit
tritt als unsichtbare Tragkraft in das Innere der Erzählung zurück, oder —
um den malerischen Vergleich zu Ende zu führen — sie wird Staffage. Vom
„Wilhelm Meister" über den „Grünen Heinrich" zu den „Buddenbrooks" und
„Ricks Lyhne" oder Costers „Tyll Ulenspiegel" können wir diese Erinnerungs¬
ferne als typisch für den modernen Roman bezeichnen. Die Zeit, die soziale
Schicht, die Nation sollen in ihren verschiedenen Äußerungen festgehalten werden,
es geht immer aufs Gesamte, auf das Große, das über dem einzelnen steht,
aus dem der einzelne nur zeitweise heraustritt, um wieder in ihm zu ver¬
schwinden, wie die Heldengestalten in der lebendigen Brücke des „Grünen Heinrich".

Alle bisherigen Arten der epischen Gattung, Bericht, Novelle, Roman,
blieben mit ihrer Erinnerungsferne innerhalb der Grenze unserer realen
Anschauungskategorien: Zeit, Raum und Kausalität. Wächst jedoch die
Erinnerungsferne über diese Grenzen der uns umgebenden Naturmöglichkeiten
hinaus, stellt sich der Dichter allem irdischen Geschehen so ferne, daß ihm die
Gewalt von Raum, Zeit und Kausalität nicht mehr ersichtlich ist und er souverän
das ganze Erdensein, ja den Kosmos einheitlich und mit künstlerischer Freiheit zu
bewegen wagt, — dann sind wir bei der Weltenerinnerung, beim Epos an¬
gelangt. Der Einzelne selbst, der etwa auftritt, ist nur ein Symbol für eine
ungeheure Vielheit, für die Nation, für die Menschheit, oder für die Idee.
Denn wenn Athens, des Zeus blauäugige Tochter, durch alle Himmel stürmt
und zum Schutze des Höheren, Besseren gegen das Geringere, niedrigere ihre
unbesiegbare Aigis erhebt, dann ist sie nicht Athena, sondern Griechenland, oder
das „Göttliche" oder die Notwendigkeit.




Grenzbuien II 1S12-Z7
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[0301] Erzählung und erMilcndc Dichtung festhält, der jämmerliche Flitter, den die Dirne darüber hängt, das alles nimmt einen bedeutenden Teil des gesamten Reizes für sich in Anspruch, während Andreuccios Person und seine Begebenheiten mit dem Rest fürlieb nehmen müssen. Haben wir zwischen Bericht und Novelle einen grundsätzlichen Unterschied aufstellen können, den zwischen primärer und differenzierter Masse, so ist zwischen Novelle und Roman bloß ein quantitativer denkbar. So äußerlich zwar soll er nicht gemeint sein, als könnte die Seitenzahl die Grenzen bestimmen, doch wird sie durch die bloße Steigerung der Erinnerungsferne überschritten. Aus der Ferne des Romanciers verschwindet die Begebenheit von der Oberfläche der Erzählung, die ganze Fläche der Darstellung ist sozusagen vom Hintergrund, vom Milieu, von der Landschaft in Anspruch genommen und die Begebenheit tritt als unsichtbare Tragkraft in das Innere der Erzählung zurück, oder — um den malerischen Vergleich zu Ende zu führen — sie wird Staffage. Vom „Wilhelm Meister" über den „Grünen Heinrich" zu den „Buddenbrooks" und „Ricks Lyhne" oder Costers „Tyll Ulenspiegel" können wir diese Erinnerungs¬ ferne als typisch für den modernen Roman bezeichnen. Die Zeit, die soziale Schicht, die Nation sollen in ihren verschiedenen Äußerungen festgehalten werden, es geht immer aufs Gesamte, auf das Große, das über dem einzelnen steht, aus dem der einzelne nur zeitweise heraustritt, um wieder in ihm zu ver¬ schwinden, wie die Heldengestalten in der lebendigen Brücke des „Grünen Heinrich". Alle bisherigen Arten der epischen Gattung, Bericht, Novelle, Roman, blieben mit ihrer Erinnerungsferne innerhalb der Grenze unserer realen Anschauungskategorien: Zeit, Raum und Kausalität. Wächst jedoch die Erinnerungsferne über diese Grenzen der uns umgebenden Naturmöglichkeiten hinaus, stellt sich der Dichter allem irdischen Geschehen so ferne, daß ihm die Gewalt von Raum, Zeit und Kausalität nicht mehr ersichtlich ist und er souverän das ganze Erdensein, ja den Kosmos einheitlich und mit künstlerischer Freiheit zu bewegen wagt, — dann sind wir bei der Weltenerinnerung, beim Epos an¬ gelangt. Der Einzelne selbst, der etwa auftritt, ist nur ein Symbol für eine ungeheure Vielheit, für die Nation, für die Menschheit, oder für die Idee. Denn wenn Athens, des Zeus blauäugige Tochter, durch alle Himmel stürmt und zum Schutze des Höheren, Besseren gegen das Geringere, niedrigere ihre unbesiegbare Aigis erhebt, dann ist sie nicht Athena, sondern Griechenland, oder das „Göttliche" oder die Notwendigkeit. Grenzbuien II 1S12-Z7

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/301>, abgerufen am 22.07.2024.