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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Anatole ^reine^

die Gesetze, die den Menschen gut machen sollten. Er wird eingesperrt, als er
unschuldig war; als er aber wirklich schuldig wird, wollen die Pforten des
Gefängnisses sich nicht vor ihm öffnen. Hier erscheint France plötzlich als
Sozialist; aber wie lange? Der Sozialismus will Gleichheit, aber im Gesetz steckt
die Ungleichheit. Es "verbietet den Reichen wie den Armen unter den Brücken
zu schlafen, auf den Straßen zu betteln und Brot zu stehlen". Mit anderen
Worten: die Wohlhabenden machen Gesetze für die Armen, die Männer
für die Frauen. Auch das würde der Sozialismus gern gelten lassen, nicht
aber den Protest eines France gegen die Menschenrechte von 1789, die "eine
scharfe und unbillige Trennung zwischen dem Menschen und dem Gorilla machen".
Wenig erfreulich würden auch die Genossen die ganz in Renans Sinne geäußerte
Behauptung finden, die Wissenschaft, nicht das Volk sei souverän, und eine
Dummheit werde durch die Wiederholung im Munde von achtunddreißig Millionen
Franzosen nicht gescheitert. Die Menschenwürde und der Arbeiterstolz der
Massen werden durch das Kokettieren unseres Denkens mit dem tierischen
Ursprung der Menschheit nicht eben geschmeichelt, und die Behauptung, die
Menschen seien böse Bestien, die man nur mit Macht oder List im Zaume
halten kann, erinnert mehr an Swift, Hobbes und Macchicwelli, als an den
ähnliche Gedanken vorsichtiger äußernden Dramatiker Renan. Zum Glück gibt
France uns selbst einmal den Schlüssel zu der Lösung des Rätsels, wie er mit
seinen aristokratischen Anschauungen sich dem Sozialismus zuwenden könne.
Opportunistisch benutzt er ihn einfach als Peitsche gegen seine zwei Hauptfeinde,
den Klerikalismus und den Nationalismus. Aber sind die Feinde genügend
gezüchtigt, dann wirft er ihnen die Peitsche nach. Schade, daß niemals in den
großen Volksversammlungen, in denen France als Redner sich sozialistisch
gebürdet, ein Gegner auftrat, der mit gelesenen Zitaten belegt, ein wie starker
grundsätzlicher Gegner der freiheitlichen Volksbewegung dieser skeptische Geistes¬
aristokrat im Grunde ist. Man hat sich darüber in Frankreich selbst manchmal
getäuscht; wurde doch seine 1896 erfolgte Wahl in die Akademie von der
klerikalen und nationalistischen Partei unterstützt, der er sicher noch ferner steht
als dem Sozialismus. Und der weit konservativere Ferdinand Fabre unterlag
damals.




Fassen wir nun kurz unser Urteil über die Persönlichkeit und das Schaffen
von Anatole France zusammen, so liegt es uns fern, ihm als Gelehrten und
Schriftsteller die höchste Bewunderung zu versagen. Er hat es mit der Ein¬
fühlung in fremdes Wesen zu einer erstaunlichen Virtuosität gebracht. Er ver¬
stand es, sich in eine Mönchsseele der ersten christlichen Jahrhunderte und in
das Empfindungsleben eines Renaissancemenschen in wunderbarer Vollkommenheit
einzuleben. Er verfügt über ein seltenes Wissen und eine äußerst verfeinerte
Bildung. Als Stilist ist er unbestritten groß. Als Schriftsteller weiß er oft


Anatole ^reine^

die Gesetze, die den Menschen gut machen sollten. Er wird eingesperrt, als er
unschuldig war; als er aber wirklich schuldig wird, wollen die Pforten des
Gefängnisses sich nicht vor ihm öffnen. Hier erscheint France plötzlich als
Sozialist; aber wie lange? Der Sozialismus will Gleichheit, aber im Gesetz steckt
die Ungleichheit. Es „verbietet den Reichen wie den Armen unter den Brücken
zu schlafen, auf den Straßen zu betteln und Brot zu stehlen". Mit anderen
Worten: die Wohlhabenden machen Gesetze für die Armen, die Männer
für die Frauen. Auch das würde der Sozialismus gern gelten lassen, nicht
aber den Protest eines France gegen die Menschenrechte von 1789, die „eine
scharfe und unbillige Trennung zwischen dem Menschen und dem Gorilla machen".
Wenig erfreulich würden auch die Genossen die ganz in Renans Sinne geäußerte
Behauptung finden, die Wissenschaft, nicht das Volk sei souverän, und eine
Dummheit werde durch die Wiederholung im Munde von achtunddreißig Millionen
Franzosen nicht gescheitert. Die Menschenwürde und der Arbeiterstolz der
Massen werden durch das Kokettieren unseres Denkens mit dem tierischen
Ursprung der Menschheit nicht eben geschmeichelt, und die Behauptung, die
Menschen seien böse Bestien, die man nur mit Macht oder List im Zaume
halten kann, erinnert mehr an Swift, Hobbes und Macchicwelli, als an den
ähnliche Gedanken vorsichtiger äußernden Dramatiker Renan. Zum Glück gibt
France uns selbst einmal den Schlüssel zu der Lösung des Rätsels, wie er mit
seinen aristokratischen Anschauungen sich dem Sozialismus zuwenden könne.
Opportunistisch benutzt er ihn einfach als Peitsche gegen seine zwei Hauptfeinde,
den Klerikalismus und den Nationalismus. Aber sind die Feinde genügend
gezüchtigt, dann wirft er ihnen die Peitsche nach. Schade, daß niemals in den
großen Volksversammlungen, in denen France als Redner sich sozialistisch
gebürdet, ein Gegner auftrat, der mit gelesenen Zitaten belegt, ein wie starker
grundsätzlicher Gegner der freiheitlichen Volksbewegung dieser skeptische Geistes¬
aristokrat im Grunde ist. Man hat sich darüber in Frankreich selbst manchmal
getäuscht; wurde doch seine 1896 erfolgte Wahl in die Akademie von der
klerikalen und nationalistischen Partei unterstützt, der er sicher noch ferner steht
als dem Sozialismus. Und der weit konservativere Ferdinand Fabre unterlag
damals.




