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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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mit einer warmen Herzlichkeit zu schildern, die bei ihm und überhaupt in der
französischen Literatur erstaunt und völlig original ist.

Er bringt es gelegentlich zu einer verblüffenden Selbstentäußerung und
argumentiert mit größter Ruhe und ohne jeden Vorbehalt gegen seine offen¬
kundiger Überzeugungen, so tief und völlig geht er in einer Zeitanschauung ans.
Andere seiner Bücher sind dann wieder von stärkster Subjektivität erfüllt, und
im Grunde ist man über sein Wesen und Wollen nach der Lektüre seines ganzen
Werkes völlig im Klaren.

Seine Gedankenwelt hat sich nicht verändert, wohl aber seine Einschätzung
einzelner Personen, wie Zola, Bourget. Lemcutre usw., freilich mehr, weil diese
selbst sich entwickelten, während er stehen blieb. Immerhin ist ein Niedergang
im Wert seines Schaffens unverkennbar. Seit zehn Jahren ermangeln seine
Werke ausnahmslos der früheren künstlerischen Vollendung. Die Produktion ist
unreifer und allzu beschleunigt. Inhaltlich ist eine wachsende Freude am
Pornographischen festzustellen, und eine gewisse sittliche Grundlage, deren manche
seiner früheren Schöpfungen nicht entbehrte, ist nun völlig geschwunden. Äußere,
veränderte Lebensumstände, die aus seiner Schriftstellertätigkeit mehr und mehr
einen Broterwerb machen, sollen an dieser Wandlung mitschuldig sein.

Man kann nicht umhin, zu bedauern, daß ein so vielseitig gebildeter Schrift¬
steller, ein so glänzendes Talent, ein so hervorragender Stilist an seinem eigenen
Niedergang so emsig arbeitet. Seine älteren Werke haben Anspruch auf unver¬
gänglichen Ruhm. Seine neuesten Bücher werden mit dem Tage verwehen.
Die eigentliche Tragik dieser Schriftstellerlaufbahn liegt in der Tragik der Per¬
sönlichkeit. France ist ein Opfer seiner alles in ironische Skepsis zersetzenden
Weltanschauung geworden. Diesem ätzenden Gift gegenüber hat er selbst nicht
standhalten können. Ein wahres Talent erblüht nur auf dem Boden einer
ehrlichen und festen Überzeugung, mag es von dem Herkömmlichen sich auch noch
so weit entfernen. An diesen Überzeugungen, die selbstlos und voll Opfermut
für das Wohl des Ganzen arbeiten, fehlt es dem modernen Frankreich mehr
als jedem anderen Lande. Stark analytisch veranlagt, ist der Franzose von
alters her der Skepsis zugeneigt. Geistreicher, vielleicht auch talentvoller und
feiner ist er als andere; doch kann man von ihm nicht sagen, daß sich "das
Moralische immer von selbst versteht". Und insofern ist Anatole France mit
seinem Schriftstellernamen und seinem ganzen Lebenswerk typisch fiir eine starke
und gefährliche Geistesströmung unserer Zeit, noch typischer für die Anschauungs¬
weise und die gegenwärtige Krisis seiner Heimat.




Gu>"zboton II 1912NI
Aimwlc France

mit einer warmen Herzlichkeit zu schildern, die bei ihm und überhaupt in der
französischen Literatur erstaunt und völlig original ist.

Er bringt es gelegentlich zu einer verblüffenden Selbstentäußerung und
argumentiert mit größter Ruhe und ohne jeden Vorbehalt gegen seine offen¬
kundiger Überzeugungen, so tief und völlig geht er in einer Zeitanschauung ans.
Andere seiner Bücher sind dann wieder von stärkster Subjektivität erfüllt, und
im Grunde ist man über sein Wesen und Wollen nach der Lektüre seines ganzen
Werkes völlig im Klaren.

Seine Gedankenwelt hat sich nicht verändert, wohl aber seine Einschätzung
einzelner Personen, wie Zola, Bourget. Lemcutre usw., freilich mehr, weil diese
selbst sich entwickelten, während er stehen blieb. Immerhin ist ein Niedergang
im Wert seines Schaffens unverkennbar. Seit zehn Jahren ermangeln seine
Werke ausnahmslos der früheren künstlerischen Vollendung. Die Produktion ist
unreifer und allzu beschleunigt. Inhaltlich ist eine wachsende Freude am
Pornographischen festzustellen, und eine gewisse sittliche Grundlage, deren manche
seiner früheren Schöpfungen nicht entbehrte, ist nun völlig geschwunden. Äußere,
veränderte Lebensumstände, die aus seiner Schriftstellertätigkeit mehr und mehr
einen Broterwerb machen, sollen an dieser Wandlung mitschuldig sein.

