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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Erzählung und erzählende Dichtung

Marienbildnis herein, das sie nunmehr vor sich auf den Tisch breitete und
immerfort betrachtete.

Der Vater aber sang sich eines seiner kernigen Büßerlieder, wie er sie einst
oft, von flüchtiger Reue erfaßt, inmitten seiner wilden Zeit, im Felde erdacht.
Es war ein "Klagelied wider Fleisch und Blut, daß Gott helfen und raten möge".

(Fortsetzung folgt)




Erzählung und erzählende Dichtung
von Privatdozent Dr. Richard MeszlSny

s ist auffallend, wie wenig zahlreich die eigentlichen Gegenwarts¬
menschen unter uns sind. Die meisten, wenn sie in sich den
heißersehnten Zustand seelischer Gesundheit, Ganzheit, Ungebrochen¬
heit herstellen wollen, also das, was wir mit dem schmerzvollen
Wort "Glück" benennen, greifen entweder in die Vergangen¬
heit oder in die Zukunft. Erinnerungen oder Wünsche sind der Quell, aus
dem wir unser Glücksbedürfnis zumeist befriedigen, denn das Glück in die
Gegenwart hineinzuzwingen, die Miriaden kleiner Störungen wegzuschaffen und
das, was hienieden doch nicht gedeiht, wenigstens für den Augenblick mit
urmächtigen Wollen auf die Erde zu reißen -- das ist den Tragikern, gleich¬
viel ob den erlebenden oder den gestaltenden, vorbehalten. Die sind, Gott
sei Dank, nicht zu dicht gesät und doch noch viel dichter, als uns bekömmlich.
Auf das Dichterische übertragen hieße das drei dichterische Herstellungsarten
unterscheiden: die erinnernde, die sehnende und die wollende. Kein Mensch
kann alle drei Vorstellungsarten als Grundzüge seines geistigen Mechanismus
sein eigen nennen, und der moderne Dichter, der zumeist Epik, Lyrik und
Drama pflegt, ist entschieden ein Bänkerl seines Virtuosentums. Den Glücks¬
zustand, den er im Schaffen sucht, kann er unmöglich, mit Schiller gesprochen,
im dreifachen Schritt der Zeit gleichmäßig durchtanzen. "Es war", spricht
der Epiker, wenn sein Auge in der Ferne den Punkt gefunden auf dem


Erzählung und erzählende Dichtung

Marienbildnis herein, das sie nunmehr vor sich auf den Tisch breitete und
immerfort betrachtete.

Der Vater aber sang sich eines seiner kernigen Büßerlieder, wie er sie einst
oft, von flüchtiger Reue erfaßt, inmitten seiner wilden Zeit, im Felde erdacht.
Es war ein „Klagelied wider Fleisch und Blut, daß Gott helfen und raten möge".

(Fortsetzung folgt)




Erzählung und erzählende Dichtung
von Privatdozent Dr. Richard MeszlSny

s ist auffallend, wie wenig zahlreich die eigentlichen Gegenwarts¬
menschen unter uns sind. Die meisten, wenn sie in sich den
heißersehnten Zustand seelischer Gesundheit, Ganzheit, Ungebrochen¬
heit herstellen wollen, also das, was wir mit dem schmerzvollen
Wort „Glück" benennen, greifen entweder in die Vergangen¬
heit oder in die Zukunft. Erinnerungen oder Wünsche sind der Quell, aus
dem wir unser Glücksbedürfnis zumeist befriedigen, denn das Glück in die
Gegenwart hineinzuzwingen, die Miriaden kleiner Störungen wegzuschaffen und
das, was hienieden doch nicht gedeiht, wenigstens für den Augenblick mit
urmächtigen Wollen auf die Erde zu reißen — das ist den Tragikern, gleich¬
viel ob den erlebenden oder den gestaltenden, vorbehalten. Die sind, Gott
sei Dank, nicht zu dicht gesät und doch noch viel dichter, als uns bekömmlich.
Auf das Dichterische übertragen hieße das drei dichterische Herstellungsarten
unterscheiden: die erinnernde, die sehnende und die wollende. Kein Mensch
kann alle drei Vorstellungsarten als Grundzüge seines geistigen Mechanismus
sein eigen nennen, und der moderne Dichter, der zumeist Epik, Lyrik und
Drama pflegt, ist entschieden ein Bänkerl seines Virtuosentums. Den Glücks¬
zustand, den er im Schaffen sucht, kann er unmöglich, mit Schiller gesprochen,
im dreifachen Schritt der Zeit gleichmäßig durchtanzen. „Es war", spricht
der Epiker, wenn sein Auge in der Ferne den Punkt gefunden auf dem


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[0298] Erzählung und erzählende Dichtung Marienbildnis herein, das sie nunmehr vor sich auf den Tisch breitete und immerfort betrachtete. Der Vater aber sang sich eines seiner kernigen Büßerlieder, wie er sie einst oft, von flüchtiger Reue erfaßt, inmitten seiner wilden Zeit, im Felde erdacht. Es war ein „Klagelied wider Fleisch und Blut, daß Gott helfen und raten möge". (Fortsetzung folgt) Erzählung und erzählende Dichtung von Privatdozent Dr. Richard MeszlSny s ist auffallend, wie wenig zahlreich die eigentlichen Gegenwarts¬ menschen unter uns sind. Die meisten, wenn sie in sich den heißersehnten Zustand seelischer Gesundheit, Ganzheit, Ungebrochen¬ heit herstellen wollen, also das, was wir mit dem schmerzvollen Wort „Glück" benennen, greifen entweder in die Vergangen¬ heit oder in die Zukunft. Erinnerungen oder Wünsche sind der Quell, aus dem wir unser Glücksbedürfnis zumeist befriedigen, denn das Glück in die Gegenwart hineinzuzwingen, die Miriaden kleiner Störungen wegzuschaffen und das, was hienieden doch nicht gedeiht, wenigstens für den Augenblick mit urmächtigen Wollen auf die Erde zu reißen — das ist den Tragikern, gleich¬ viel ob den erlebenden oder den gestaltenden, vorbehalten. Die sind, Gott sei Dank, nicht zu dicht gesät und doch noch viel dichter, als uns bekömmlich. Auf das Dichterische übertragen hieße das drei dichterische Herstellungsarten unterscheiden: die erinnernde, die sehnende und die wollende. Kein Mensch kann alle drei Vorstellungsarten als Grundzüge seines geistigen Mechanismus sein eigen nennen, und der moderne Dichter, der zumeist Epik, Lyrik und Drama pflegt, ist entschieden ein Bänkerl seines Virtuosentums. Den Glücks¬ zustand, den er im Schaffen sucht, kann er unmöglich, mit Schiller gesprochen, im dreifachen Schritt der Zeit gleichmäßig durchtanzen. „Es war", spricht der Epiker, wenn sein Auge in der Ferne den Punkt gefunden auf dem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/298>, abgerufen am 01.07.2024.