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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Ancitolc France

beweist das? Doch nur, daß die Lebenden das Ewige ihrer Zeit nicht erkennen
und das Vergängliche überschätzen. Die Geschichte in ihrer Gerechtigkeit rückt
die Dinge zurecht und weist einem jeden den gebührenden Rang an. Dem
Bergsteiger erscheint stets der Nächstliegende Berg als der höchste. Erhebt er
sich, steigt er aus den: Gewühl der Menschen im Tale zur Einsamkeit der Höhen
empor, so sieht er, daß die ferneren Gipfel weit höher sind und die näheren
an Bedeutung abnehmen. So erhebt sich auch der Betrachter der Geschichte,
wenn er Distanz gewinnt und von den seinen Blick trübenden Vorurteilen einige
einbüßt. Ein Irrtum wäre es z. B. zu glauben, daß Jesus Christus in seiner
Zeit über einen Kreis hinaus irgendwelches Ansehen genossen hätte. In einer
überaus feinen Erzählung, procureur as ^na6s" (1902), weist dies France
(nach vielen anderen) nach. Pontius Pilatus unterhält sich, etwa im Jahre 40,
mit einem römischen Beamten, der ihn fragt: "Du entsinnst dich noch jenes
jungen Laienpredigers und Wundermanns aus Gcckiläa? Er hieß, glaube ich,
Jesus von Nazareth?" -- "Nein, ich besinne mich nicht darauf." -- "Du
mußtest ihn ans Kreuz schlagen lassen!" -- "Wirklich? Jesus von Nazareth
sagst du? Das ist mir aber ganz entfallen!"

Aus solchen an sich durchaus möglichen Begebenheiten entwickelt France
eine verzweifelte Geschichtsphilosophie, die mit seinem sonstigen Pessimismus und
Skeptizismus in völligem Einklang steht. Es fehlt ihm der Glaube an die
Geschichte mit dem an die Postulate der praktischen Vernunft. Sie ist gemacht,
willkürlich zusammengestellt. Sie enthält uns das Beste vor und berichtet das
Überflüssige. Wir wissen nichts Rechtes über die Vergangenheit, wie die
Zukunft trotz aller unserer gegenteiligen Bemühungen nichts Rechtes von uns
wissen wird!

In den kleinen Geschichten von France steckt oft mehr Philosophie als in
seinen großen Romanen. Mit Recht hebt Brandes die Bedeutung hervor, die
den Erzählungen Putois und Crainquebille für die Weltanschauung des Dichters
zukommt. Putois ist ein modernes und überaus lustiges Beispiel für die
Mythenbildung. Es weist nach -- aber man vergißt diesen Hauptzweck über
dem stofflichen Interesse an dem erheiternden Gegenstände --. daß Legenden
auch heute noch vor unseren Augen entstehen. Dieser Putois, der nicht existiert,
den aber jeder irgendwo einmal gesehen hat, und dessen zahllose Misseiaten
jeder kennt, ist der "Niemand" des Odysseus,, ist jenes Luftgespinst, um das
sich einzelne wie magnetisch angezogene Tatsachen so fest und zahlreich gruppieren,
daß er schließlich historisch wird. Den Schluß zu ziehen, überläßt France dem
Leser: was wir von den Helden der Geschichte wissen, ist nichts anderes.
Vielleicht existierten sie dennoch, wahrscheinlich nicht; David Friedrich Strauß,
Renan, Havel, Kalthoff, A. Drews dürften an dieser Legendentheorie im belle¬
tristischen Gewände ihre helle Freude haben.

Neben den historischen tritt aber der politische, der gegenwärtige Skeptizismus.
Crcnuauebille ist seine Illustration. Dieser Gemüsehändler wird schlecht durch


Ancitolc France

beweist das? Doch nur, daß die Lebenden das Ewige ihrer Zeit nicht erkennen
und das Vergängliche überschätzen. Die Geschichte in ihrer Gerechtigkeit rückt
die Dinge zurecht und weist einem jeden den gebührenden Rang an. Dem
Bergsteiger erscheint stets der Nächstliegende Berg als der höchste. Erhebt er
sich, steigt er aus den: Gewühl der Menschen im Tale zur Einsamkeit der Höhen
empor, so sieht er, daß die ferneren Gipfel weit höher sind und die näheren
an Bedeutung abnehmen. So erhebt sich auch der Betrachter der Geschichte,
wenn er Distanz gewinnt und von den seinen Blick trübenden Vorurteilen einige
einbüßt. Ein Irrtum wäre es z. B. zu glauben, daß Jesus Christus in seiner
Zeit über einen Kreis hinaus irgendwelches Ansehen genossen hätte. In einer
überaus feinen Erzählung, procureur as ^na6s" (1902), weist dies France
(nach vielen anderen) nach. Pontius Pilatus unterhält sich, etwa im Jahre 40,
mit einem römischen Beamten, der ihn fragt: „Du entsinnst dich noch jenes
jungen Laienpredigers und Wundermanns aus Gcckiläa? Er hieß, glaube ich,
Jesus von Nazareth?" — „Nein, ich besinne mich nicht darauf." — „Du
mußtest ihn ans Kreuz schlagen lassen!" — „Wirklich? Jesus von Nazareth
sagst du? Das ist mir aber ganz entfallen!"