Fassen wir nun kurz unser Urteil über die Persönlichkeit und das Schaffen
von Anatole France zusammen, so liegt es uns fern, ihm als Gelehrten und
Schriftsteller die höchste Bewunderung zu versagen. Er hat es mit der Ein¬
fühlung in fremdes Wesen zu einer erstaunlichen Virtuosität gebracht. Er ver¬
stand es, sich in eine Mönchsseele der ersten christlichen Jahrhunderte und in
das Empfindungsleben eines Renaissancemenschen in wunderbarer Vollkommenheit
einzuleben. Er verfügt über ein seltenes Wissen und eine äußerst verfeinerte
Bildung. Als Stilist ist er unbestritten groß. Als Schriftsteller weiß er oft


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[0252] Anatole ^reine^ die Gesetze, die den Menschen gut machen sollten. Er wird eingesperrt, als er unschuldig war; als er aber wirklich schuldig wird, wollen die Pforten des Gefängnisses sich nicht vor ihm öffnen. Hier erscheint France plötzlich als Sozialist; aber wie lange? Der Sozialismus will Gleichheit, aber im Gesetz steckt die Ungleichheit. Es „verbietet den Reichen wie den Armen unter den Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln und Brot zu stehlen". Mit anderen Worten: die Wohlhabenden machen Gesetze für die Armen, die Männer für die Frauen. Auch das würde der Sozialismus gern gelten lassen, nicht aber den Protest eines France gegen die Menschenrechte von 1789, die „eine scharfe und unbillige Trennung zwischen dem Menschen und dem Gorilla machen". Wenig erfreulich würden auch die Genossen die ganz in Renans Sinne geäußerte Behauptung finden, die Wissenschaft, nicht das Volk sei souverän, und eine Dummheit werde durch die Wiederholung im Munde von achtunddreißig Millionen Franzosen nicht gescheitert. Die Menschenwürde und der Arbeiterstolz der Massen werden durch das Kokettieren unseres Denkens mit dem tierischen Ursprung der Menschheit nicht eben geschmeichelt, und die Behauptung, die Menschen seien böse Bestien, die man nur mit Macht oder List im Zaume halten kann, erinnert mehr an Swift, Hobbes und Macchicwelli, als an den ähnliche Gedanken vorsichtiger äußernden Dramatiker Renan. Zum Glück gibt France uns selbst einmal den Schlüssel zu der Lösung des Rätsels, wie er mit seinen aristokratischen Anschauungen sich dem Sozialismus zuwenden könne. Opportunistisch benutzt er ihn einfach als Peitsche gegen seine zwei Hauptfeinde, den Klerikalismus und den Nationalismus. Aber sind die Feinde genügend gezüchtigt, dann wirft er ihnen die Peitsche nach. Schade, daß niemals in den großen Volksversammlungen, in denen France als Redner sich sozialistisch gebürdet, ein Gegner auftrat, der mit gelesenen Zitaten belegt, ein wie starker grundsätzlicher Gegner der freiheitlichen Volksbewegung dieser skeptische Geistes¬ aristokrat im Grunde ist. Man hat sich darüber in Frankreich selbst manchmal getäuscht; wurde doch seine 1896 erfolgte Wahl in die Akademie von der klerikalen und nationalistischen Partei unterstützt, der er sicher noch ferner steht als dem Sozialismus. Und der weit konservativere Ferdinand Fabre unterlag damals. Fassen wir nun kurz unser Urteil über die Persönlichkeit und das Schaffen von Anatole France zusammen, so liegt es uns fern, ihm als Gelehrten und Schriftsteller die höchste Bewunderung zu versagen. Er hat es mit der Ein¬ fühlung in fremdes Wesen zu einer erstaunlichen Virtuosität gebracht. Er ver¬ stand es, sich in eine Mönchsseele der ersten christlichen Jahrhunderte und in das Empfindungsleben eines Renaissancemenschen in wunderbarer Vollkommenheit einzuleben. Er verfügt über ein seltenes Wissen und eine äußerst verfeinerte Bildung. Als Stilist ist er unbestritten groß. Als Schriftsteller weiß er oft

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/252>, abgerufen am 01.07.2024.