Man kann nicht umhin, zu bedauern, daß ein so vielseitig gebildeter Schrift¬
steller, ein so glänzendes Talent, ein so hervorragender Stilist an seinem eigenen
Niedergang so emsig arbeitet. Seine älteren Werke haben Anspruch auf unver¬
gänglichen Ruhm. Seine neuesten Bücher werden mit dem Tage verwehen.
Die eigentliche Tragik dieser Schriftstellerlaufbahn liegt in der Tragik der Per¬
sönlichkeit. France ist ein Opfer seiner alles in ironische Skepsis zersetzenden
Weltanschauung geworden. Diesem ätzenden Gift gegenüber hat er selbst nicht
standhalten können. Ein wahres Talent erblüht nur auf dem Boden einer
ehrlichen und festen Überzeugung, mag es von dem Herkömmlichen sich auch noch
so weit entfernen. An diesen Überzeugungen, die selbstlos und voll Opfermut
für das Wohl des Ganzen arbeiten, fehlt es dem modernen Frankreich mehr
als jedem anderen Lande. Stark analytisch veranlagt, ist der Franzose von
alters her der Skepsis zugeneigt. Geistreicher, vielleicht auch talentvoller und
feiner ist er als andere; doch kann man von ihm nicht sagen, daß sich „das
Moralische immer von selbst versteht". Und insofern ist Anatole France mit
seinem Schriftstellernamen und seinem ganzen Lebenswerk typisch fiir eine starke
und gefährliche Geistesströmung unserer Zeit, noch typischer für die Anschauungs¬
weise und die gegenwärtige Krisis seiner Heimat.




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[0253] Aimwlc France mit einer warmen Herzlichkeit zu schildern, die bei ihm und überhaupt in der französischen Literatur erstaunt und völlig original ist. Er bringt es gelegentlich zu einer verblüffenden Selbstentäußerung und argumentiert mit größter Ruhe und ohne jeden Vorbehalt gegen seine offen¬ kundiger Überzeugungen, so tief und völlig geht er in einer Zeitanschauung ans. Andere seiner Bücher sind dann wieder von stärkster Subjektivität erfüllt, und im Grunde ist man über sein Wesen und Wollen nach der Lektüre seines ganzen Werkes völlig im Klaren. Seine Gedankenwelt hat sich nicht verändert, wohl aber seine Einschätzung einzelner Personen, wie Zola, Bourget. Lemcutre usw., freilich mehr, weil diese selbst sich entwickelten, während er stehen blieb. Immerhin ist ein Niedergang im Wert seines Schaffens unverkennbar. Seit zehn Jahren ermangeln seine Werke ausnahmslos der früheren künstlerischen Vollendung. Die Produktion ist unreifer und allzu beschleunigt. Inhaltlich ist eine wachsende Freude am Pornographischen festzustellen, und eine gewisse sittliche Grundlage, deren manche seiner früheren Schöpfungen nicht entbehrte, ist nun völlig geschwunden. Äußere, veränderte Lebensumstände, die aus seiner Schriftstellertätigkeit mehr und mehr einen Broterwerb machen, sollen an dieser Wandlung mitschuldig sein. Man kann nicht umhin, zu bedauern, daß ein so vielseitig gebildeter Schrift¬ steller, ein so glänzendes Talent, ein so hervorragender Stilist an seinem eigenen Niedergang so emsig arbeitet. Seine älteren Werke haben Anspruch auf unver¬ gänglichen Ruhm. Seine neuesten Bücher werden mit dem Tage verwehen. Die eigentliche Tragik dieser Schriftstellerlaufbahn liegt in der Tragik der Per¬ sönlichkeit. France ist ein Opfer seiner alles in ironische Skepsis zersetzenden Weltanschauung geworden. Diesem ätzenden Gift gegenüber hat er selbst nicht standhalten können. Ein wahres Talent erblüht nur auf dem Boden einer ehrlichen und festen Überzeugung, mag es von dem Herkömmlichen sich auch noch so weit entfernen. An diesen Überzeugungen, die selbstlos und voll Opfermut für das Wohl des Ganzen arbeiten, fehlt es dem modernen Frankreich mehr als jedem anderen Lande. Stark analytisch veranlagt, ist der Franzose von alters her der Skepsis zugeneigt. Geistreicher, vielleicht auch talentvoller und feiner ist er als andere; doch kann man von ihm nicht sagen, daß sich „das Moralische immer von selbst versteht". Und insofern ist Anatole France mit seinem Schriftstellernamen und seinem ganzen Lebenswerk typisch fiir eine starke und gefährliche Geistesströmung unserer Zeit, noch typischer für die Anschauungs¬ weise und die gegenwärtige Krisis seiner Heimat. Gu>»zboton II 1912NI

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/253>, abgerufen am 29.06.2024.