Aus solchen an sich durchaus möglichen Begebenheiten entwickelt France
eine verzweifelte Geschichtsphilosophie, die mit seinem sonstigen Pessimismus und
Skeptizismus in völligem Einklang steht. Es fehlt ihm der Glaube an die
Geschichte mit dem an die Postulate der praktischen Vernunft. Sie ist gemacht,
willkürlich zusammengestellt. Sie enthält uns das Beste vor und berichtet das
Überflüssige. Wir wissen nichts Rechtes über die Vergangenheit, wie die
Zukunft trotz aller unserer gegenteiligen Bemühungen nichts Rechtes von uns
wissen wird!

In den kleinen Geschichten von France steckt oft mehr Philosophie als in
seinen großen Romanen. Mit Recht hebt Brandes die Bedeutung hervor, die
den Erzählungen Putois und Crainquebille für die Weltanschauung des Dichters
zukommt. Putois ist ein modernes und überaus lustiges Beispiel für die
Mythenbildung. Es weist nach — aber man vergißt diesen Hauptzweck über
dem stofflichen Interesse an dem erheiternden Gegenstände —. daß Legenden
auch heute noch vor unseren Augen entstehen. Dieser Putois, der nicht existiert,
den aber jeder irgendwo einmal gesehen hat, und dessen zahllose Misseiaten
jeder kennt, ist der „Niemand" des Odysseus,, ist jenes Luftgespinst, um das
sich einzelne wie magnetisch angezogene Tatsachen so fest und zahlreich gruppieren,
daß er schließlich historisch wird. Den Schluß zu ziehen, überläßt France dem
Leser: was wir von den Helden der Geschichte wissen, ist nichts anderes.
Vielleicht existierten sie dennoch, wahrscheinlich nicht; David Friedrich Strauß,
Renan, Havel, Kalthoff, A. Drews dürften an dieser Legendentheorie im belle¬
tristischen Gewände ihre helle Freude haben.

Neben den historischen tritt aber der politische, der gegenwärtige Skeptizismus.
Crcnuauebille ist seine Illustration. Dieser Gemüsehändler wird schlecht durch


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[0251] Ancitolc France beweist das? Doch nur, daß die Lebenden das Ewige ihrer Zeit nicht erkennen und das Vergängliche überschätzen. Die Geschichte in ihrer Gerechtigkeit rückt die Dinge zurecht und weist einem jeden den gebührenden Rang an. Dem Bergsteiger erscheint stets der Nächstliegende Berg als der höchste. Erhebt er sich, steigt er aus den: Gewühl der Menschen im Tale zur Einsamkeit der Höhen empor, so sieht er, daß die ferneren Gipfel weit höher sind und die näheren an Bedeutung abnehmen. So erhebt sich auch der Betrachter der Geschichte, wenn er Distanz gewinnt und von den seinen Blick trübenden Vorurteilen einige einbüßt. Ein Irrtum wäre es z. B. zu glauben, daß Jesus Christus in seiner Zeit über einen Kreis hinaus irgendwelches Ansehen genossen hätte. In einer überaus feinen Erzählung, procureur as ^na6s" (1902), weist dies France (nach vielen anderen) nach. Pontius Pilatus unterhält sich, etwa im Jahre 40, mit einem römischen Beamten, der ihn fragt: „Du entsinnst dich noch jenes jungen Laienpredigers und Wundermanns aus Gcckiläa? Er hieß, glaube ich, Jesus von Nazareth?" — „Nein, ich besinne mich nicht darauf." — „Du mußtest ihn ans Kreuz schlagen lassen!" — „Wirklich? Jesus von Nazareth sagst du? Das ist mir aber ganz entfallen!" Aus solchen an sich durchaus möglichen Begebenheiten entwickelt France eine verzweifelte Geschichtsphilosophie, die mit seinem sonstigen Pessimismus und Skeptizismus in völligem Einklang steht. Es fehlt ihm der Glaube an die Geschichte mit dem an die Postulate der praktischen Vernunft. Sie ist gemacht, willkürlich zusammengestellt. Sie enthält uns das Beste vor und berichtet das Überflüssige. Wir wissen nichts Rechtes über die Vergangenheit, wie die Zukunft trotz aller unserer gegenteiligen Bemühungen nichts Rechtes von uns wissen wird! In den kleinen Geschichten von France steckt oft mehr Philosophie als in seinen großen Romanen. Mit Recht hebt Brandes die Bedeutung hervor, die den Erzählungen Putois und Crainquebille für die Weltanschauung des Dichters zukommt. Putois ist ein modernes und überaus lustiges Beispiel für die Mythenbildung. Es weist nach — aber man vergißt diesen Hauptzweck über dem stofflichen Interesse an dem erheiternden Gegenstände —. daß Legenden auch heute noch vor unseren Augen entstehen. Dieser Putois, der nicht existiert, den aber jeder irgendwo einmal gesehen hat, und dessen zahllose Misseiaten jeder kennt, ist der „Niemand" des Odysseus,, ist jenes Luftgespinst, um das sich einzelne wie magnetisch angezogene Tatsachen so fest und zahlreich gruppieren, daß er schließlich historisch wird. Den Schluß zu ziehen, überläßt France dem Leser: was wir von den Helden der Geschichte wissen, ist nichts anderes. Vielleicht existierten sie dennoch, wahrscheinlich nicht; David Friedrich Strauß, Renan, Havel, Kalthoff, A. Drews dürften an dieser Legendentheorie im belle¬ tristischen Gewände ihre helle Freude haben. Neben den historischen tritt aber der politische, der gegenwärtige Skeptizismus. Crcnuauebille ist seine Illustration. Dieser Gemüsehändler wird schlecht durch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/251>, abgerufen am 01.10.2024.