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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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wirtschaftliche Rüstung

Selbständigkeit und Überlegenheit der Nordstaaten entschieden hat und daß
diese Momente für die Entscheidung jedes Krieges von höchster Bedeutung sind?
Und doch gibt es zahlreiche Gegner der sogenannten wirtschaftlichen Selbst¬
versorgung.

Von diesen Gegnern wollen wir nun einen herausgreifen, der nicht auf
extrem-freihändlerischen Boden steht, sondern Anhänger unserer zeitigen Wirt¬
schaftspolitik ist, und dessen Gegnerschaft deshalb frei bleibt von dem Verdacht
der Tendenz. In dem lesenswerten Buche "Fleischeinfuhr?" sagt Herr Dr. Müller,
die Theorie von der wirtschaftlichen Selbstversorgung, "wie sie sich in dem
Bestreben nach gänzlicher wirtschaftlicher Emanzipation vom Auslande aus¬
drückt, . . . würde in ihrer konsequenten Durchführung nichts anderes bedeuten
als den gänzlichen Verzicht Deutschlands auf seine wirtschaftliche Weltmacht¬
stellung". Die führenden Organe unserer Landwirtschaft seien kurzsichtig und
geradezu verblendet (Tag vom 19. März 1912), wenn sie darauf abzielten, die
93 Millionen Mark hinwegzudrücken, die an Schlachtvieh und Fleisch jährlich
zu uns aus dem Auslande hineinkämen; man übersähe dabei die Milliarde
Mark unserer Tributpflicht an das Ausland für Futtermittel (1911). "Ist es
wirklich wahr, daß ein Krieg für uns die Unterbindung der Auslandszufuhr
zur Folge haben muß, dann kommt es tatsächlich gar nicht darauf an, ob uns
die 41/2 Prozent unseres zeitigen Fleischbedarfes, die wir jetzt noch aus dem
Auslande beziehen, entgehen, sondern die Frage wird akut, was denn aus
unserer heimischen Produktion werden soll, wenn ihr Betriebs-(Futter°)mittel in
der vorher nachgewiesenen enormen Höhe vorenthalten werden."

Diese Ausführungen enthalten nach einem zutreffenden Vordersatz ein recht
anfechtbares Schlußergebnis. Durchaus richtig ist, daß wir nicht wieder "boden¬
ständig" werden können. Sombart nennt es eine abenteuerliche Vorstellung,
zu glauben, ein Volk wie das deutsche sei noch der Erhaltung aus eigener
(Boden-) Kraft fähig. Und in der Tat: allein an Rohbaumwolle, die wir ja
selbst gar nicht haben, brauchen wir jährlich fast für ^2 Milliarde Mark
(1910); das Eisenerz unserer eigenen Bergmerke genügt auch uicht annähernd
für unsere Eisenproduktion, wir holen uns gewaltige Mengen aus Schweden
und Südrußland; für unseren Bedarf an Bau- und Nutzholz würde der deutsche
Hochwald auch dann nicht ausreichen, wenn er das doppelte der jetzigen Fläche
ausmachte; und schon für das Jahr 1900 hat man berechnet, daß unser Pferde¬
bestand vervierfacht, unser Rindviehbestand verdreifacht, unser Schafbestand ver-
neunfacht werden müßte, um den inländischen Bedarf an Häuten und Wolle
M decken. Die deutsche Volkswirtschaft ruht eben heute schon auf einer etwa
dreimal so großen Bodenfläche, als sie das Deutsche Reich mit seinen Grenzen
umspannt; nur befindet sich diese Fläche nicht in mathematischer Zusammen¬
gehörigkeit, sondern sie liegt zersprengt über alle Erdteile. Trotzdem und trotz
eines, absolut genommen, enorm gestiegenen Außenhandels sind wir heute ini
ganzen nicht abhängiger vom Auslande als früher. Sombart meint sogar, daß


Grenzboten II 1912 SS
wirtschaftliche Rüstung

Selbständigkeit und Überlegenheit der Nordstaaten entschieden hat und daß
diese Momente für die Entscheidung jedes Krieges von höchster Bedeutung sind?
Und doch gibt es zahlreiche Gegner der sogenannten wirtschaftlichen Selbst¬
versorgung.

