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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Persönlichkeit und Sache in der Wissenschaft

liegt der Versuch vor, nicht eine objektiv - vollständige, aber unübersehbare rohe
Materialsammlung zu schaffen, sondern eine kritisch ausscheidende, mithin subjektive
Durcharbeitung der Zeitungen nach dem darin enthaltenen Wertvollen. Allmonatlich
soll der Hauptinhalt der Artikel in ganz knappen sachlichen Auszügen ohne
Werturteil in einer Druckschrift veröffentlicht und gleichzeitig eine Einrichtung
zur Beschaffung der Originalartikel getroffen werden. Die Art, wie in einer
beigegebenen Probe der Inhalt der Zeitungsartikel skizziert ist, leuchtet als
praktisch zur Orientierung sehr ein; vielleicht könnte man bei der Aufnahme noch
etwas kritischer zu Werke gehen.

In vieler Hinsicht kann dieses Unternehmen, wenn es zustande kommt, als
Ersatz für die Originalblätter dienen, es zieht den Querschnitt aus der öffent¬
lichen Meinung über alle Tagesfragen; es hat den Vorzug, relativ härtlich zu
sein, und den noch größeren, zeitbeständig zu sein (es müßte auf holzfreies
Papier gedruckt werden). Wenn die Registratur nach dem Laudenbacher System
vorwiegend den Politiker und Historiker angeht, so finden in diesem umfassenderen
Versuch auch die Artikel aus den Gebieten der Literatur, Kunst, Moral,
Philosophie, Technik, Medizin usw. Berücksichtigung. Allerdings bringen die
Tageszeitungen so selten original-wertvolle Beiträge aus diesen Gebieten, daß
der Verlust, der durch ihre Vernachlässigung entstände, nicht allzuhoch anzu¬
schlagen wäre.

Überhaupt sollte man auch zweifellosen Verlust von geistigen Arbeitswerten
gegenüber nicht allzu ängstlich sein. "Es schießen ja bald andere Stämme dir
auf." Und die Aufbewahrung aller Lebensäußerungen des Menschengeistes für
die Zukunft entstammt zudem einem Prinzip, das die Wertung ausschaltet,
Groß und Klein gleichsetzt. Die Nachwelt wird sich in den ungeordneten,
erdrückenden Stoff, den wir ihr übergeben, schwerlich versenken. Vielleicht wird
sie versuchen, statt der Kleinarbeit die großen Zusammenhänge des Geschehens
und Seins zu erkennen, vielleicht gar wird sie überhaupt eine "unwissenschaft¬
liche" -- das will nicht sagen kulturlose -- Nachwelt sein.---

Der Scheu vor der Wertung, vor dem Hineintragen eines subjektiven Ma߬
stabes in die Masse der Objekte entstammt der Grundsatz, das alles Wißbare
auch wissenswert sei. Die Wissenschaft hat hiernach das Ziel, alles für den
Menschengeist überhaupt Erfaßbare zu ermitteln und darzustellen. Dieser An¬
schauung dient ein neues Unternehmen, das als Programm kürzlich das Buch
herausgab: Die Organisation der geistigen Arbeit durch "die Brücke",
von K. W. Bührer und Ad. Saager (Ansbach. Seybold. 1911). Die "Brücke"
erstrebt eine Organisierung der gesamten geleisteten und noch zu leistenden
Geistesarbeit aller Zeiten und Länder. Sie will die Ergebnisse der geistigen
Tätigkeit der Vergangenheit Systematisieren und dadurch übersichtlich und allgemein
zugänglich machen, und sie will auch die geistige Arbeit der Gegenwart und
Zukunft so einrichten, daß ihre Ergebnisse wie ihre Arbeitsweisen in ein Schema
sich einfügen. Man erstrebt, durch Verbindung und Fühlungnahme zwischen


Persönlichkeit und Sache in der Wissenschaft

liegt der Versuch vor, nicht eine objektiv - vollständige, aber unübersehbare rohe
Materialsammlung zu schaffen, sondern eine kritisch ausscheidende, mithin subjektive
Durcharbeitung der Zeitungen nach dem darin enthaltenen Wertvollen. Allmonatlich
soll der Hauptinhalt der Artikel in ganz knappen sachlichen Auszügen ohne
Werturteil in einer Druckschrift veröffentlicht und gleichzeitig eine Einrichtung
zur Beschaffung der Originalartikel getroffen werden. Die Art, wie in einer
beigegebenen Probe der Inhalt der Zeitungsartikel skizziert ist, leuchtet als
praktisch zur Orientierung sehr ein; vielleicht könnte man bei der Aufnahme noch
etwas kritischer zu Werke gehen.

In vieler Hinsicht kann dieses Unternehmen, wenn es zustande kommt, als
Ersatz für die Originalblätter dienen, es zieht den Querschnitt aus der öffent¬
lichen Meinung über alle Tagesfragen; es hat den Vorzug, relativ härtlich zu
sein, und den noch größeren, zeitbeständig zu sein (es müßte auf holzfreies
Papier gedruckt werden). Wenn die Registratur nach dem Laudenbacher System
vorwiegend den Politiker und Historiker angeht, so finden in diesem umfassenderen
Versuch auch die Artikel aus den Gebieten der Literatur, Kunst, Moral,
Philosophie, Technik, Medizin usw. Berücksichtigung. Allerdings bringen die
Tageszeitungen so selten original-wertvolle Beiträge aus diesen Gebieten, daß
der Verlust, der durch ihre Vernachlässigung entstände, nicht allzuhoch anzu¬
schlagen wäre.

Überhaupt sollte man auch zweifellosen Verlust von geistigen Arbeitswerten
gegenüber nicht allzu ängstlich sein. „Es schießen ja bald andere Stämme dir
auf." Und die Aufbewahrung aller Lebensäußerungen des Menschengeistes für
die Zukunft entstammt zudem einem Prinzip, das die Wertung ausschaltet,
Groß und Klein gleichsetzt. Die Nachwelt wird sich in den ungeordneten,
erdrückenden Stoff, den wir ihr übergeben, schwerlich versenken. Vielleicht wird
sie versuchen, statt der Kleinarbeit die großen Zusammenhänge des Geschehens
und Seins zu erkennen, vielleicht gar wird sie überhaupt eine „unwissenschaft¬
liche" — das will nicht sagen kulturlose — Nachwelt sein.---

Der Scheu vor der Wertung, vor dem Hineintragen eines subjektiven Ma߬
stabes in die Masse der Objekte entstammt der Grundsatz, das alles Wißbare
auch wissenswert sei. Die Wissenschaft hat hiernach das Ziel, alles für den
Menschengeist überhaupt Erfaßbare zu ermitteln und darzustellen. Dieser An¬
schauung dient ein neues Unternehmen, das als Programm kürzlich das Buch
herausgab: Die Organisation der geistigen Arbeit durch „die Brücke",
von K. W. Bührer und Ad. Saager (Ansbach. Seybold. 1911). Die „Brücke"
erstrebt eine Organisierung der gesamten geleisteten und noch zu leistenden
Geistesarbeit aller Zeiten und Länder. Sie will die Ergebnisse der geistigen
Tätigkeit der Vergangenheit Systematisieren und dadurch übersichtlich und allgemein
zugänglich machen, und sie will auch die geistige Arbeit der Gegenwart und
Zukunft so einrichten, daß ihre Ergebnisse wie ihre Arbeitsweisen in ein Schema
sich einfügen. Man erstrebt, durch Verbindung und Fühlungnahme zwischen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/27>, abgerufen am 01.07.2024.