Von diesen Gegnern wollen wir nun einen herausgreifen, der nicht auf
extrem-freihändlerischen Boden steht, sondern Anhänger unserer zeitigen Wirt¬
schaftspolitik ist, und dessen Gegnerschaft deshalb frei bleibt von dem Verdacht
der Tendenz. In dem lesenswerten Buche „Fleischeinfuhr?" sagt Herr Dr. Müller,
die Theorie von der wirtschaftlichen Selbstversorgung, „wie sie sich in dem
Bestreben nach gänzlicher wirtschaftlicher Emanzipation vom Auslande aus¬
drückt, . . . würde in ihrer konsequenten Durchführung nichts anderes bedeuten
als den gänzlichen Verzicht Deutschlands auf seine wirtschaftliche Weltmacht¬
stellung". Die führenden Organe unserer Landwirtschaft seien kurzsichtig und
geradezu verblendet (Tag vom 19. März 1912), wenn sie darauf abzielten, die
93 Millionen Mark hinwegzudrücken, die an Schlachtvieh und Fleisch jährlich
zu uns aus dem Auslande hineinkämen; man übersähe dabei die Milliarde
Mark unserer Tributpflicht an das Ausland für Futtermittel (1911). „Ist es
wirklich wahr, daß ein Krieg für uns die Unterbindung der Auslandszufuhr
zur Folge haben muß, dann kommt es tatsächlich gar nicht darauf an, ob uns
die 41/2 Prozent unseres zeitigen Fleischbedarfes, die wir jetzt noch aus dem
Auslande beziehen, entgehen, sondern die Frage wird akut, was denn aus
unserer heimischen Produktion werden soll, wenn ihr Betriebs-(Futter°)mittel in
der vorher nachgewiesenen enormen Höhe vorenthalten werden."

Diese Ausführungen enthalten nach einem zutreffenden Vordersatz ein recht
anfechtbares Schlußergebnis. Durchaus richtig ist, daß wir nicht wieder „boden¬
ständig" werden können. Sombart nennt es eine abenteuerliche Vorstellung,
zu glauben, ein Volk wie das deutsche sei noch der Erhaltung aus eigener
(Boden-) Kraft fähig. Und in der Tat: allein an Rohbaumwolle, die wir ja
selbst gar nicht haben, brauchen wir jährlich fast für ^2 Milliarde Mark
(1910); das Eisenerz unserer eigenen Bergmerke genügt auch uicht annähernd
für unsere Eisenproduktion, wir holen uns gewaltige Mengen aus Schweden
und Südrußland; für unseren Bedarf an Bau- und Nutzholz würde der deutsche
Hochwald auch dann nicht ausreichen, wenn er das doppelte der jetzigen Fläche
ausmachte; und schon für das Jahr 1900 hat man berechnet, daß unser Pferde¬
bestand vervierfacht, unser Rindviehbestand verdreifacht, unser Schafbestand ver-
neunfacht werden müßte, um den inländischen Bedarf an Häuten und Wolle
M decken. Die deutsche Volkswirtschaft ruht eben heute schon auf einer etwa
dreimal so großen Bodenfläche, als sie das Deutsche Reich mit seinen Grenzen
umspannt; nur befindet sich diese Fläche nicht in mathematischer Zusammen¬
gehörigkeit, sondern sie liegt zersprengt über alle Erdteile. Trotzdem und trotz
eines, absolut genommen, enorm gestiegenen Außenhandels sind wir heute ini
ganzen nicht abhängiger vom Auslande als früher. Sombart meint sogar, daß


Grenzboten II 1912 SS
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[0285] wirtschaftliche Rüstung Selbständigkeit und Überlegenheit der Nordstaaten entschieden hat und daß diese Momente für die Entscheidung jedes Krieges von höchster Bedeutung sind? Und doch gibt es zahlreiche Gegner der sogenannten wirtschaftlichen Selbst¬ versorgung. Von diesen Gegnern wollen wir nun einen herausgreifen, der nicht auf extrem-freihändlerischen Boden steht, sondern Anhänger unserer zeitigen Wirt¬ schaftspolitik ist, und dessen Gegnerschaft deshalb frei bleibt von dem Verdacht der Tendenz. In dem lesenswerten Buche „Fleischeinfuhr?" sagt Herr Dr. Müller, die Theorie von der wirtschaftlichen Selbstversorgung, „wie sie sich in dem Bestreben nach gänzlicher wirtschaftlicher Emanzipation vom Auslande aus¬ drückt, . . . würde in ihrer konsequenten Durchführung nichts anderes bedeuten als den gänzlichen Verzicht Deutschlands auf seine wirtschaftliche Weltmacht¬ stellung". Die führenden Organe unserer Landwirtschaft seien kurzsichtig und geradezu verblendet (Tag vom 19. März 1912), wenn sie darauf abzielten, die 93 Millionen Mark hinwegzudrücken, die an Schlachtvieh und Fleisch jährlich zu uns aus dem Auslande hineinkämen; man übersähe dabei die Milliarde Mark unserer Tributpflicht an das Ausland für Futtermittel (1911). „Ist es wirklich wahr, daß ein Krieg für uns die Unterbindung der Auslandszufuhr zur Folge haben muß, dann kommt es tatsächlich gar nicht darauf an, ob uns die 41/2 Prozent unseres zeitigen Fleischbedarfes, die wir jetzt noch aus dem Auslande beziehen, entgehen, sondern die Frage wird akut, was denn aus unserer heimischen Produktion werden soll, wenn ihr Betriebs-(Futter°)mittel in der vorher nachgewiesenen enormen Höhe vorenthalten werden." Diese Ausführungen enthalten nach einem zutreffenden Vordersatz ein recht anfechtbares Schlußergebnis. Durchaus richtig ist, daß wir nicht wieder „boden¬ ständig" werden können. Sombart nennt es eine abenteuerliche Vorstellung, zu glauben, ein Volk wie das deutsche sei noch der Erhaltung aus eigener (Boden-) Kraft fähig. Und in der Tat: allein an Rohbaumwolle, die wir ja selbst gar nicht haben, brauchen wir jährlich fast für ^2 Milliarde Mark (1910); das Eisenerz unserer eigenen Bergmerke genügt auch uicht annähernd für unsere Eisenproduktion, wir holen uns gewaltige Mengen aus Schweden und Südrußland; für unseren Bedarf an Bau- und Nutzholz würde der deutsche Hochwald auch dann nicht ausreichen, wenn er das doppelte der jetzigen Fläche ausmachte; und schon für das Jahr 1900 hat man berechnet, daß unser Pferde¬ bestand vervierfacht, unser Rindviehbestand verdreifacht, unser Schafbestand ver- neunfacht werden müßte, um den inländischen Bedarf an Häuten und Wolle M decken. Die deutsche Volkswirtschaft ruht eben heute schon auf einer etwa dreimal so großen Bodenfläche, als sie das Deutsche Reich mit seinen Grenzen umspannt; nur befindet sich diese Fläche nicht in mathematischer Zusammen¬ gehörigkeit, sondern sie liegt zersprengt über alle Erdteile. Trotzdem und trotz eines, absolut genommen, enorm gestiegenen Außenhandels sind wir heute ini ganzen nicht abhängiger vom Auslande als früher. Sombart meint sogar, daß Grenzboten II 1912 SS

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/285>, abgerufen am 23.07.2024.